Gletscher im Wandel: 125 Jahre Gletschermessdienst des Alpenvereins
Von Andrea Fischer, Gernot Patzelt, Martin Achrainer und
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Über dieses E-Book
Die Autor/innen stellen frühe Forschungsleistungen des Alpenvereins, wie den Nachweis der Existenz der Eiszeiten oder die Entdeckung des Fließgesetzes für Gletschereis vor. Spannende Blicke ins Archiv zeigen exemplarisch die Mechanismen und Auswirkungen des Gletscherrückganges. Besonders detailliert ist Österreichs größter Gletscher, die Pasterze im Glocknergebiet, beschrieben.
So entsteht für interessierte Laien ein Bild der Beziehung zwischen Gletscher und Klima mit vielen geomorphologischen Details. Studierende und Absolvent/innen der Geowissenschaften finden wissenschaftshistorisch relevante Details und regionale Fakten zum Klimawandel und dessen Erforschung.
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Buchvorschau
Gletscher im Wandel - Andrea Fischer
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018
Andrea Fischer, Gernot Patzelt, Martin Achrainer, Günther Groß, Gerhard Karl Lieb, Andreas Kellerer-Pirklbauer und Gebhard BendlerGletscher im Wandelhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-55540-8_1
1. Einleitung
Andrea Fischer¹
(1)
Inst. f. Interdisz. Gebirgsforschung, Öst. Akad. d. Wissenschaften, Innsbruck, Österreich
Andrea Fischer
Email: andrea.fischer@oeaw.ac.at
Gletscher, gelassen, gleißend und erhaben, fast majestätisch in größten Höhen thronend, faszinieren Menschen seit langer Zeit. Das oft fälschlicherweise als „ewiges Eis" bezeichnete prägende Element der Hochgebirgslandschaft ist in Wirklichkeit einer der veränderlichsten Bestandteile der festen Erde. Nach den Gesetzen der Physik sind die Gletscher täglichen, jährlichen und langfristigen Änderungen unterworfen, die durch die Änderungen der Sonneneinstrahlung, aber auch durch die Änderungen der Zusammensetzung der Atmosphäre verursacht werden. Die aus der Ferne betrachtet scheinbare Unvergänglichkeit und Unveränderbarkeit der Gletscher hängt auch mit der ihnen innewohnenden Bedächtigkeit zusammen, zumindest im Vergleich zur Kürze und Sprunghaftigkeit eines Menschenlebens. Jäger, Hirten, Landwirte, Reisende und Alpinisten kamen als Erste in die Nähe des Unnahbaren, und lernten die lebensfeindlichen Eisriesen aus der Nähe kennen. Heute wissen wir mehr denn je über die Gletscher, die eine der letzten weißen Flecken auf den Karten der Alpen dargestellt hatten – und vieles davon verdanken wir den frühen Forschern, die sich vor mehr als hundert Jahren den Gletschern zugewendet hatten.
Das vorliegende Buch wurde zum Anlass des 125-jährigen Bestehens des Gletschermessdienstes des Alpenvereins zusammengestellt. Es enthält die historischen Hintergründe, die Ergebnisse und die Auswirkungen der wissenschaftlichen Forschungen auf die heutige Gletscher- und Klimaforschung. In der Einleitung werden einige Grundlagen der Gletscherkunde kurz zusammengefasst, die in Kap. 7 mit Dokumenten aus dem Archiv des Alpenvereins illustriert werden. Gernot Patzelt, Geograph und langjähriger Leiter des Gletschermessdienstes, fasst in seinem Beitrag die Ergebnisse der Längenmessungen an österreichischen Gletschern zusammen (Kap. 2). Martin Achrainer, Historiker beim Österreichischen Alpenverein, schildert in Kap. 3 die Entwicklung des Alpenvereins und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Licht der damaligen Zeit. Es ist ja aus heutiger Sicht erstaunlich, dass die Beobachtung der Gletscher damals wie heute als ehrenamtliche Vereinstätigkeit durchgeführt wird. Die Erhebung vergleichbarer Messdaten, z. B. des Klimas und des Wasserhaushalts, wird heute ja überwiegend von staatlichen Organisationen durchgeführt. Diese wurden aber großteils später als der Alpenverein gegründet. Die heutigen staatlichen Dienste wie etwa die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik und die hydrographischen Dienste der Länder übernahmen zum Teil Messreihen, die vom Alpenverein begründet wurden – allerdings nicht den Gletschermessdienst. Dieser widmete sich zu Beginn seiner Tätigkeit schon der heute noch durchgeführten regelmäßigen Beobachtung der Gletscherlängenänderung. Besonders in den ersten Jahrzehnten war aber auch die Entwicklung von Methoden und Theorien ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Tätigkeit des Vereins. Maßgebliche theoretische Beiträge stellen das Konzept der Eiszeiten, die Theorie des Fließens der Gletscher und die Grad-Tag-Methode der Berechnung der Gletscherschmelze dar. Günther Groß, Geograph und langjähriger Mitarbeiter beim Gletschermessdienst, fasst in Kap. 5 die Geschichte des Gletschermessdienstes aus der Sicht der Gletscherforschung zusammen. Er beschreibt die Vorarbeiten und den Beginn des Gletschermessdienstes, dessen Tätigkeiten, die Forschungsgebiete und die handelnden Personen vom Beginn bis heute. Gerhard Karl Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer langjährige Mitarbeiter des Gletschermessdienstes und Geographen an der Universität Graz, schildern in Kap. 4 exemplarisch die Forschungen in ihrem Untersuchungsgebiet, dem Pasterzen Kees im Glocknergebiet. Die Pasterze ist der größte und auch einer der am besten erforschten Gletscher Österreichs. Andrea Fischer, Glaziologin und Leiterin des Gletschermessdienstes, zeigt in ihrem Beitrag auf, was die durch den Alpenverein geförderten Projekte in der historischen Entwicklung der Gletscher- und Klimaforschung bewirkt haben, und wie groß der Beitrag der heute erhobenen Daten ist (Kap. 6). Zur Abrundung der vorliegenden Zusammenfassung der Arbeiten des Gletschermessdienstes laden der Historiker Gebhard Bendler und Andrea Fischer zu einer Reise ins Archiv des Alpenvereins ein (Kap. 7). Beispiele für die begleitende Dokumentation der Längenmessungen, also Beschreibungen, Skizzen und Fotos, zeichnen ein Bild des Wandels der Gletscher. Die Bildvergleiche sind aus Sicht der Gletscherforschung kommentiert.
Gletschernamen
Die Benennung und Abgrenzung der Ostalpengletscher ist nicht immer eindeutig, und hat sich auch im Lauf der Zeit verändert. Innerhalb der deutschsprachigen Ostalpen gibt es unterschiedliche Bezeichnungen für Gletscher an sich (Von Ost nach West: Kees, Ferner und Gletscher), vor dem der Name des Gletschers in Zusammen- oder Getrenntschreibung gesetzt ist. In den Grenzgebieten der unterschiedlichen Bezeichnungen des Gletschers kann der Name im Lauf der Zeit oder in verschiedenen Quellen auch wechseln und die Schreibweise ändern (z. B. Jamtalferner oder Jamthal er Gletscher). Es gibt Gletscher mit mehreren Bezeichnungen, die sich entweder im Lauf der Zeit ändern (Karls-Eisfeld/Hallstätter Gletscher) oder auch gleichzeitig verwendet werden (Tuxer Ferner/Gefrorene Wand Kees). Als Sonderform können auch noch Teile eines Gletschers (unterschiedliche Zungen) eigene Bezeichnungen haben, wie etwa die östliche Zunge (Zettalunitzkees) des Äußeren Mullwitzkeeses. Das benachbarte Innere Mullwitzkees wird auch Rainerkees genannt, so haben wir hier für zwei Gletscher insgesamt vier Namen. Nicht alle dieser Namen sind in den heutigen Kartenwerken verzeichnet: der Eisjochferner in den Stubaier Alpen, der ein Zufluss des Daunferners zum Schaufelferner ist und die westliche Zunge des Schaufelferners bildet, findet sich heute nur mehr als lokale Ortsbezeichnung unter Einheimischen und in der älteren Literatur. Eine eindeutige Zuordnung eines Gletschernamens zu einer Fläche findet sich nur im Österreichischen Gletscherinventar, dessen Bezeichnungen (in Getrennt-Schreibung) auch in den Berichten über die Längenmessungen nach 1970 verwendet wurden. Um das Suchen nach einzelnen Gletschern in diesem Buch zu erleichtern und konsistent zu den laufenden Veröffentlichungen der Längenänderungsdaten zu sein, wird auch in diesem Buch die Getrennt-Schreibung der Gletschernamen verwendet.
1.1 Wie das Klima die Gletscher beeinflusst
Gletscher sind bewegte Massen von Schnee, Firn und aus Schnee entstandenem Gletschereis. Es gibt sie an Stellen, an denen der im Winter gefallene Schnee im Sommer nicht schmilzt, sondern durch Schmelz- und Gefrierzyklen und der dabei erfolgten Verdichtung zu Firn und nach einigen Jahrzehnten zu Eis wird. Das Eis ist verformbar und fließt unter dem Einfluss der Schwerkraft talwärts. Wie weit der Gletscher ins Tal reicht, hängt vom Gelände und vom Klima ab. Ändert sich das Klima, ändert sich auch der Gletscher: Er besteht aus einem Nährgebiet, in dem er Masse gewinnt, und einem Zehrgebiet, in dem er Masse verliert (Abb. 1.1). Entspricht die Größe des Gletschers dem derzeitigen Klima, haben Nährgebiet und Zehrgebiet etwa das Verhältnis 2:1. Ändert sich das Klima, so ändert sich auch das Verhältnis zwischen Nähr- und Zehrgebiet, und in Folge die Gesamtfläche und Länge des Gletschers.
../images/420373_1_De_1_Chapter/420373_1_De_1_Fig1_HTML.gifAbb. 1.1
Schematische Darstellung eines Gletschers am Beispiel des Schlaten Keeses im Venedigergebiet (siehe auch Abbildungen 7.15 bis 7.18)
Bei hohen Temperaturen im Sommer und geringen Winterschneemengen schmilzt mehr Eis, als Schnee den Sommer überdauert. Die Gletscher gehen unter diesen Verhältnissen zurück. Niedrige Temperaturen während des Sommers, Sommerschneefälle und hohe Schneemengen während des Winters führen zu Vorstößen. Wie schnell die Gletscherzunge reagiert, hängt unter anderem von der Größe, Form und Oberflächenneigung des Gletschers ab. Große und flache Gletscher reagieren tendenziell weniger rasch als kleine und steile Gletscher.
Der Einfluss der Witterung während eines Jahres auf den Gletscher wird durch die Massenbilanz beschrieben. Die Massenbilanz (Abb. 1.2) eines Gebirgsgletschers der Alpen ist die Summe des Gewinnes durch Schnee (Akkumulation), der binnen weniger Jahre zu Firn und binnen weniger Jahrzehnte zu Eis wird, und des Verlustes durch Schmelze (Ablation). Wenn im hydrologischen Jahr, also zwischen 1. Oktober und 30. September mehr Eis schmilzt als Winterschnee den Sommer überdauert, spricht man von einer negativen Massenbilanz. Ist die Massenbilanz eines Gletschers über mehrere Jahre negativ, verliert der Gletscher auch an Fläche. Der Gletscher befindet sich im Rückzug, die Länge des Gletschers nimmt ab und ebenso das Eisvolumen. Im Unterschied dazu ändert ein stationärer Gletscher seine Länge nicht (in der Definition des Gletschermessdienstes ändert sich die Länge um weniger als einen Meter). Dazu muss auch die Massenbilanz nahezu null sein. Um vorzustoßen, muss die Masse des Gletschers zunehmen (positive Massenbilanz). An der Zunge schmilzt dann weniger Eis, als von oben nachfließt – die Länge des Gletschers nimmt zu. Dieser Vorgang kann durch eine Erhöhung der Fließgeschwindigkeiten und damit des Eisnachschubes zur Zunge verstärkt werden.
../images/420373_1_De_1_Chapter/420373_1_De_1_Fig2_HTML.gifAbb. 1.2
Schematische Darstellung der Verteilung der Massenbilanz als Summe des Massengewinnes und -verlustes über die Gletscherfläche (a) des Schlaten Keeses. Zum Vergleich sind die Änderungen der Fläche (b) sowie die Messwerte und aufsummierten (kumulativen) Werte der Längenänderung (c) dargestellt. Die von Gletscher zu Gletscher verschiedenen Flächenanteile der Höhenstufen (d) haben – neben anderen Faktoren wie der Schuttbedeckung – Einfluss auf die Empfindlichkeit eines Gletschers im Hinblick auf Klimaänderungen
Beim Vorstoß des Eises werden Schutt und Felsen mittransportiert und wallförmig am Gletscherrand aufgeschoben. Es bilden sich sogenannte Moränenwälle, die nach dem Abschmelzen des Eises an der Position der größten Ausdehnung des Eisrandes liegen bleiben. Neben diesen Moränen sind auch Felsen, die mit dem Eis transportiert wurden (Findlinge), und Schleifspuren der Gletscher am Untergrund (Gletscherschliff) Zeiger früherer Gletscherausdehnungen (Abb. 1.3).
../images/420373_1_De_1_Chapter/420373_1_De_1_Fig3_HTML.gifAbb. 1.3
(a) Vom Gletscher beschliffener Felsen und Ufermoräne am Gepatsch Ferner in den Ötztaler Alpen (Foto: Martin Stocker-Waldhuber), (b) ein Findling im Stubaital mit dem Sulzenau Ferner im Hintergrund
Die Aufzeichnungen über Gletscher im Alpenraum begannen früh: Die während der Kleinen Eiszeit (zwischen etwa 1250 und 1850) vorstoßenden Gletscher bedrohten exponiertes bewirtschaftetes Land und stauten gefährliche Seen auf, deren Ausbruch große Schäden verursachte. Es gibt daher schon früh Aufzeichnungen zum Verhalten der Gletscher, die eine akute Bedrohung darstellten. Systematische und regelmäßige Beobachtungen des Verhaltens der Gletscher wurden in Österreich von Eduard Richter unter der Schirmherrschaft des Alpenvereins im Jahr 1891 eingeführt. Dabei wird an vielen, gut über Österreich verteilten Gletschern der Abstand des Gletscherrandes von mehreren markierten Fixpunkten pro Gletscher jährlich gemessen. Die mittlere Änderung dieses Abstandes zwischen Gletscherrand und Fixpunkten ergibt die Längenänderung eines Gletschers, die heute jährlich bestimmt wird. Die gesamte Messreihe zeigt einen markanten Rückgang der Gletscher, unterbrochen von nur wenigen und im Verhältnis zum Rückgang kleinen Vorstößen (Kap. 2). Die Sommertemperaturen stiegen in dieser Zeit deutlich an. Dadurch wird im Mittel die Schmelzsaison länger, mehr Eis und Schnee tauen ab und der Gletscher verliert an Masse. Die Reaktion der Gletscher auf veränderte Klimabedingungen ist aber wesentlich komplexer als der bloße Anstieg der Schmelzbeträge an den Gletscherzungen durch die Temperaturerhöhung im Sommerhalbjahr. Auch die Menge der Niederschläge, die Temperaturen während der Niederschlagsereignisse und damit Häufigkeit und Ausmaß der Schneefälle, die Sonnenstrahlung sowie die Form und Oberflächenbeschaffenheit des Gletschers selbst spielen eine Rolle. Sogenannte Rückkopplungseffekte verstärken die Verluste: Die Schmelze führt zu einer Verdunkelung der Gletscheroberfläche. Im Unterschied zum hellen Neuschnee, der einen hohen Anteil der Sonnenstrahlung in die Atmosphäre zurück reflektiert, nimmt die dunkle Gletscheroberfläche einen hohen Anteil der Sonnenstrahlung auf. Diese Energie führt zu Eisschmelze. Massenverluste führen zu einem Absinken der Fließgeschwindigkeiten des Eises. Der fehlende Eisnachschub zu den Gletscherzungen führt dazu, dass schmelzendes Eis nicht mehr, wie es bei einem Gletscher im Gleichgewicht mit dem Klima der Fall wäre, durch von oben nachfließendes Eis ersetzt wird: Der Rückgang der Zunge beschleunigt sich. Über die Dicke des Eises und die Form des Gletscherbettes spielt auch die Geschichte des Gletschers eine Rolle bei seiner heutigen Reaktion auf den Klimawandel. Um die durch Moränenwälle bekannten Gletscherstände der Vergangenheit möglichst genau mit den damaligen Klimazuständen zu verbinden, forscht man auch heute noch an den Details dieser komplexen Prozesse.
Die grundlegenden Kenntnisse zur Beziehung zwischen Gletscher und Klima verdanken wir unter anderem der frühen Gletscherforschungen des Alpenvereins – ebenso wie viele Messmethoden (Kap. 6). Die Zusammenstellung der Ergebnisse im vorliegenden Buch zeigt, dass die damals und heute zur Forschungsförderung eingesetzten Mittel Großes bewirkt haben. In diesem Sinn soll die Zusammenstellung Mut machen: Zu den Anfangszeiten der Messungen war noch nicht absehbar, welch großen gesellschaftlichen Stellenwert die Klimadebatte im 21. Jahrhundert haben würde. Dennoch investierte der Alpenverein in die damals interessante, aber scheinbar nutzlose Grundlagenforschung und auch in Langzeitprojekte. Heute profitieren wir alle von diesem Wissen, das uns hilft, eine wärmere Klimazukunft und die Folgen für den Alpenraum besser zu verstehen. Wir wünschen dem Alpenverein viele weitere erfolgreiche Jahre der Gletscherforschung!
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018
Andrea Fischer, Gernot Patzelt, Martin Achrainer, Günther Groß, Gerhard Karl Lieb, Andreas Kellerer-Pirklbauer und Gebhard BendlerGletscher im Wandelhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-55540-8_2