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Der weiße Gesang: Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution
Der weiße Gesang: Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution
Der weiße Gesang: Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution
eBook237 Seiten3 Stunden

Der weiße Gesang: Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution

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Über dieses E-Book

Wir alle kennen die Bilder von den Demonstrationen, die nach den letzten Wahlen im August 2020 in Belarus stattfanden. In vorderster Reihe bei den friedlichen Protestaktionen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: viele, meist junge Frauen – darunter Journalistinnen, Studentinnen, Juristinnen, Sozialarbeiterinnen und Lehrerinnen. Mutig sahen sie den sie umzingelnden Polizisten in die Gesichter, ließen sich nicht einschüchtern – auch nicht nachdem zahlreiche von ihnen verhaftet, verhört, misshandelt und des Landes verwiesen wurden. In Der weiße Gesang erzählen einige von ihnen ihre Geschichte, treten heraus aus der Anonymität der Masse. Sie lassen uns teilhaben an den Ereignissen und ihren persönlichen Erfahrungen der letzten Monate, an ihrem Aufbegehren, ihren Zielen, ihrem Leben im Exil.

Der sogenannte weiße Gesang ist eine archaische, volkstümliche Gesangstechnik der osteuropäischen Frauen, die es auf eine besondere Art ermöglicht, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ihre Lieder spiegeln dramatische Ereignisse aus dem Leben der Frauen wider. Die Stimme, die beim weißen Gesang erzeugt wird, kommt direkt aus dem Solarplexus und nutzt die Resonanzräume des Körpers. Sie ist rein und wild – so wie die Geschichten der unerschrockenen, couragierten belarussischen Frauen, die in diesem Buch zu Wort kommen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Verlag
Erscheinungsdatum27. Mai 2022
ISBN9783958904804
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    Buchvorschau

    Der weiße Gesang - Dorota Danielewicz

    HEIMISCH KANN MAN SICH AN JEDEM ORT FÜHLEN

    Ein Co-Working-Space in einem modernen, schicken Hochhaus im Zentrum von Warschau, ausgestattet mit langen Arbeitstischen, Sofas, einer Tee- und Kaffeebar und einem wunderbaren Blick auf die nächtliche Stadt. Ähnliche Einrichtungen gibt es in vielen Großstädten der Welt, Mitglieder dürfen sie überall nutzen. Hier treffe ich Wolha Kawalkowa. Sie sieht nicht aus, wie ich mir eine Politikerin der belarussischen Christdemokraten vorgestellt habe. In ihrem schwarzen Kapuzenoverall erweckt sie eher den Eindruck einer mondänen Warschauerin auf dem Weg in das Nachtleben der Stadt.

    Wir ziehen uns in ein kleines Zimmer zurück, in dem wir ungestört reden können. Viel Zeit bleibt uns nicht: Es ist schon spät, und Wolha will ganz früh am nächsten Morgen nach Vilnius zu Swetlana Tichanowskaja reisen. Ich muss die knapp bemessene Zeit mit der viel beschäftigten Politikerin gut nutzen.

    Aleksander Lukaschenko ist seit 26 Jahren an der Macht, Wolha ist 36 Jahre alt, den Großteil ihres Lebens hat sie also unter seiner Herrschaft verbracht. Ich frage sie, welche Erinnerungen sie an die sowjetische Zeit in Belarus hat.

    »Ich war zwar noch ein Kind, aber ich erinnere mich an einiges. Außerdem ist es doch immer noch das gleiche System, die ehemalige UdSSR und das heutige Belarus, Lukaschenko hat das kommunistische System verlängert. Und auch Russland hat sich nicht grundlegend gewandelt, auch wenn in Europa viele annehmen, dass das heutige Russland etwas anders ist als die ehemalige UdSSR. Das stimmt einfach nicht. Im Wesentlichen geht es in Russlands Politik um die Aneignung von Territorien. Der Westen Europas müsste spätestens jetzt, wo Putin mit seinen Truppen in die Ukraine einmaschiert ist, Russland anders wahrnehmen. Putin ist eine Gefahr für die ganze Welt, Russland ist ein imperiales Land, das darf man nicht verdrängen. Es geht immer um territoriale Eroberungen und Einflussnahme.«

    Interesse an Politik hat Wolha schon früh in der Schule gezeigt.

    »Ich komme aus einer Familie, die Lukaschenko und sein System nicht unterstützt hat. Mein Vater hat nie ein Hehl aus seiner Ablehnung Lukaschenkos gemacht, schon als kleines Kind habe ich Familienstreitigkeiten zu diesem Thema erlebt. Bestimmt haben mich diese Gespräche beeinflusst, auch wenn ich noch sehr klein war, Kinder nehmen unbewusst sehr vieles auf. Meine Mutter war zwar auch keine Lukaschenko-Anhängerin, sie hat sich jedoch nicht so oft wie mein Vater kritisch geäußert. In den Gesprächen zu Hause ging es meist um Gerechtigkeit, und vielleicht bin ich deshalb eine Idealistin geworden. Ich kann mich erinnern, dass wir in der Schule gefragt wurden, wie wir uns unsere Zukunft vorstellen, und ich habe geantwortet, dass ich Präsidentin werden möchte. Damals war ich zwölf Jahre alt. Interessant, dass ein belarussisches Kind solche Ideen hat.

    Meine Schulfreunde haben nicht vergessen, wie engagiert ich war. Heute sagen sie, dass sie damals vieles nicht wahrgenommen haben, dass sie ihre Augen geschlossen hielten, aber gleichzeitig haben sie mich als eine Person gesehen, die politisch immer wach war. ›Du hast uns immer gesagt, dass wir aufmerksam sein sollen, und wir haben es nicht verstanden, erst 2020 haben wir begriffen, was du gemeint hast‹, sagen sie nun zu mir.

    Es ist bitter, die Wirklichkeit zu analysieren und zu wissen, wie es eigentlich in der Welt zugehen sollte, gleichzeitig scheint es so, dass viele Menschen keine Veränderungen wollen. Aber ich wollte so nicht leben.«

    Wolha bezieht sich damit auf die Lebensbedingungen im Land, dass das belarussische Volk keinen Einfluss auf die sogenannten Volksvertreter im Parlament hat, dass die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt ist und unzählige politische Gefangene in Haftanstalten und Lagern sitzen.

    »Als nach der gefälschten Wahl die Massenproteste in Belarus begannen, war klar – da es keine Oppositionskandidaten gab –, dass wir, die Personen, die Swetlana Tichanowskaja unterstützt haben, und der Stab von Viktor Barbariko etwas unternehmen mussten. So ist der Koordinierungsrat entstanden. Es war eine neue Form des Zusammenwirkens, bislang hatte es keine vergleichbare Organisation gegeben, die Menschen mit unterschiedlichen Meinungen auf einer demokratischen Plattform zusammenbrachte. Wir erfuhren, wie die Belarussen auf unsere Initiative reagiert haben, nämlich euphorisch, ausgenommen natürlich der Staatsapparat, der uns schon einen Tag nach der Gründung mit einer Klage bedrohte. Drei Wochen lang haben wir uns getroffen und ausgetauscht. Am 23. August 2020 habe ich allerdings zum letzten Mal an einer Protestaktion mit den Führungspersonen des Koordinierungsrates teilgenommen.«

    Der Koordinierungsrat wurde von der Gewinnerin der Wahl, Swetlana Tichanowskaja, initiiert, die ihre persönliche Vertreterin Wolha Kawalkowa und den Anwalt Maxim Snak mit der Wahl der Mitglieder des Rates beauftragt hat.

    Direkt nach Gründung des Rates, der die friedliche Machtübergabe vorbereiten sollte, begannen die staatlichen Behörden gegen alle Mitglieder zu ermitteln. Die Forderungen des Rates lauteten: »Einstellung der politischen Verfolgung von Bürgern durch die Behörden, Eröffnung von Strafverfahren gegen die Verantwortlichen und Bestrafung der für schuldig Befundenen. Freilassung aller politisch Gefangenen, Aufhebung der rechtswidrigen Gerichtsurteile, Kompensationszahlungen an alle, denen Unrecht widerfahren ist. Annullierung der Wahlen vom 9. August. Durchführung von Neuwahlen nach internationalen Standards und mit neu besetzten Wahlgremien einschließlich der zentralen Wahlkommission.«

    Es war eine beispiellose Initiative von zivilem Ungehorsam gegenüber der Diktatur mit mehr als 50 Mitgliedern und einem siebenköpfigen Präsidium, dazu zählten: Wolha Kawalkowa, Veronika Zepkalo, Maria Kalesnikava, Swetlana Alexijewitsch, Pawel Latuschka, Sharhej Delauskij, Lilia Ulassawa. Die Gruppe hat sehr darauf geachtet, dass die Proteste nicht aus der Bahn gerieten und Eskalationen verhindert wurden.

    »Es gab diesen Moment, als nach der gefälschten Wahl sehr viele Protestierende verhaftet wurden. Auf Telegram wurden Aufrufe verbreitet, dass man sich vor dem Gefängnis in Brest versammeln sollte, um die Gefangenen zu befreien. Auch in Minsk gab es ähnliche Aufrufe, nachdem eine Aktion in Brest tatsächlich gelungen war. Alle sollten sich abends um 21 Uhr vor dem Akrestina-Gefängnis versammeln, um ebenfalls eine Befreiung zu erwirken. Aber Minsk ist keine Provinz wie Brest, dort funktioniert das System anders.

    Wir waren im Büro des Koordinierungsrates, als uns Freiwillige anriefen, die vor dem Akrestina-Gefängnis Wache hielten. Sie verlangten Unterstützung, denn sehr viele Leute hatten sich vor den Toren des Gefängnisses versammelt, und man sah die Gefahr förmlich aufziehen. Ich habe dann mit Maria Kalesnikava besprochen, dass ich da hinfahre. Auf der Straße waren Tausende Menschen, es gab Provokationen, Rufe wie ›Es wird Blut fließen‹, ›Lasst uns Akrestina stürmen!‹ Ich erinnerte mich an ähnliche Provokationen 2010 – solche Ausschreitungen sind immer fatal, sie provozieren Restriktionen, fordern Opfer und bringen trotzdem keine Verbesserungen.

    Es war schon dunkel, 22 Uhr, die Menge zeigte deutlich ihre Wut vor einem wichtigen staatlichen Gebäude. Würde die Situation außer Kontrolle geraten, gäbe es schlimme Kämpfe. Das war mir klar. Keiner durfte jetzt mit Steinen werfen oder auf das Tor losstürmen. Ich habe ein Megafon in die Hand genommen und zu den Leuten gesagt: ›Es ist schon spät, lasst uns nach Hause gehen und morgen früh wiederkommen, dann demonstrieren wir gemeinsam für die Befreiung der Gefangenen, das ist weniger gefährlich.‹

    Die Stimmung war aufgeladen. Zorn, Trotz und Angst lagen in der Luft. Ich habe gespürt, dass die Leute darauf warteten, einer der Hauptakteure des Koordinierungsrates würde nun Verantwortung übernehmen und ein Signal geben, was zu tun sei.

    Die Menschen diskutierten und gingen langsam auseinander. Ich bewegte mich in die Richtung, wo immer noch Tausende zusammenstanden. Dort wurde ich beschimpft: ›Wer bist du überhaupt, um uns zu sagen, was wir tun sollen?‹

    Ich entgegnete, dass, wenn wir jetzt nicht aufpassten, die Situation außer Kontrolle geraten und die Folgen sich ernsthaft auf das Leben der hier Versammelten auswirken würden. Ich wiederholte meinen Vorschlag, am nächsten Tag wieder und weiter zu demonstrieren. Tatsächlich haben die Leute auf mich gehört und sind auseinandergegangen.

    Als ich dann zu meinem Auto lief und darüber nachdachte, welche Aufgabe ich gerade erledigt hatte, wurde ich fast ohnmächtig. Erst da ist mir bewusst geworden, was hätte geschehen können, und dass ich die Verantwortung auf mich genommen hatte, etwas Schreckliches abzuwenden. Niemand hatte mich beraten, ich war mit dieser Entscheidung allein gewesen, ich hatte wie in einem Augenblick großer persönlicher Gefahr gespürt, dass die Menschen, die sich vor dem Gefängnis versammelt hatten, von massiver Gewalt bedroht gewesen waren.

    Als ich einige Tage später selbst in einer Zelle im Akrestina-Gefängnis saß, kam der Direktor der Anstalt zu mir. Er gab zu, dass Polizisten auf die Menge geschossen hätten, wäre sie nicht von mir zerstreut worden. Ich wusste, dass ich das Richtige tat, unabhängig von der Bestätigung des Direktors, dass die staatlichen Ordnungsdienste zur Gewaltausübung bereit gewesen waren.

    Wäre es zu einer Eskalation zwischen Demonstrierenden und Ordnungskräften gekommen, hätten uns kasachische Verhältnisse erwartet, und wir hätten nicht russische OMON-Kräfte im Land, sondern das russische Militär. Der Traum von einer Demokratie wäre in der harten Realität der postsowjetischen Gewalt für immer ausgeträumt gewesen. Auch eine Unterstützung von unseren europäischen Partnern hätte anders ausgesehen – was hätten sie getan angesichts einer russischen Intervention in Belarus? Die politischen Folgen einer Zuspitzung zwischen Protestierenden und dem Staatsapparat lassen sich nicht pauschal vorhersagen, aber ich fürchte, dass sie unumkehrbar gewesen wären.

    Wir, die Hauptakteure, müssen die Entscheidungen treffen bezüglich der Form der Proteste, zu denen man Menschen auffordern darf. In unserer Christlich-Demokratischen Partei hatten wir 2021 eine heftige Diskussion darüber, ob man Bürgerinnen und Bürger dazu bewegen soll, wieder auf die Straßen zu gehen. Und wir haben beschlossen, sie nicht dazu zu ermutigen.

    Die Anführer und Anführerinnen müssen die Verantwortung für die Menschen übernehmen, wir müssen in der Lage sein, die Stimmung im Land zu beurteilen. Wenn das Volk unter starkem Druck steht und voller Angst ist, können wir nicht zu Straßenaktionen aufrufen. Unser Zögern ist ein Zeichen von Verantwortung und nicht von Angst vor dem Staatsapparat.

    Wir sind doch für die Menschen und deren Leben verantwortlich. Wenn ein Mensch bereit ist, das Risiko zu tragen und die Verantwortung auf sich zu nehmen, dann darf er protestieren. Wir, die Organisatoren der Proteste, müssen unsere Sicht der Dinge verbreiten, die Situation analysieren und über die sozialen Medien unsere Einschätzung mitteilen, sodass die Menschen sich eine eigene Meinung bilden und selbst Entscheidungen treffen können – für oder gegen die Proteste.

    Das Spannende am Jahr 2020 war, dass es keine Strategien gab, keine Anweisungen. Niemand hat die Menschen bei den Protesten angeführt, sie sind alle von sich aus zu den Demonstrationen gegangen. Die einzige Prämisse war die Selbstverantwortung der Menschen. Wenn jemand nicht Lukaschenko gewählt hat und mitbekam, wie viele andere noch für Tichanowskaja gestimmt haben, aber dann mit den gefälschten Wahlergebnissen konfrontiert wurde, konnte er selbst entscheiden, was zu tun war. Er wusste, was man ihm als Wahrheit verkaufen wollte und dass er angelogen wurde. Am nächsten Tag ist dieser Mensch auf die Straße gegangen, um für seine eigene politische Meinung einzustehen, um zu zeigen, dass ihm seine Stimme gestohlen wurde.

    Das Hauptthema im August 2020 war die Entmündigung der Wähler und Wählerinnen, sie wurden für dumm verkauft. Das Internet wurde abgeschaltet, die Menschen konnten sich nicht digital verabreden, deshalb ist jeder von sich aus auf die Straße gegangen. Es ging eindeutig um Selbstbestimmung. Die Massen sind auf die Straßen gegangen, und wir, die Anführer und Anführerinnen, sind ihnen gefolgt.«

    Wolha kennt persönlich an die einhundert Menschen, die aktuell inhaftiert sind. Anfang 2022 wurden in Belarus 960 politische Häftlinge von Menschenrechtsorganisationen registriert.

    »Am 21. August haben wir Siarhej Delauskij, ein Mitglied des Koordinierungsrats und Ingenieur bei Minski Traktorny Sawod, einer Traktorenfabrik, wo gerade gestreikt wurde, begleitet. Wir wollten die Streikenden unterstützen. Vor den Toren der Fabrik haben OMON-Polizisten bereits auf uns gewartet, anscheinend wussten sie, dass wir kommen würden. Ein Gefangenentransporter parkte in unserer Nähe, und die OMON-Männer meinten, dass sie uns jetzt mitnehmen würden. Ich habe protestiert und angedroht, gegen unsere Festnahme juristisch vorzugehen – ich habe es ihnen nicht einfach gemacht, ich kenne meine Rechte. Trotzdem wurden wir gezwungen, in den Gefangenentransporter zu steigen, dann wurden wir zu einem KGB-Bezirksbüro gebracht. Auf dem Weg habe ich versucht, meinen Anwalt zu erreichen. Während ich telefonierte, hat mir ein OMON-Polizist das Handy aus der Hand geschlagen, es flog zu Boden, und danach konnte ich niemanden mehr anrufen, auch meine Eltern konnte ich nicht über meinen Verbleib benachrichtigen.

    Alles, was ich bei mir hatte, wurde konfisziert, meine Fingerabdrücke wurden abgenommen. Ich durfte mir danach sogar die Hände waschen. Wir haben dort sehr lange sitzen müssen, wahrscheinlich, weil die Beamten in der Zeit die Unterlagen für die Anklage vorbereitet haben. Merkwürdig fand ich, dass die OMON-Polizisten auf mich aufgepasst haben, das ist eigentlich nicht ihre Aufgabe. Sie machen ihre Arbeit auf der Straße, dazu gehört, einen auf die Polizeiwache zum Verhör zu bringen und dann wieder zu gehen. Dass sie so lange bei mir geblieben sind, war seltsam und unverständlich.

    Ich habe mich selbstbewusst, jedoch nicht aggressiv verhalten. Im Gegenteil, ich war neugierig, mit wem ich es zu tun hatte. Also habe ich mit ihnen eine Unterhaltung angefangen. Nach einer Weile habe ich allerdings bemerkt, dass sie nicht mehr mitkamen, sie haben mit anderen getauscht. Anscheinend hatte ich sie unter den Tisch geredet. Einer normalen Unterhaltung mit einer politisch Andersdenkenden waren sie nicht gewachsen. Für sie folgt alles einem bestimmten Muster, und wenn du nicht in dieses Muster passt, wenn du es sprengst – sprengst du die Welt der Staatsdiener. Sie sollten mich als dumm, gefährlich, verantwortungslos wahrnehmen, doch ich bin ihnen anders entgegengetreten, ich habe sie nicht als Feinde, sondern als Bürger angesprochen. Man konnte regelrecht dabei zusehen, wie es bei ihnen im Kopf ratterte, dass die Situation sie herausforderte. Das war gut und wichtig, denn so wurde ihnen klar, dass wir keine Feinde sind, dass wir alle gleich sind.

    Statt eines Konflikts suchte ich den Dialog mit ihnen. Ich konnte sehen, wie sich etwas bei ihnen veränderte. Man hat mir sogar etwas zu essen gebracht, einen Apfel. Eine junge Frau, vielleicht eine Sekretärin, hat mir Wasser gereicht, sie kam immer wieder zu mir, und ich sah ihr an, dass sie die OMON-Männer nicht leiden konnte. Sie hatte ihre dienstlichen Aufgaben zu erfüllen, aber an ihrem Verhalten konnte ich erkennen, dass sie insgeheim auf der Seite der Protestierenden stand. Das war tröstlich, dass es auch innerhalb des Staatsapparats Menschen gibt, die nicht mit der Macht konform gehen. Wir wissen nicht, welchen Einfluss sie nehmen können, auch ist ihre Anzahl unbekannt, aber es gibt sie.

    Während ich auf der Wache saß, habe ich ein Gespräch mit angehört, das hinter der Wand geführt wurde. Der Beamte sagte zu jemandem am Telefon, dass man mich nach Paragraf 216 verurteilen wolle, also für die Organisation einer verbotenen Versammlung. Sein Gesprächspartner muss ihm aber entgegnet haben, dass das nicht ausreiche und mir ein weiteres Vergehen angehängt werden solle, zum Beispiel Widerstand gegen Polizeibeamte. Der Beamte antwortete nämlich: ›Nein, sie hat keinen Widerstand geleistet.‹ Sein Gegenüber schien aber Druck zu machen, dass man mir auch dieses Vergehen unbedingt in die Akte schreiben sollte.

    Dabei gibt es einen Beweis, ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie ich widerstandslos in den Gefangenentransporter steige. Aber irgendein Vorgesetzter wollte wohl mehr Anklagepunkte gegen mich.

    Gegen Abend hat man mich zu einem Polizeitransporter mit vergitterten Fenstern geführt. Wir sind zum Gefängnis Akrestina gefahren, und ich wusste, dass ich nach außen ein Zeichen geben musste, dass ich in diesem Wagen saß. Inzwischen wussten alle Journalisten, dass ich verhaftet worden war. Außerdem wurden an diesem Tag keine anderen Personen von der Polizeiwache in meinem Bezirk zum Akrestina-Gefängnis transportiert. Es konnten sich also alle denken, dass ich in diesem Wagen saß. Ich habe den Vorhang am Fenster ein Stück zur Seite geschoben und meine Hand gegen das Gitter gedrückt. Freunde von mir fuhren neben dem Polizeiwagen her, und auch meine Eltern waren in einem anderen Auto in der Nähe. Intuitiv müssen meine Familie und meine Freunde gespürt haben, dass ich in dem Transporter sitze, sie haben das mitbekommen.«

    Wolha versagt die Stimme, sie setzt ihre Brille ab, und Tränen fließen ihr über das Gesicht. Ich versuche mir diese Fahrt vorzustellen, ihre Hand am Fenstergitter, ein stummes Zeichen des Abschieds an ihre Freunde und ihre Familie.

    »Weißt du, das war der letzte Kontakt mit meinen Eltern, ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen … Es überwältigt mich gerade, dieses Gefühl von Verlust. Es ist so schwer, davon

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