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Venezuela-Chroniken einer gescheiterten Revolution
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eBook527 Seiten5 Stunden

Venezuela-Chroniken einer gescheiterten Revolution

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Über dieses E-Book

Wieso geht der 70jährige Alberto Peña jeden Tag mit Gasmaske auf die Strasse? Weshalb klettert Hans Wuerich nackt mit der Bibel in der Hand auf einen Panzerwagen?
Venezuela, das einst reiche südamerikanische Erdölland versinkt im Chaos. "Venezuela, Chroniken einer gescheiterten Revolution" ist eine Reportagensammlung, die erzählt, wie es dazu kam. Es ist die Geschichte von einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit namens Hugo Chávez, von seinem Aufstieg und Niedergang und vom Erbe, das der charismatische, sozialistische Oberstleutnant hinterliess.

Sandra Weiss nimmt in ihrem mit vielen Fotos illustrierten Buch die Leser an der Hand auf ihrer Reise zu den Goldgräbern von Bolívar, ins Schwarzwald-Dorf Colonia Tovar und in die Armenviertel, zu den Motorradgangs, die sich einst vom gefürchteten Terroristen "Schakal" inspirieren liessen. Sie ist Journalistin, lebt seit 1999 in Lateinamerika und erlebte die bolivarische Revolution hautnah mit. Vielen der Protagonisten ist sie persönlich begegnet - General Raúl Baduel besuchte sie im Gefängnis - viele Interviewpartner vertrauten ihr Einsichten aus dem Innenleben der Revolution an. In ihren Reportagen, Analysen und Interviews zeichnet sie ein messerscharfes aber immer auch mitfühlendes Bild von einem Land im permanenten Ausnahmezustand.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum13. Aug. 2017
ISBN9783962460402
Venezuela-Chroniken einer gescheiterten Revolution

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    Buchvorschau

    Venezuela-Chroniken einer gescheiterten Revolution - Sandra Weiss

    aufgenommen. 

    Vorwort

    1999 brauchte ich Tapetenwechsel von meiner Arbeit als Redakteurin und CvD für den deutschen Dienst der französischen Nachrichtenagentur afp. Ich entschied mich für einen Kontinent, der mir immer schon am Herzen lag: Lateinamerika. Dorthin, genauer gesagt nach Chile, hatte es mich schon während des Studiums gezogen; immer wieder bereiste ich auch danach die Länder von Kuba bis Argentinien. Der Wunsch wuchs, die Umbrüche und Widersprüche dieses Kontinents aus der Nähe zu begleiten. Der Moment war spannend, denn es war just der Beginn der rosaroten Welle, in der linke Parteien und Bewegungen erstmals die Macht eroberten. 

    Den Auftakt machte Venezuela. Das karibische Erdölland blieb wegen der umstrittenen Person von Hugo Chávez und seinen enormen Erdölreserven über die Jahre hinweg ein Thema und eine Referenz für linke Bewegungen weltweit. Dort entstand erstmals seit der kubanischen Revolution von 1959 wieder eine linke, politische Hoffnung unter günstigeren Umständen, da demokratisch legitimiert und ohne die polarisierenden Umstände des Kalten Krieges. Unzählige Reisen führten mich seit 1999 dorthin, von 2006 bis 2008 lebte ich mit meiner Familie in Caracas und wurde zu einer privilegierten Augenzeugin der bolivarischen Revolution und des Grabenkriegs, den sie auslöste und der das reiche Erdölland nach und nach zermürbte, gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich und moralisch. Venezuela war in den zwei Jahrzehnten Sozialismus ein Land im Umbruch, aber auch im permanenten Ausnahmezustand. Nirgendwo auf dem Kontinent wurde häufiger gewählt, aber auch nirgendwo wurde häufiger demonstriert. Dieses Buch ist eine Sammlung meiner Reportagen und eine Hommage an ein wundervolles Land und liebenswerte Menschen. 

    Die Stärke des Buches liegt darin, dass es keine aus heutiger Sicht geschriebene und entsprechend eingefärbte Rückschau der Ereignisse ist, sondern aktuell geschriebene Artikel chronologisch und thematisch zusammenfasst. Hatte Chávez von Anfang an ein hegemoniales, kommunistisches Projekt? Welche Fehler beging die Opposition? Welche Rolle spielte Kuba, welche die USA? Hat Maduro das Erbe verspielt, oder waren die Fehler des Modells schon lange vor ihm angelegt? All das sind Fragen, die beleuchtet werden. Interviews mit Politikern, Analysten und Zeitzeugen aller Lager ergänzen das Mosaik, das Journalisten, Historikern und Politologen eine interessante Fundgrube bietet. Aber auch Lateinamerika-interessierten Laien kann es auf leicht lesbare Weise zu einem besseren Verständnis der komplexen Lage in dem Erdölstaat verhelfen. Nicht zuletzt ist es ein Mahnmal in Zeiten, in denen auch in Europa Populismus, semiautoritäre Regime und zunehmende Polarisierung an der Tagesordnung sind. Venezuela kann in gewissem Maße zu einem besseren Verständnis dessen beitragen, was sich gerade vor unserer Haustüre abspielt, in Ungarn, in der Türkei oder in Polen.

    Hugo Chávez war derart dominant und omnipräsent, dass dieses Buch zwangsläufig eine Chronik vom Aufstieg und Niedergang seiner Revolution ist, doch ein paar Kapitel handeln von kleineren Nebenschauplätzen der großen Politik: Vom Jugendorchester, das einen heute international gefeierten Dirigenten wie Gustavo Dudamel hervorbrachte, vom legendären Terroristen der 70er Jahre Schakal, vom weltbesten Kakao aus Chuao und den Kaffeebauern in Barinas, den weltberühmten Schönheitsköniginnen oder der Schwarzwald-Romantik in Colonia Tovar. Trotz aller Dramatik und den apokalyptischen Bildern, die aus Venezuela um die Welt gehen, ist es auch ein Land mit einem enormen Reichtum und einem riesigen Potenzial an Menschen und Ressourcen.

    Gib mir zwei

    Aufstieg und Fall von Saudi-Venezuela

    von Susanne Asal

    1922 begann die Erdölförderung im Maracaibo-See. Die Petrodollars prägten fortan ein Land, das in den 60er Jahren zum modernsten Lateinamerikas aufstieg. Doch Stabilität und Fortschritt waren nicht von Dauer. Korruption und Ungleichheit unterhöhlten die Legitimität der sogenannten Vierten Republik.

    ©Youlia Valdan Pemon-Indigene im Nationalpark Canaima

    Bevor Hugo Chávez Frías Ende 1998 die Wahlen für sich entschied, hatte das Land ein wechselvolles Jahrzehnt durchlebt, und die Tendenz ließ eine Konsolidierung der bestehenden Verhältnisse erwarten. Viele Venezolaner beklagten Vetternwirtschaft, Intransparenz bei der Besetzung einflussreicher Posten, Entscheidungen, die im Restaurant bei Whisky beschlossen wurden und nicht am Verhandlungstisch. Das Bildungssystem lag im Argen für die, die sich Privatschulen nicht leisten konnten. In schwer zugänglichen Gebieten – und etwa zwei Drittel des Landes sind schwer zugänglich, die Bevölkerung konzentriert sich in einem küstennahen Industriegürtel zwischen Maracaibo im Westen und Carúpano im Osten- wurden nur spärlich Schulen gebaut, die Kinder mussten weit laufen, bei Verwandten unterkommen oder gingen eben gar nicht zur Schule. Dafür gab es für die, die die Universität abgeschlossen hatten, Stipendien in den USA. Aber wer war das schon? 

    Die Leute, die ein bisschen mehr Geld hatten als die anderen und solidarisch dachten, legten zusammen und kauften einen ausrangierten Schulbus, bezahlten einen Chauffeur, z.B. im Bundesstaat Bolívar, wo die Gran Sabana, die Große Savanne liegt, einer der größten landschaftlichen Spektakel des Landes mit überwiegend indianischer Bevölkerung. Im Orinoco- Delta stellten sie Motorboote für die Kinder der Warao zur Verfügung, damit die zur Schule fahren konnten, die sich in einem der zahllosen Wasserläufe des Orinoco verbarg. Man arrangierte sich irgendwie. 

    Und dann kam das Jahr 1989. Im Februar entwickelten sich Streiks in den Universitäten, es kam es zu Plünderungen von Supermärkten und Lebensmittelgeschäften, die plötzlich weltweit den Namen caracazos trugen, ein Name, der sich von der Hauptstadt Caracas ableitete. Aber auch in Valencia, Maracay und Mérida gingen die Leute auf die Straße. Hintergrund bildete die enorme Staatsverschuldung des erdölreichen Venezuela, die der Internationale Währungsfonds mit harten Auflagen zu ahnden versuchte. Die sozialdemokratische Regierung beschloss, Schlüsselindustrien zu privatisieren, Sozialprogramme und Subventionen zu kürzen, alle Auflagen des Weltwährungsfonds IWF zu erfüllen, obwohl der aus den Wahlen siegreich hervorgegangene Kandidat Carlos Andrés Pérez von der Acción Demócrata genau mit der gegenteiligen Wahlversprechen angetreten war. Aus diesem Grund war er schließlich gewählt worden. Die Venezolaner hatten ihm vertraut. Sie traf es hart, die Inflation stieg.  

    Dem Aufruhr in den Städten wurde mit enormer Härte begegnet, es gab sogar Tote unter der Zivilbevölkerung zu beklagen. Erst heute fällt langsam Licht ins Dunkel dieser Verbrechen: dabei sind Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge mindestens 2000 Menschen ums Leben gekommen. Die Empörung innerhalb der Bevölkerung schwoll noch einmal an, als 1994 der amtierende Präsident Pérez seines Amtes enthoben und der Korruption angeklagt wurde. Er sollte mehr als 17 Millionen Dollar auf die Seite geschafft haben. 

    Davon hatten die Venezolaner nun endgültig die Nase voll. Sie waren es auch Leid, dass es immer noch Seilschaften, palancas gab, auf die sich Carlos Andrés Pérez stützen konnte – oder wie auch immer die jeweils Regierenden hießen. Und es brodelte: In der aufrührerischsten Kaserne von Venezuela, in Maracay, reiften Putsch-Pläne. Einer wurde niedergeschlagen: der von Hugo Chávez Frías im Herbst 1992. 

    Als ein Symbol für die Abgehobenheit, mit der die Regierungen der christdemokratischen COPEI und der sozialdemokratischen AD regiert hatten, kann die Ignoranz gelten, mit der sie dem Wohnungsproblem in den ranchos begegneten. Die starke Landflucht bewirkte, dass die Dazugezogenen einfach unkontrolliert Hügel um Hügel abtrugen, damit sie dort Platz für ihr Häuschen schaffen konnten. Die Politiker trauten sich nicht in die Armenviertel, munkelten die einen, sie wollten Wählerstimmen in diesen Vierteln nicht verlieren, orakelten die anderen. Was aber schlussendlich zu den schlimmen Erdrutschen 1999 führte, als nach wochenlangen Regenfällen die unsachgemäß abgetragenen Erdmassen so aufgeweicht waren, dass sie einfach nachgaben und die Schlammlawinen zahlreiche Behausungen in den Grund rissen. Es war eine Katastrophe nationalen Ausmaßes. 

    Hugo Chávez Frías war da gerade gewählt worden. Er nutzte aus dem Stand heraus diese Verheerungen für sich als Bühne, um auf die Versäumnisse seiner Vorgängerregierungen hinzuweisen, und ließ medienwirksam Hilfsprogramme, Umsiedlungen von Geschädigten und Rettungsaktionen verkünden. Und so begann die Präsidentschaft des Hugo Chávez Frías – als Retter der Nation. Besser hätte es für ihn gar nicht laufen können.  

    ©Henrique Neun, Litografía de La Sociedad, Caracas, 1877 – 1878. Zeichnungen von Ramón Bolet

    Wie alles anfing 

    Venezuela und das Erdöl, das ist eine lange Geschichte. Bereits 1865 erhielt die US-amerikanische Gesellschaft American Camilo Ferand die erste Konzession für die Erdölförderung im Bundesstaat Zulia, in dem sich der Lago de Maracaibo befindet. Doch richtig los ging es, als 1922 aus dem Ölfeld Barroso im Maracaibo-See 100 000 Barrel in 24 Stunden in die Höhe sprudelten, und eine Schwindel erregende Bonanza begann. 1928 war Venezuela bereits zweitgrößter Produzent der Welt, hinter den Vereinigten Staaten, die damals 70 Prozent des Öls fördern. Aus dem tropisch- verschlafenen Hacienda-Venezuela, das bislang hauptsächlich Kakao, Kaffee, Zuckerrohr, Rinder und Rum exportierte – besondere Verkaufsschlager waren während der verrückten 1920er Jahre Reiherfedern für die Hüte der Charleston-Damen und Orinoco-Krokodilleder für die Handtaschen – musste nun ein Industriestaat gezimmert werden. 

    Man holte sich das Wissen aus dem Ausland und damit auch eine neue Gesellschaft ins Land. Denn die Technologie zur Ausbeutung und Verarbeitung des Erdöls musste importiert werden, und ebenso das qualifizierte Personal. Die Venezolaner waren diejenigen, die die benötigte Infrastruktur aufbauten, aber die Ingenieure kamen aus den USA und den Niederlanden – die Karibikinsel Curaçao liegt vor der Tür. Während die venezolanische Oberschicht der 1920er Jahre am Sonntagvormittag nach dem Kirchenbesuch die Plaza aufsuchte, um sich ein schönes Konzert anzuhören, angetan im besten Zwirn, Herren und Damen selbstverständlich mit Hüten, schlugen sich die jungen emanzipierten Einwanderertöchter die Tennisbälle um die Ohren oder stiegen – völlig frivol – bei Macuto in die Karibikfluten. Undenkbar für die braven venezolanischen señoritas, die ohne Anstandsdame, die chaperona, überhaupt nicht aus dem Haus durften. 

    Und so bildete sich auch bald ein Begriff heraus für diese – Klassenunterschiede: misiu, eine Verballhornung des französischen Monsieur. Gleichbedeutend mit: ein besserer Herr, und der kommt aus dem Ausland. Lieblingsgemüse war nicht länger die heimische yucca, sondern petit pois, Erbsen. Denn die ausländische Oberschicht wollte nicht das karibische Essen, sondern europäisch essen, und so wurden auch die Lebensmittel importiert, obwohl natürlich gleichzeitig in den Anden neue Anbauflächen für Obst und Gemüse gewonnen wurden und die Milchwirtschaft um den Lago de Maracaibo erblühte. Damit war zwar kein Konflikt vorprogrammiert – dazu waren die Venezolaner viel zu höflich – aber eine soziale Grenze markiert. 

    Die Grenze verlief aber nicht nur zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, sondern verfestigte sich auch durch Bildungsstandards und Arbeitsmanagement. Ein venezolanischer Hacienda- Besitzer molk nicht etwa selbst die Kühe oder pflückte Kaffeebohnen, dafür hatte er seine Arbeiter. Für die Verwaltung hatte er einen Verwalter. Um diese lässige Einstellung zum Arbeitsleben wurde er von seinen Untergebenen glühend beneidet. Und dass man sich nicht täuscht: Jeder Arbeiter hätte das genau so gemacht, wenn er Hacienda- Besitzer gewesen wäre. Doch Venezuela war jetzt kein Hacienda- Land mehr. 

    Die sozialen Schichtungen veränderten sich. Während in der Frühzeit der Erdölförderung (hauptsächlich durch US-amerikanische Firmen) nur etwa zwei Prozent der Venezolaner Arbeit in dem neuen Wirtschaftssektor fanden, bildete sich allmählich eine Mittelschicht heraus, die in den damit verbundenen Arbeitsfeldern beschäftigt war, ein Handelsbürgertum, das in der aktuellen Form im Hacienda- Venezuela nicht existiert hatte. Und natürlich war die Erdölindustrie ein fleißiger und erfolgreicher Arbeitgeber. Das Geld floss, die Löhne wuchsen. In dem Maß, wie man seine Vergangenheit als rückständig empfand, übernahm man die Werte der Eingewanderten. Eine leise Spaltung zwischen den Gesellschaftsschichten setzte da bereits ein und sollte sich vertiefen.

    ©Sandra Weiss Sonnenuntergang an der Playa Medina, Paria

    Das Erdöl säen 

    „Sembrar el Petroleo" forderte der kluge, weise Kopf Venezuelas 1936, der politische Philosoph Arturo Uslar Pietro. Das Erdöl säen. Doch was hat der Reichtum, der so plötzlich über das Land hereinbrach, bewirkt?  

    Unter der Diktatur des Präsidenten Juan Vicente Gómez in den 1930er Jahren wurden die Erdöleinkommen zwar zum Straßenbau, für Wasserleitungen und Elektrizität genutzt, um dem Land den Schritt in die Moderne zu ermöglichen, aber auch und vor allem zur Finanzierung eines zentralen Heeres.  

    Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Arturo Uslar Pietri diese Geldausgabe im Sinne gehabt hatte. Tatsache blieb, dass nicht im erforderlichen Maße in Bildung oder Ausbildung investiert wurde, nicht in die Infrastruktur, nicht in die technologische Entwicklung, und - was am schwersten wiegt - nicht in die Diversifizierung der Wirtschaft. Das Erdöl wurde gefördert, doch das Know How, das Schweröl zu raffinieren, ein komplizierter Vorgang, das lernten die Venezolaner nicht. Mit dieser Strategie, das schwarze Gold in den Fokus zu rücken, unterwarf sich die Ökonomie des Landes den Regeln des internationalen Erdölmarktes. Schossen die Preise in die Höhe, konnte die Regierung Geld ausgeben, fielen sie, musste gespart werden. 

    Nach der Weltwirtschaftskrise bildete sich ein schwaches Manufakturwesen heraus:- Kleidungsindustrie, Zigarillos, Seifen, Bier, Möbel Bauwesen Schuhe, Kautschuk - aber keiner dieser Zweige blühte zu einem wichtigen Industriezweig auf. 1942 dann beschloss die Regierung ein Gesetz zur Besteuerung aller Gewinne aus dem Erdölgeschäft mit 50 Prozent. 

    Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass seit den1930er Jahren das Erdöl die Hälfte des Staatseinkommens bestritt. Doch offenbar münzte keine der Regierungen diese Erlöse um in die Ausbildung des benötigten Fachpersonals, auch nicht die des herausragenden Dichters und Autoren des Landes, Rómulo Gallegos, Mitglied der Acción Demócrata, der 1947 zum Präsident gewählt wurde. 

    Die letzte Diktatur des Landes unter Marcos Pérez Jiménez endete 1958 in dem beispiellosen Pakt von Punto Fijo (einen Erdöl-Ort auf der Halbinsel Paraguaná), in dem sich alle demokratischen Kräfte, Gruppierungen und politischen Parteien inklusive Kirchen darauf einigten, eine Diktatur nie wieder zuzulassen. Diese Initiative war beispiellos in der Geschichte des gesamten Subkontinents. 

    Nach der Militärdiktatur entschieden sich die Venezolaner für den Gründer der AD, Rómulo Betancourt, der während seiner Regierungszeit die Agrarindustrie förderte und in Getreidemühlen, fischverarbeitende Industrie und Milchviehwirtschaft investierte. Der große Dichter des Landes, Andrés Eloy Blanco, schrieb in den 1950er Jahren „Angelitos Negros", das später von Eartha Kitt vertont und gesungen wurde, die Bitte einer farbigen Gläubigen an einen Kirchenmaler, schwarzhäutige Engel zu malen. Für Andrés Eloy Blanco war damals die gelungene Vermischung der farbigen, schwarzen, indianischen und weißen Bevölkerung Venezuelas scheinbar kein Thema; wir sind alle café con leche – milchkaffeefarben! 

    Das Land war jetzt saturiert, es glänzte mit seinem schwarzen Gold, konnte sich Optimismus leisten. Die Royal Dutch- Shell baute in Punto Fijo auf der Halbinsel Paraguaná eine Raffinerie, die Standard Oil in Amuay, ebenfalls in Paraguaná. Weitere Sport-Clubs entstanden in Caracas.  

    Bedeutende architektonische und künstlerische Strömungen durchpulsten das Land; Caracas galt in den 1960er Jahren als eine Hochburg der Moderne. Die Bolívar- Doppeltürme, die die historische Innenstadt wie ein Eingangsportal bewachten, waren die zu seiner Zeit höchsten Gebäude Lateinamerikas. Der Architekt Carlos Raúl Villanueva schuf mit der Ciudad Universitaria Ende der 1950er Jahre ein den Prinzipien der Moderne huldigendes, allem historisierenden Firlefanz entsagendes Konstrukt. Passagen, Unterführungen, breite Avenidas gliederten in der Folge die Innenstadt und machten sie zu einer der modernsten und architektonisch interessantesten Lateinamerikas. 

    Die Ölkrise von 1973 beendete den Boom zunächst, aber in der ersten Amtszeit des AD- Kandidaten Carlos Andrés Pérez (1974 bis 1979) strömten die Petrodollars wieder reichlich in die Staatskassen. Venezuela wurde eines der reichsten Länder Südamerikas. „Durch den Verkauf von Erdöl hat Venezuela von 1973 bis 1983 rund 240 Milliarden Dollar eingenommen" bilanziert Arturo Uslar Pietri. Die damit initiierte Verteilungspolitik führte zu einer für lateinamerikanische Verhältnisse außerordentlich hohen politischen Stabilität des Landes. Seinen Bürgern ging es gut, die Analphabetenrate betrug etwa zehn Prozent – für ein Land, das eine Form von industrieller Revolution sozusagen im Schnelldurchgang erlebte, war das eine sehr gute Quote. Und die Lebenserwartung war auf über 60 Jahre gestiegen – zuvor hatte sie lediglich 42 Jahre betragen. 

    Venezuela konnte es sich überdies leisten, eine wichtige Rolle im südamerikanischen Gefüge einzunehmen: Als in den 1970er Jahren der Subkontinent in Diktaturen versank, in Chile, Argentinien, Uruguay Militärregimes wüteten, bot Venezuela vielen politischen Flüchtlingen Asyl. Die bekannteste dürfte die chilenische Autorin Isabel Allende sein, die sich mit ihrem Buch „Eva Luna", das in Venezuela spielt, revanchierte.

    1976 folgt unter Carlos Andrés Pérez die Verstaatlichung der Erdölindustrie und der Eisenförderung, 70 Prozent der Staatseinnahmen und 90 Prozent des Exports bestritten das Erdöl. Der allgemeine Wohlstand wuchs. Die Regierung nutzte die Einkommen zum Ausbau des Guri- Staudamms im Estado Bolívar und zur Erzeugung von Elektrizität, die auch exportiert werden konnte, und zum Aufbau petrochemischer Werke. Doch es mussten auch Kredite im großen Maßstab aufgenommen werden. Das Land bürgte mit seinen Erdölreserven und verschuldete sich.

    ©Sandra Weiss Von Wayuu-Indigenen bewohntes Armenviertel in der Erdölstadt Maracaibo 

    „Gib mir zwei"   

    „Sembar el petroleo, steckte zwar nicht dahinter, doch von den Venezolanern wurde es nun übersetzt mit: „Dáme dos! Gib mir zwei! Sie säten das Erdöl, in dem sie es freudig ausgaben. Wenn man sich zwei Paar Schuhe leisten konnte, warum sollte man nur ein Paar kaufen? Durch Megakonsum unterstützte die neue Mittelschicht die Wirtschaft, allerdings nicht die heimische, sondern die von Miami. Der Bolívar wurde an den US-Dollar gekoppelt, und jetzt „kauft sogar meine Putzfrau in Florida ein!" mokierten sich die die zu frischem Reichtum Gelangten. Venezuela galt bei den Venezolanern nicht viel, nicht dessen Produkte, nicht dessen landschaftliche Schönheiten. Die USA setzte das Maß aller Dinge. 

    Eine Ferienwohnung in Miami war ideell zehnmal mehr wert als eine auf der Isla de Margarita, die ja überhaupt nur zur Ferieninsel wurde, weil der Staat dort die Importzölle aufhob, um das dümpelnde Karibikjuwel aus der Arbeitslosigkeit zu reißen, man also rasend billig einkaufen konnte. Und das taten die Venezolaner dann auch hemmungslos, hängten noch ein, zwei Urlaubstage dran und fertig war das perfekte Ferienvergnügen. Bei allem Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der vom Presidente so gerne propagiert wird: Auch heute wird man in Caracas eher auf Leute treffen, die die örtlichen Shopping Malls als Sight Seeing Event anpreisen und nicht die zweihundert Jahre alte Kathedrale oder die Ciudad Universitaria.

    Doch diese Hochstimmung sollte nicht lange anhalten, denn das wirtschaftliche Wachstum ruhte auf zu wenigen Pfeilern. Zur – konsumfreudigen und konsumstarken - Mittelklasse konnte sich zählen, wer in der Ölindustrie und angrenzenden Bereichen tätig oder eben Ausländer war, ansonsten wurden geringe Löhne ausgezahlt, und die Bevölkerung war sehr jung, stark pyramidal, also gab es keine breite Basis, die arbeitete, produzierte und konsumierte. 

    Im Jahr 1984 geriet Venezuela in die erste wirklich bedeutende ökonomische Krise. Der Preis für Erdöl fiel, die Wirtschaft ging auf Talfahrt, die Landeswährung Bolívar wurde gegenüber dem USD um 43 Prozent abgewertet. Die Bilanz war erschreckend: Mitte der 1980er Jahre beruhte etwa 50 Prozent der Wirtschaftsleistung auf Schattenökonomie, die  konsumgewohnte Mittelschicht hatte weniger Geld im Portemonnaie, weil die Löhne sanken und die Preise für Importware gestiegen waren. Gleichzeitig hatte die Kapitalflucht in die USA eingesetzt. Die Zuteilung von Divisen offenbarte zusätzlich, wie korrupt das System bereits war. Die Regierungen fuhren mit ihrer gewohnten Finanzpolitik fort und nahmen Schulden auf.  

    1997 öffnet sich die staatliche Erdölgesellschaft Pdvsa internationalen Märkten und Gesellschaftern (auch der italienischen Agip, z.B.). Luis Giusti, der damalige Leiter der Pdvsa, hatte die Ölgesellschaft zu einer der weltweit anerkanntesten und modernsten gemacht. Der Reichtum allerdings kam nicht in der breiten Gesellschaft an. 

    Chávez tritt an

    Und irgendwie hatten die ärmeren Gesellschaftsschichten dann genug davon, immer nur die Karossen der „Oligarchie wie sie Chávez provokativ nennt, aufzutanken, aber nie selbst einmal so einen Repräsentationswagen zu fahren. Weil die Bildung nicht reichte, weil man sie teuer bezahlen musste, weil die Beziehungen „nach oben fehlten, weil Fabrikbesitzers’ talentfreie Söhne/Onkel/Tanten/Geliebte Posten bekamen, von denen man selbst trotz Talent ausgeschlossen wurde. Dass man zwar die feinsten Leckerbissen für die Herrschaft kochen konnte, aber davon nicht selbst auch mitessen durfte. 

    Und so gewann der begnadigte und aus der Haft entlassene Putschist von 1992 und Militär Hugo Chávez Frías die Wahl 1998 völlig überlegen gegen Irene Saéz, eine Ex-Miss-World und Ex-Gouverneurin der Urlaubsinsel Margarita, die den Fehler beging, sich vor den politischen Karren der COPEI spannen zu lassen und kläglich unterging. Der politische Autodidakt Chávez hatte sich vor keinen Karren spannen lassen und gewann als Persönlichkeit, aber auch mit seinem Programm „Ojo! Überall klebten die Plakate eines kleinen rundlichen Comic-Männchens von völlig unscheinbarem Aussehen und im Pullunder, das den Daumen hochhielt: „Ojo! Man könnte sagen: der personifizierte kleine Mann passt jetzt auf, was mit ihm passiert. Und der messianisch auftretende Chavez schien ihnen der geeignete Repräsentant dafür zu sein. Ihm vertrauten sie. Mit der Wahl des Militärs Hugo Chávez Frías 1998 setzten die Venezolaner ein überwältigendes Zeichen. Die bekannten großen Parteien schrumpften in die Bedeutungslosigkeit.


    ©Susanne Asal. Ein gekürzter Beitrag aus Brockhaus Spezial-Edition Energie, 2011

    Hurrikan Hugo auf dem Durchmarsch

    Militär und Selbstdarsteller

    Die bolivarische Revolution war die Erfindung von Hugo Chávez. Ein System, das ihm auf den Leib zugeschnitten war. Ohne ihn hätte Venezuela nicht den Weg eingeschlagen, der das Land 19 Jahre später an den Rand des Ruins und des Bürgerkriegs brachte. Chávez und seine Persönlichkeit sind ein Schlüssel zum Verständnis der Revolution.

    ©Pedro Fanega Flickr Creative Commons Hugo Chávez in Uniform

    Kameraden, leider sind derzeit unsere Ziele in der Hauptstadt nicht erreicht worden. Es ist sinnlos, weiter Blut zu vergießen. Bitte legt die Waffen nieder. Es werden noch bessere Zeiten kommen für Venezuela. Ich danke euch für euren Mut und übernehme die Verantwortung für diese Bewegung. Mit diesen knappen Sätzen in die Fernsehkameras katapultierte sich der Putschistenoberstleutnant Hugo Chávez im Februar 1992 in die Herzen der Venezolaner. Ein Patriot, jemand, der auch für Niederlagen Verantwortung übernimmt und Mut hat – so sahen sie ihn damals, als die Traditionsparteien täglich tiefer im Sumpf von Korruption und Misswirtschaft versanken und die neoliberale Wirtschaftspolitik sowie der niedrige Erdölpreis das einst reiche Land in den sozialen Abgrund führten. Es war die Geburtsstunde des Medienphänomens Chávez und der Beginn einer neuen, politischen Ära. Zwar landeten die Putschisten zunächst im Gefängnis, schon zwei Jahre später aber wurde Chávez freigelassen. 1998 gewann er nach einem Blitzwahlkampf die Präsidentschaftswahlen.

    Der Oberstleutnant aus einfachen Verhältnissen war ein Volkstribun wie er im Buche steht. Ein begnadeter Redner, der kein Skript brauchte, und dem die Menschen auch folgten, wenn er sich innerhalb von fünf Minuten zweimal widersprach. Jovial und volksnah gab er sich, Gesprächspartner duzte er ungefragt – auch wenn es sich um den spanischen König handelte. Seine sehr karibische Art zu kommunizieren – direkt und informell – stieß manchen vor den Kopf, war aber ein wichtiges Element seiner Machtinszenierung. Wenn er US-Präsident George W. Bush als Teufel bezeichnete, sich mit dem in imperialistischer Gutsherrenmanier auftretenden spanischen König anlegte, Bischöfe als Dämonen in Soutanen beschimpfte, Kolumbiens Präsident Alvaro Uribe als notorischen Lügner und Rechtsfaschisten bezeichnete oder Bundeskanzlerin Angela Merkel in einen Topf mit Adolf Hitler warf, war das zwar undiplomatisch, aber es hatte Methode. Er polarisiert, teilt die Welt ein in gut und böse. Damit emotionalisiert er eine eigentlich rationale Debatte, verstärkt die Bindung an seine Basis und demoralisiert den Gegner, sagte der Soziologe Tulio Hernandez. Außerdem waren ihm so immer Schlagzeilen garantiert und zwar mit dem Image, das er pflegen wollte: Das eines revolutionären Outsiders, eines Rächers der Armen, der sich nicht vor den Karren der Reichen und Mächtigen spannen ließ. 

    So ein Diskurs traf nicht nur in Venezuela sondern in ganz Lateinamerika, wo über 40 Prozent der Menschen in Armut lebten und die Schere zwischen Reich und Arm krass auseinander klaffte wie sonst nirgendwo auf der Welt, den Nerv vieler. Ich höre ihn an, so oft ich kann. Er ist der erste Präsident, der so mit dem Volk spricht, sagte der eingefleischste Chavist Yoel Capriles aus dem Armenviertel Catia. Seine sonntägliche Fernsehsendung Aló Presidente, in der Chávez tanzte, sang, Minister abkanzelte, neue Programme verkündete und armen Mütterchen ein neues Haus schenkte, war ein Publikumsrenner und für seine Anhänger eine Art Ersatz-Gottesdienst. Sechs Stunden dauerte die Sendung im Durchschnitt, dazu kamen wöchentlich noch weitere vier bis sechs Stunden Reden zu offiziellen Anlässen, die von allen TV- und Radiosendern übertragen werden mussten. Selbst die Opposition, die Aló Presidente für eine Ein-Mann-Show eines geschwätzigen Narziss hielt, konnte sich kaum davor drücken. Alle wichtigen Entscheidungen traf Chávez im Fernsehen, sogar sein einstiger Vizepräsident erfuhr von seinem Rauswurf aus dem Kabinett durch den Anruf des Präsidenten bei einer abendlichen Talkshow. Politik live. Seine Minister waren nur Statisten und Stichwortgeber bei Aló Presidente, im Vordergrund standen ausgesuchte Gäste aus dem Fussvolk, die Chávez ihr Leid klagten und in den Genuss von Versprechen und Geschenken kamen. 

    Doch die Revolution war beleibe nicht nur Diskurs. Kaum an der Macht, begann Chávez mit dem Umbau des Erdöllandes nach sozialistischen Vorstellungen. Größte Stützen dabei waren sein Bruder Adán, ein überzeugter Kommunist, und Kubas Revolutionsführer Fidel Castro, der in Chávez einen Erben sah, der die Fackel des Sozialismus in die Zukunft trägen könnte. Seine 1998 eilig aus dem Boden gestampfte Bewegung bereitete bei den Parlamentswahlen den etablierten Parteien ein Debakel, weil sie der armen Bevölkerungsmehrheit eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes versprach. Der von ihm einberufene Verfassungskonvent arbeitete ein neues, Chávez wie auf den Leib geschneidertes Grundgesetz aus, das von der Bevölkerung mit großer Mehrheit angenommen wurde. Hurrikan Hugo beförderte das politische System, die Vierte Republik, innerhalb kürzester Zeit auf den Müllhaufen der Geschichte. Stattdessen erblickten die bolivarische Revolution un die Fünfte Republik das Licht. 

    ©Walter Vargas Flickr Creative Commons Wahlkampfakt, Familie Chávez, rechts Adán (in rot)

    Zwischen Bibel, Bolívar und Fidel

    Die Bibel und der Vaterlandsbefreier Simon Bolivar waren die wichtigsten Referenzen, großangelegte Alphabetisierungs- und Gesundheitsprogramme sicherten ihm Gefolgschaft in den Armenvierteln. Die internationale Linke feierte Venezuela als neues Modell eines Sozialismus des 21. Jahrhundert, der 100% demokratisch legitimiert war und - inspiriert vom Deutsch-Mexikaner und Soziologen Heinz Dieterich - aus Verstaatlichungen, Kooperativen und Tauschgeschäften bestehen sollte. Die Privatwirtschaft gängelte Chávez durch Dekrete, Steuererhöhungen und Enteignungen. Doch nie war die Revolution ein lupenreiner Sozialismus, sondern ein Patchwork voller Widersprüche. Der Schulterschluss mit Fidel Castro und ein Besuch beim irakischen Staatschef Saddam Hussein waren vereinbar mit Erdöllieferungen an die USA und einer Verurteilung der Terroranschläge in New York und Washington. Maulkörbe für kritische Journalisten und die Unterzeichnung eines regionalen Demokratie-Paktes standen ebenfalls nicht im Widerspruch. Das Werben um Investoren in Europa gingen einher mit Steuer- und Lohnerhöhungen und mit Devisenverkehrskontrollen und Landenteignungen.

    „Sein politisches Ziel ist ganz klar die Konzentration der Macht, sagte der Direktor des Umfrageinstitutes Datanalisis, Luis Vicente Leon. „Sein Programm hingegen mutet an wie ein unfertiges Patchwork. Trotz aller revolutionärer Rhetorik sei Chávez Wirtschaftspolitik orthodox. „Indem er die Inflation über einen künstlich starken Wechselkurs kontrolliert, sichert er den Menschen die Kaufkraft. Gleichzeitig werden dank der hohen Erdöleinnahmen die Sozialausgaben gesteigert, erläuterte er. „Das ist kein neues Modell, sondern typischer Linkspopulismus, der langfristig nicht tragbar ist, kritisierte Leon. Er befindet sich damit im Einklang mit dem Internationalen Währungsfonds, der sich in seinem jüngsten Lagebericht besorgt über die stark wachsenden Staatsausgaben Venezuelas äußerte. Trotz voller Staatskassen und wirtschaftlichen Sondervollmachten des Kongresses bekam Chávez in den ersten zweieinhalb Jahren seiner Amtszeit weder die Arbeitslosigkeit (fast 60% der Venezolaner haben entweder keinen Job oder arbeiten im informellen Bereich), noch die Armut (70 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze) oder die Kriminalität in den Griff. Die Linienlosigkeit der bolivarianischen Revolution ist nach Ansicht des ehemaligen Guerillero und Ex-Ministers Teodoro Petkoff auf Chávez Charakter zurück zu führen. „Chávez hat eine gespaltene Seele, hin und hergerissen zwischen Pragmatismus und Idealismus", schrieb er in einem Buch über den Staatschef. 

    Dass der am 28. Juli 1954 in Sabaneta im Bundesstaat Barinas geborene Sohn eines Landschullehrers gleich seine halbe Familie mit hochdotierten Posten versorgte, an Schlüsselstellen – selbst in staatlichen Theatern – überall Militärs setzte und über die Milliarden, die er für die Sozialprogramme beim staatlichen Erdölkonzern PDVSA abzweigte, keiner ordentlich Buch führte sowie sich eine neue, bolivarische Bourgeoisie schamlos bereicherte – das tat er ab als Verleumdungen seiner Feinde, die die Revolution madig machen wollten. Die Armen jedenfalls sahen in dem unkonventionellen Mestizen einen Heilsbringer, einen der ihren, einen, der die immer Vergessenen zu Protagonisten gemacht und ins Zentrum des politischen Tuns gerückt hat.

    Für Politologen war der Erdölstaat schon bald allerhöchstens eine defekte Demokratie, manche sahen im Chavismo, wie das System wegen der Konzentration auf die Figur des Präsidenten bald hieß, sogar ein militär-ziviles Regime mit autoritären und faschistischen Zügen. Denn der Mestize Chávez, der im Alter von 17 Jahren dem Militär beitrat, blieb im Grunde seines Herzens stets ein Soldat der militärisch dachte und nicht politisch. Er teilte die Welt in Freund und Feind ein und gab Befehle, die er ohne Diskussion umgesetzt sehen wollte. Wenn die Bürokratie oder die Justiz zu langsam waren oder nicht so wollten wie er, wurden sie ausgebootet oder gleichgeschaltet. Sein Regierungsstil war egozentristisch, chaotisch und mehr emotional als rational. Ein typischer lateinamerikanischer Caudillo, sagten seine Kritiker. Er charakterisierte sich lieber als „Manager eines Baseballteams. „Die Spieler müssen meinen Anweisungen folgen, sonst müssen sie auf die Bank. Dieses Schicksal erlitten bald zwei der Splittergruppen, die Chavez bei seiner Wahl zum Präsidenten 1998 noch unterstützt hatten und

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