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Mein Russland: Begegnungen in einem widersprüchlichen Land
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eBook164 Seiten2 Stunden

Mein Russland: Begegnungen in einem widersprüchlichen Land

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Über dieses E-Book

Russland: Land der Mythen, Projektionsfläche, Sehnsuchtsort und immer wieder auch Feindbild. Weltpolitisch stellten in den letzten Jahren die Annexion der Krim sowie Putins Eingreifen in der Syrienkrise auf Seiten Assads das internationale Machtgefüge auf die Probe, innenpolitisch herrschen Repression und eine anhaltende Wirtschaftskrise. Doch was bedeutet das für die Bevölkerung Russlands, die in Putins "gelenkter Demokratie" lebt? Formiert sich politischer Widerstand, oder nimmt man den Status quo als gegeben hin? Wie unterschiedlich erleben Bewohner des städtischen und ländlichen Raums, im europäischen und im asiatischen Teil Russlands die Situation?
Carola Schneider, seit 2011 Auslandskorrespondentin des ORF in Moskau, zeigt in berührenden Porträts Innenansichten eines faszinierenden und zugleich widersprüchlichen Landes, das dem Westen immer noch fremd ist. Sie spricht mit Menschenrechtsaktivisten, Künstlern und kritischen Journalisten ebenso wie mit innovativen Käsebauern, Putin-treuen Jugendlichen und Befürwortern der Krim-Annexion. Schneiders Reportagen ergeben ein vielstimmiges, fein nuanciertes Bild Russlands, das von Widerstand und Resignation, Aufbruchstimmung und Regierungstreue erzählt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Sept. 2017
ISBN9783218010894
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    Buchvorschau

    Mein Russland - Carola Schneider

    »Eines Tages wird Russland ein demokratischer Rechtsstaat und zur europäischen Völkerfamilie gehören.«

    Ljudmila Alexejewa, Grande Dame der russischen Menschenrechtsbewegung, Moskau

    Der Eingang in das Wohnhaus von Ljudmila Alexejewa im Stadtzentrum von Moskau liegt etwas versteckt in einer schmalen Seitenstraße. Der Weg dorthin führt am Denkmal für Bulat Okudschawa vorbei, den berühmten Chansonnier, der zu Sowjetzeiten in melancholischen Liedern leise Kritik am düsteren Alltag, der drückenden gesellschaftlichen Stimmung, an Krieg und Militarisierung geübt hat.

    Auch Ljudmila Alexejewa wird nicht müde, Kritik zu üben. An der politischen Führung in Russland, die grundlegende Freiheitsrechte der Bürger einschränkt, von der Versammlungs- bis zur Pressefreiheit. Die ein willfähriges Parlament und folgsame Gerichte als völlig in Ordnung ansieht. Der kritische Blick und der Wunsch, sich für eine starke Bürgergesellschaft einzusetzen, liegt Alexejewa im Blut. Den Großteil ihres Lebens hat die nunmehr 90-jährige Ikone der russischen Menschenrechtsbewegung dem Kampf für mehr politische Freiheit in ihrer Heimat gewidmet. Sie ist Mitglied der ersten Stunde und seit rund 20 Jahren auch Leiterin der renommierten russischen Menschenrechtsorganisation »Moskauer Helsinki-Gruppe«. Für ihre Arbeit ist Alexejewa mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet worden.

    In ihrer Heimat erntet sie für ihr Engagement aber bei Weitem nicht nur Lob. Als uns die zierliche Frau mit schneeweißer Pagenfrisur in ihrem Wohnzimmer empfängt, erzählt sie, sie habe vor Kurzem wieder einmal ein vielsagendes »Abenteuer« erlebt. Ein russisches Kamerateam habe sie angerufen und um ein Interview zum Thema Migration und Flüchtlingswelle in Europa gebeten. Das Team habe sich als liberaler Sender vorgestellt, der im Namen das Wort »Freiheit« getragen habe. Sie habe daraus geschlossen, dass es sich um »Radio Free Europe« handle und zugesagt. »Als das Kamerateam dann gekommen ist, haben sie mir auf dem Telefonbildschirm ein Video vorgespielt, auf dem zu sehen ist, wie auf einem Berliner Bahnhof ein Immigrant eine Frau von einer Stiege stößt«, erzählt Alexejewa. »Und sie haben auch gefilmt, wie ich darauf gesagt habe, das sei entsetzlich.« Später, als die Journalisten vor dem Verlassen der Wohnung ihre Geräte zusammenpackten, sah Alexejewa in einer der Taschen des Kamerateams ein Mikrofon mit dem Logo eines kremltreuen Fernsehsenders, der immer wieder mit Hetzkampagnen gegen Oppositionelle, Bürgerrechtsaktivisten und regimekritische Kulturschaffende von sich reden macht. Auch Ljudmila Alexejewa wird in Sendungen dieses Kanals regelmäßig als Mitglied der »Fünften Kolonne« verunglimpft. So werden in Russland, unter anderem auch von Präsident Putin, angeblich vom Ausland gesteuerte »Vaterlandsverräter« bezeichnet, denen vorgeworfen wird, Russland von innen heraus zerstören zu wollen. Das besagte Interview mit Ljudmila Alexejewa, für das sich die Journalisten unter falschem Namen vorgestellt hatten, wurde wenige Tage später auf dem Sender ausgestrahlt. »Es wurde natürlich gezeigt, wie ich gesagt habe, dass ich die Tat des Immigranten furchtbar finde«, erzählt Alexejewa kopfschüttelnd. »Dabei ist es doch ganz normal, furchtbar zu finden, wenn jemand eine Frau von der Stiege stößt, ganz egal, woher er kommt.« Danach sei vom Reporter in der Sendung behauptet worden, sie sei gegen die Zuwanderung von Ausländern in Europa. »›Sogar die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa ist dagegen‹, hat es geheißen. Dabei habe ich nichts dergleichen gesagt. Ich bin nicht gegen Migration, ich habe selbst jahrelang im Exil in den USA gelebt.«

    Dieser Vorfall ist nur eines von vielen Beispielen, das charakteristisch ist für die zum großen Teil politisch gesteuerte Medienlandschaft in Russland, deren Aufgabe nicht ist, einfach Nachrichten zu verbreiten, sondern politische Botschaften zu verkünden. Zum Teil auch mit Tricks und Lügen. Es sollen jene Botschaften verkündet werden, die dem Kreml im Moment gerade genehm sind. So wird die Flüchtlingswelle in Europa in den kremlnahen Massenmedien nicht zufällig als große Gefahr für Europa dargestellt, das angeblich mitsamt seiner »falsch verstandenen Toleranz anderen Kulturen gegenüber« und seinen »liberalen und liederlichen moralischen Werten« nun vor dem Untergang stehe. Während Russland zugleich als Hüterin christlicher Werte und der traditionellen Familie als ein Europa überlegenes Land gezeigt wird. Eine Botschaft, die auch Präsident Putin und mit ihm die ganze politische Führung und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche unermüdlich betonen. Sie passt zum aktuellen politischen Kurs von Wladimir Putin, der angesichts der schweren Wirtschaftskrise und fehlender positiver Zukunftsperspektiven versucht, die Russen davon zu überzeugen, sie seien zumindest ideologisch dem Westen überlegen.

    2017 werde Russland ein freies, demokratisches Land sein, hat Ljudmila Alexejewa vor einigen Jahren prophezeit. Als wir sie zum Interview treffen, ist es Dezember 2016. Wie sie nun über ihre Prognose denke, frage ich sie. »Ich habe mich geirrt«, sagt Alexejewa und lächelt leise. »Das habe ich schon 2014 begriffen, als nach der plötzlichen Übernahme der Krim durch Russland eine landesweite hysterische Euphorie ausgebrochen ist.« Damit meint die Menschenrechtlerin, dass damals laut einem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut 86 Prozent der russischen Bevölkerung die Krim-Annexion guthießen. »Krim nasch«, das heißt auf Deutsch »die Krim gehört uns«, ist seither fast schon zu einem geflügelten Wort geworden, sowohl bei den Befürwortern als auch bei den Gegnern der Annexion. »Krim nasch« steht für die hurra-patriotische Welle, die Russland seither erfasst hat und vielen Anhängern von Präsident Putins Führung als Rechtfertigung seines Kurses bzw. als »Trostpflaster« für politische und wirtschaftliche Unannehmlichkeiten im russischen Alltag gilt, die wegen der internationalen Sanktionen, die die Annexion mit sich brachte, erduldet werden müssen. Gegner der Annexion verwenden den Begriff, um ebendiese politisch und medial propagandistisch verstärkte Patriotismus-Welle zu kritisieren.

    »Ich habe völlig unterschätzt, dass Russland als imperiale Nation zwar nicht mehr existiert, die Nostalgie aber schon. Und das nicht nur in den Köpfen der Regierenden, sondern auch in jenen der ganz normalen Menschen«, erklärt die Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa. Vor allem außerhalb der Großstädte und in weniger gebildeten Schichten könnten sich viele bis heute nicht mit dem Verlust der imperialen Rolle Russlands abfinden. Diese Menschen würden die Krim-Eingliederung gut finden, ganz nach dem Motto: »Lieber vor lauter Armut einen nackten Hintern, aber im Gegenzug in einem Land leben, das alle in der Welt wieder fürchten«, lacht Alexejewa. Sie selbst wolle jedoch nicht, dass Russland gefürchtet werde, meint sie, und das Lachen verschwindet aus ihrem Gesicht. Sie wünsche sich, dass ihre Heimat im Ausland geliebt und geachtet werde. Immerhin gebe es genügend Gründe dafür. Nicht nur, dass die Sowjetunion mit ihren vielen Millionen Kriegstoten größere Opfer als jedes andere Land gebracht habe, um im Zweiten Weltkrieg Hitler-Deutschland zu besiegen. »Wir haben auch unsere Kultur, unsere Musik und Poesie! Wir haben alles, um unseretwegen geliebt zu werden. Wozu soll man uns also fürchten? Aber viele meiner Mitbürger sehen das anders.«

    Ich frage Alexejewa, wo sie heute in Russland die größte Gefahr für die Menschenrechte sehe: in der Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit, in der Tatsache, dass man etwa für regierungskritische Postings in sozialen Netzwerken schon ins Straflager kommen kann oder in Gefängnissen regelmäßig gefoltert wird? »Es sind die Gerichte, die nicht unabhängig sind. Wir brauchen eine unabhängige Justiz, das ist das Allerwichtigste«, antwortet Alexejewa ohne zu zögern. »Wenn die politische Führung Gesetze bricht, wird sie in einem Land mit unabhängigen Gerichten verurteilt«, erklärt die Bürgerrechtlerin. Das sei aber in Russland nicht möglich, denn hier seien alle Institutionen vom Kreml abhängig, vom Parlament bis zu den Gerichten.

    »Wir sind wieder ein autoritärer Staat«, sagt Alexejewa. »In den 1990er-Jahren, als die Sowjetunion zusammengebrochen war, waren wir im Vergleich zu heute frei! Wir waren keine wirkliche Demokratie und schon gar kein Rechtsstaat. Aber wir waren ein freies Land. Jetzt nicht mehr. Es gibt keine freie Presse, kein freies Parlament und auch keine unabhängigen Gerichte.«

    Damals, in den 1990er-Jahren, seien zwar Institutionen wie das Parlament und die Gerichte auch nicht völlig unabhängig gewesen, gesteht Alexejewa ein. Aber zumindest habe sich das Land damals in Richtung Freiheit bewegt. Heute bewege sich Russland rückwärts. Als ausgebildete Historikerin wisse sie, dass nach Revolutionen immer ein Rückschlag folge. Und einen solchen erlebe Russland nun, ausgelöst durch die »Revolution« des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Diese aktuelle Rückwärtsbewegung sei aber länger und tiefgehender, als sie es erwartet habe, so die Menschenrechtlerin. »Das liegt nicht an uns Russen als Menschen«, sagt sie. »Wir sind nicht schlechter als jene, die in freien Ländern leben, als meine Freunde in den USA zum Beispiel.« Im Unterschied zu diesen Ländern habe Russland aber eine einzigartig tragische Geschichte, die die Menschen präge, ist Alexejewa überzeugt. »Wenn man die Geschichte unseres unglücklichen Landes betrachtet, so gibt es viele große, schwarze Flecken und nur ganz wenige kleine und helle«, meint Alexejewa. »Wir liegen genau an der Schwelle zwischen Ost und West. Die Schläge aus dem Osten haben wir immer als erste und sehr heftig abbekommen. Zum Beispiel die Herrschaft der Mongolen. Hunderte Jahre ist das tatarisch-mongolische Joch schon vorbei. Und doch hat es bis heute Spuren hinterlassen. Wir haben mehr als andere Länder Elemente aus dem ›wilden‹ Osten übernommen. Die Mongolei war ja ein wildes Land damals.« Alexejewa zieht einen Vergleich mit der Ukraine und meint, dass die Mongolen zwar auch bis Kiew vorgedrungen seien und dort alles zerstört hätten. Doch seien sie rasch zurückgeworfen worden, während sie in Russland sehr lange herrschten. »Und schauen Sie doch, welchen Unterschied das bis heute macht«, meint Ljudmila Alexejewa. »Es scheint, als ob die Russen und Ukrainer verwandte Völker sind, sogar die Sprache ist ähnlich. Aber die Psyche ist eine völlig andere. Die Ukrainer haben den Maidan. Wir in Russland nicht.«

    In ihren Augen sei nicht allein Präsident Wladimir Putin am repressiven politischen Klima im Land schuld. Sondern auch die russische Gesellschaft, die ein solches Regime fast widerspruchslos zulasse. »Jeder Machthaber in jedem Land wäre ein Despot, wenn das die Bürger zulassen würden. Politische Macht verleitet sehr dazu, vor allem, wenn man lange genug über sie verfügt.« Im Unterschied zu Russland existiere in demokratischen Ländern aber eine starke und aktive Bürgergesellschaft, die nicht erlaube, dass Spitzenpolitiker sich wie Herrscher aufführten. »Bei Ihnen sind Politiker die Diener der Gesellschaft und versuchen alles, um dieser zu gefallen und ja nicht verschmäht zu werden. In Russland wird das auch eines Tages so sein. Aber erst, wenn auch die hiesige Bürgergesellschaft stark genug ist, um ihrer politischen Führung Grenzen zu setzen.«

    Allerdings will Präsident Putin mit den zahlreichen repressiven Gesetzen, die er seit Beginn seiner jüngsten Amtszeit beschließen ließ, genau dies verhindern: eine unabhängige und kritisch denkende Bürgergesellschaft, die die politische Führung kontrolliert. Im heutigen Russland genehmigen die Behörden so gut wie keine Demonstrationen mehr, obwohl dies der Verfassung widerspricht, und man kann schon für stille Mahnwachen auf der Straße im Straflager landen. Dies, obwohl solche stillen Formen des Protests sogar im restriktiven russischen Versammlungsrecht ausdrücklich erlaubt sind. Der Druck auf die wenigen verbliebenen kritischen Medien wird immer größer, und das noch einigermaßen freie Internet wird immer stärker kontrolliert.

    Auch Ljudmila Alexejewa und die von ihr geleitete Moskauer Helsinki-Gruppe sind Opfer dieser Politik geworden. Laut einem 2012 beschlossenen und auch international heftig kritisierten Gesetz müssen sich Nichtregierungsorganisationen, die politisch tätig sind und finanzielle Förderungen aus dem Ausland erhalten, offiziell als »ausländischer Agent« bezeichnen. Der Begriff »politische Tätigkeit« ist im Gesetz so schwammig definiert, dass praktisch jede in den Augen der Behörden unliebsame Organisation darunter fällt. Der Stempel »ausländischer Agent« macht jedoch für die betroffenen NGOs das Arbeiten in Russland praktisch unmöglich. Der Begriff ist äußerst negativ besetzt. Zu Sowjetzeiten wurden (auch und vor allem angebliche) Spione und Vaterlandsverräter so bezeichnet und hingerichtet oder zu jahrelanger Lagerhaft verurteilt. Weil auch die Moskauer Helsinki-Gruppe für ihre Menschenrechtsprojekte in Russland Geld von ausländischen Sponsoren erhielt, lief sie Gefahr, als »ausländischer Agent« gebrandmarkt zu werden. Daher stellte Alexejewa nach dem Beschluss des Gesetzes sofort die ausländischen Finanzzuschüsse ein. Es wäre undenkbar gewesen, als »ausländischer Agent« Menschenrechtsprojekte in Russland durchzuführen, erklärt sie. Ich erinnere mich gut an den Kommentar der betagten Aktivistin, der damals auch international Aufmerksamkeit erregte: Wenn die Moskauer Helsinki-Gruppe ohne ausländische Hilfe nun

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