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Hilf und Stirb
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eBook281 Seiten3 Stunden

Hilf und Stirb

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Über dieses E-Book

Als Charly im Jahre 2085 in einer kompromisslosen Stadt namens Darwin aufwacht hat er nicht nur sein Gedächtnis verloren:
Der alte Greis und Doktor ist nun ein Außenseiter. Viele Menschen in der Stadt sind deutlich jünger als der einzige Arzt in Darwin, der nun in einer überbevölkerten Welt lebt, in der Menschen sich einander nicht helfen dürfen und bei dem kleinsten Unfall auf sich selber gestellt sind.
Vieles hat sich seit Charlys Kindheit verändert: Kinder dürfen nicht mehr aus brennenden Häusern befreit werden, schwangere Frauen müssen ohne die Hilfe von Ärzten Kinder gebären und die kleinste Entzündung kann zum Tod führen, da Ärzte nur noch den würdigen Menschen, mit den besten Genen, helfen dürfen. Diese Würdigen sollen die Rasse Mensch auf der Erde repräsentieren.
Für die anderen gilt: Nur wer ohne Hilfe überlebt ist im Sinne des Gesetzes von Darwin würdig zu leben.
Wie konnte es nur so weit kommen?
Charly sieht sich als Arzt mit einem inneren Konflikt konfrontiert. Soll er unwürdigen Menschen helfen und sein Leben riskieren oder seinen einstigen Berufsethos brechen?
Immer mehr schockierende Einzelheiten über sein Leben geraten ans Tageslicht. Als Charly erfährt, dass ein liebgewonnener Mensch aus seiner Vergangenheit wegen AIDS gekreuzigt werden soll, beginnt für den alten Arzt ein unerbittlicher strategischer Kampf um Leben und Tod.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Sept. 2014
ISBN9783847607656
Hilf und Stirb

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    Buchvorschau

    Hilf und Stirb - Josef Bach

    Welt 1.0

    Welt 1.0

    »Ich habe Hitler getötet!«, stammelte Charly vor sich her, während eine Symbiose aus schrillen Schreien und einem dumpfen Knall ihn aus seiner Ohnmacht riss. Gleißendes Licht biss sich durch seine Lider, ehe er blinzelnd seine Augen öffnete und sich wie ein Säugling in Embryonalstellung auf dem nassen, steinigen Untergrund krümmte. Er wusste nicht, wo er sich befand. Der Geruch von Benzin lag in seiner Nase und sein Oberkörper brannte vor Schmerzen. Charly griff sich an seinen pochenden Kopf. Seine abgeschürften Fingerkuppen brannten, als er seinen leicht blutenden Hinterkopf abtastete. Die Frequenz der stetig steigenden, grellen Rufe schmerzte in seinen Hörgängen, sodass das kratzende Geräusch von Fingernägeln, die eine Schultafel streiften, ihm wie erholsame klassische Musik erschien.

    Charly zierte sich davor, seine Augen für längere Zeit zu öffnen. Lieber dachte er darüber nach, wie lange seine Kindheit zurück lag und wo er sich befand. Er wäre schon zufrieden gewesen, wenn er seinen richtigen Namen gewusst hätte. „Charly. Dieses Wort und „Hitler waren die letzten Namen, an die er sich erinnern konnte. Er hatte alles andere vergessen. Er spürte nur, dass es sich nicht um ein glückliches Ereignis handelte und die Erinnerung ihn nicht willkommen heißen würde. „Hitler, „Hitler. Unverständlich für Außenstehende stammelte er diesen Namen vor sich her,

    während er Blut aus seinem Mund spie. Als er sich erneut übergab, öffnete er reflexartig seine ozeanblauen Augen. Die Sonne blendete ihn, sodass er nur langsam das Szenario um ihn herum eruieren konnte. Er blickte auf eine große Traube von Menschen, die nur einige Meter entfernt von ihm stand. Voyeuristisch blickten sie auf ihn herab.

    Charly streckte ihnen seine Hand entgegen, während sich eine Person nach der anderen von ihm abwandte und einen Schritt zurückwich. Eine zierliche, ältere Dame mit graumelierten Haaren, die ihn an ein bekanntes Gesicht erinnerte, blickte ihn mit Tränen in ihren Augen an und schüttelte ihren Kopf.

    »Das musst du schon selber schaffen! Ich kann dir nicht dabei helfen!«

    Ehe Charly der Dame eine Frage stellen könnte, riss ein Schuss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte seinen Kopf zur Seite und sah, wie eine junge Frau zu Boden sank. Danach erblickte er eine Gestalt in einer komplett weißen Uniform, die sich aus einer Jeanshose und einer weißen Lederjacke zusammensetzte. Die Gestalt hielt einen Colt-Revolver aus Silberstahl, dessen Lauf noch qualmte, in der Hand. Charly konnte das Gesicht der Kreatur nicht erkennen, da sie einen großen runden weißen Helm mit verspiegeltem Visier trug und mehrere Meter von ihm entfernt stand.

    »Du Idiot! Was hast du gemacht?«, schrie ein weiteres dieser Wesen und entriss ihm den silbernen Colt-Revolver.

    »Es tut mir leid, Captain!«

    »Du weißt genau, dass wir für Infizierte keine Munition verschwenden dürfen. Wofür haben wir denn sonst die Flügellanzen und Messer?«

    Der Captain, der einen schwarzen Helm trug, riss dem Wesen den weißen Helm vom Kopf. Es handelte sich um einen jungen Mann. Der Captain setzte den Revolver an dessen Schläfe und drückte, ohne zu zögern, ab. Der Mann sank leblos zu Boden. In diesem Moment blickte Charly sich angestrengt um und erkannte das ganze Szenario.

    Er befand sich nicht weit von einer Tankstelle. Mehrere Zapfsäulen waren explodiert und brannten lichterloh. Ein Dutzend verbrannter Leichen lag auf dem Boden. Doppelt so viele schwerverletzte Menschen kauerten auf dem steinigen Untergrund und schrien vor Qual. Charly packte sich an seinen Rücken und merkte, wie dieser vor Schmerzen brannte. Danach fühlte er, dass das Shirt, das er trug, mehrere Löcher hatte.

    Nur wenige Meter von Charly entfernt lag ein junges blondes Mädchen. Es war von einem umgefallenen Motorrad eingeklemmt worden. Der Wind wehte den schwarzen Rauch, der aus einer immer noch brennenden Zapfsäule stammte, direkt in ihr Gesicht. Das Mädchen begann zu husten. Charly blickte auf die Menschentraube.

    »Wieso hilft ihr keiner? Helft ihr doch! Sie wird das nicht lange überleben! Sie wird ersticken! Seht ihr das nicht?! Der Rauch ist giftig!«

    Charly schaute auf einen weinenden kleinen Mann, der hysterisch schrie und vor einem grünen Absperrband stand.

    »Anna. Anna. Bitte halte durch! Du weißt Mama und ich dürfen dir nicht helfen! Versuch dich alleine zu befreien!«

    Das Mädchen war nicht in der Lage, mit ihrem Vater zu sprechen. Ihre Schmerzensschreie wurden immer lauter. In dem Moment als der Mann von seinen Gefühlen übermannt wurde, hielt eine Frau ihn fest und packte mit großer Kraft seinen Arm.

    »Lass es. Lass es. Es ist zu spät. Wir können ihr nicht mehr helfen. Du hast gesehen, was sie mit der anderen Mutter gemacht haben! Anna ist zu schwach für diese Welt. Sei du es nicht auch. Einen infizierten Mann kann ich nicht gebrauchen.«

    Die Worte der Frau waren hart und verbittert. Ihr Blick war leer.

    »Wir haben immer noch John. Anna ist nicht der erste Mensch, den wir verlieren. Sie werden dich töten, wenn du ihr hilfst. Ich will dich nicht auch noch verlieren! John und ich, wir brauchen dich. Bleib realistisch.«

    Der Mann sank weinend zu Boden und nickte dabei mehrmals. Langsam richtete seine Frau ihn auf. Er schaute auf seine weinende Tochter, deren Körper aufgrund des Rauches kaum noch zu erkennen war.

    »Du hast recht. Lass uns gehen.«

    Während das Mädchen um Hilfe schrie, verließen der Mann und die Frau den Schauplatz.

    »Wieso hilft ihr niemand?«, rief Charly.

    Er versuchte sich aufzurichten und krebste unter größter Anstrengung in die Richtung des Mädchens. Seine Fingerkuppen und sein Rücken brannten stark, als er versuchte sich vom Boden abzustützen.

    »Weil wir nicht an AID-S sterben wollen, so wie der Typ neben dir«, sagte ein junger Mann mit verächtlicher Stimme.

    »Er hat dich gelöscht, als du so gut wie noch gar nicht am Brennen warst. Deshalb sind deine Verbrennungen auch nicht so schlimm wie die der anderen. Dann haben sie ihm beide Hände abgehackt, bis er elendig verblutet ist. Dabei weiß doch jeder, wie das Gesetz lautet. Sie haben ihn nicht ins Schloss gebracht, weil dort im Moment alle Kreuze und fast alle Zellen belegt sind. Deshalb haben sie ihn nicht aufgehängt, aber ihm dafür beide Hände abgetrennt, anstatt nur einer. Siehst du diese Flügellanzen? Die sind für AID-S-Kranke.«

    Charly verstand kein einziges Wort von dem, was der junge Mann sprach. Er drehte sich um und blickte auf den regungslosen Körper eines Mannes, der in einer Blutlache auf dem Rücken lag. Seine abgetrennten Hände waren auf seinem Bauch überkreuzt übereinandergelegt worden. Es sah aus, als ob der Mann beten würde. Charly starrte auf das weinende Mädchen.

    »Wen meint ihr denn? Wer hat ihn getötet?«

    »Der Mann ist verwirrt. Ich glaube er hat sein Gedächtnis verloren«, sagte die ältere Dame zu den anderen.

    »Ja, wer wohl? Die Polizei war es«, erklärte der junge Mann und zeigte auf die Männer in den weißen Uniformen und den weißen Helmen.

    »Die Polizei? Warum? Warum hilft sie uns nicht?«

    »So lautet das Gesetz«, sprach der junge Mann emotionslos.

    »Alleine der Versuch jemanden Unwürdigen zu helfen, wird schwer bestraft. Man wird ans Kreuz genagelt! Überlebt die Person, der man hilft, dann werden beide hingerichtet. Also würde ich es mir zweimal überlegen, jemanden zu helfen.«

    Der junge Mann blickte auf den regungslosen Körper eines kleinen Jungen, der nur unweit von Charly entfernt lag. Sein Gesicht war völlig verbrannt. Danach zeigte er auf den Jungen und richtete sich an Charly.

    »Siehst du diesen Jungen? Das ist mein Sohn. Kurz bevor du aufgewacht bist, war er noch am Leben. Doch er war zu schwach für diese Welt. Er hat es nicht geschafft. Hätte ich ihm geholfen, könnte ich meine Familie nicht ernähren. Womöglich wäre er eh bald an etwas anderem gestorben. Die Natur hat nicht gewollt, dass er länger auf dieser Welt bleibt. Das ist das Gesetz Darwins. Er war zu schwach.«

    »Ich muss nun gehen. Gleich gibt es Abendessen.«

    Der Mann atmete tief ein und verließ die Unglücksstelle.

    Charly blickte in die Mienen der anderen, die um ihn herumstanden. Bis auf die alte Dame und die Eltern des Mädchens wirkten alle teilnahmslos.

    »Es gab schon einmal Interessanteres zu sehen«, sagte eine jüngere Frau, die eine Brille trug und verschmitzt lächelte. Dabei kamen ihre schwarzen Zähne zum Vorschein. Charly schaute sich kurz die anderen Menschen an. Auch sie hatten entweder schwarz-gelbliche Zähne oder diverse Zahnlücken.

    »Bis hier alle tot sind, kann es noch Ewigkeiten dauern. Das ist Zeitverschwendung. Und für so was habe ich meine Mittagspause unterbrochen«, beschwerte sich eine Frau. Sie blickte vorwurfsvoll auf Charly und ging fort.

    Danach musterte Charly die Männer mit der weißen Uniform und den weißen kugelrunden Helmen, die von den anderen als Polizisten bezeichnet wurden. Ihre Uniformem und ihre Helme hatten sichtbare Rußflecken, die sich mit Blutresten vermengt hatten und einen eigenen dunklen Farbton kreierten. Einige der Männer trugen Flügellanzen in ihren Händen, mit deren Spitzen sie die Köpfe einiger Leichen durchbohrten.

    »Du schaffst das! Ich glaube an dich«, flüsterte plötzlich die alte Dame in die Richtung von Charly und lächelte ihn an.

    Mit letzter Anstrengung stützte Charly sich vom Boden ab. Langsam stand er auf. Während er in gebückter Haltung stand, fuhr er sich durch seinen Bart, der wie seine langen, krausen und weißen Kopfhaare mit Blut durchtränkt war. Einige seiner Haare am Hinterkopf waren leicht versenkt.

    Ein junger Polizist, der eine große Flügellanze mit geschärfter Spitze in der einen, und einen Notizblock mit einer Strichliste in der anderen Hand trug, ging an ihm vorbei und blickte ihn enttäuscht an.

    »Schade, jetzt muss ich dich tatsächlich von der Liste streichen. Ich hätte nie gedacht, dass du es noch alleine schaffst. Ich darf nie niemanden aufspießen. Das ist total ungerecht! Voll unfair!«, sagte der junge Mann und ging zu einem der schwarzen Polizeiwagen, der von der Form her wie ein großer Leichenwagen aussah.

    Das laute Weinen des Vaters riss Charly aus seinen Gedanken. Der Mann war ohne seine Frau zur Unfallstelle zurückgekehrt. Charly blickte auf das kleine Mädchen von vorhin. Zunächst konnte er sie nicht erkennen. Der schwarze Rauch verdeckte die Sicht. Als die Polizisten den Brand langsam unter Kontrolle gebracht hatten, entdeckte Charly schließlich das kleine Mädchen. Sie bewegte sich nicht mehr. Ihr Kopf hing regungslos nach unten. Charly schaute sich erneut nach dem Vater um, doch dieser war wieder verschwunden. 

    Charly zog behäbig sein verbranntes, mit Blut durchtränktes und mit Löchern durchsetztes Shirt aus, welches eigentlich einen leicht schwachen, ausgewaschenen Grünton hatte. Die meisten Menschen, außer den Polizisten, trugen grüne Kleidung, wobei der Grünton ein sehr schwacher, verblasster war. Auch Charly trug eine mintgrüne Jeanshose und ein leicht verblichenes grünes Shirt.

    Das Blut klebte an seinem Körper, so dass er große Mühe hatte sein Shirt von sich zu streifen. Als er nach langen Sekunden zumindest diesen Kampf für sich entscheiden konnte, versuchte er das restliche Blut von seinem Körper zu wischen. Auf seiner unversehrten, grau behaarten Brust kam langsam ein Buchstabe zum Vorschein. Ein großes, grünes „M" war dort eintätowiert. Charly entdeckte diese Markierung auf seinem Körper nicht und wurde erst darauf aufmerksam, als ein älterer Polizist sie wahrnahm und ihn darauf ansprach.

    »Huch. Was seh‘ ich denn da? Sind Sie etwas unser Arzt, den wir seit gestern suchen?«

    Charly schaute den Polizisten verwirrt an.

    »Woher haben Sie dieses Zeichen?«, fragte der Polizist erneut und berührte das grüne „M".

    Charly blickte an sich herunter und entdeckte den Buchstaben. Er schwieg und versuchte, sich daran zu erinnern.

    »Sprechen Sie kein Deutsch, oder was ist los? Wir sind hier in Alt-England, in dem Land, in dem man Deutsch spricht! Oder sind Sie stumm? Verdammt, ist das heute ein stressiger Tag!«

    »Nein. Ich kann sprechen. Ich weiß aber nicht, was es bedeutet. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, sagte Charly ermüdet und griff sich an seinen noch leicht blutenden Hinterkopf.

    »Sind Sie denn in der Lage, eigenständig zu laufen und zu leben?«

    Charly blickte den Polizisten eine Weile verblüfft an. Danach nickte er zweimal.

    »Gut. Dann dürfen wir Sie auch mit ins Schloss nehmen! Ich weiß nicht mehr genau, ob Ärzte auch automatisch würdig sind und man ihnen helfen darf. Ich möchte hier nichts riskieren. Der Rat der Obersten ändert in letzter Zeit so oft die Zusatzgesetze, dass hier kaum noch einer mitkommt. Ich werde das eben mit meinem Truppenführer absprechen. Sie kommen dann mit uns. Das ist der Mann mit dem schwarzen Helm dort hinten. Truppenführer, Captains und der König tragen schwarze Helme. Vermutlich wissen Sie das auch nicht mehr, oder?«, fragte der Mann nun mit einem Lächeln und einen verständnisvollen Ton in seiner Stimme.

    Charly schaute den älteren Mann ratlos an, nickte ihm aber erneut zu.

    Der Polizist war neben der älteren Dame einer der wenigen Menschen, die wesentlich älter wirkten als 30 Jahre. Charly sah, wie der Polizist zu seinem Truppenführer ging und dass beide über ihn redeten und gestikulierten. Der Truppenführer nahm seinen schwarzen Helm ab. Es handelte sich bei der Person um einen groß gewachsenen, sehr jungen Mann, der nicht älter als 18 Jahre alt war. Von weitem blickte er auf Charlys Brustmarkierung und näherte sich dem alten Mann strammen Marsches. Wie alle Polizisten trug er einen Handschuh und wischte damit das rechtliche Blut von Charlys Brust, um die ganze Markierung zu erkennen. Er musterte Charly gründlich.

    »Tatsächlich. Da hast du wohl recht«, sagte er zu seinem Kollegen.

    »Woher haben Sie den Dienstgrad?«, fragte der Truppenführer in einem Befehlston.

    Charly schaute ihn ratlos an.

    »Der Mann hat vermutlich sein Gedächtnis verloren. Das sagen zumindest die Zivilisten, die ich eben befragt habe«, sagte der ältere Polizist.

    Charly schaute sich das Gesicht des Truppenführers näher an. Er erkannte nur einen spärlichen Bartwuchs. Sein Gesicht war von starker Akne gezeichnet und seine Stimme erinnerte an die eines Jungen kurz nach dem Stimmbruch.

    »Das muss er wohl sein. Ruf‘ im Schloss an und informiere den König und den Präsidenten darüber, dass wir ihn gefunden haben. Such Captain Epi und bring ihn hierher! Der weiß bestimmt Näheres«, befahl der Truppenführer dem älteren Polizisten.

    »Sie kommen mit uns mit! Man sucht im Schloss schon die ganze Zeit nach Ihnen!«

    Charly nahm die Worte nur noch verschwommen war. Er fasste sich an den Hinterkopf und war kurz davor das Bewusstsein zu verlieren. Mit letzter Kraft versuchte er, dem Truppenführer zu folgen und sich in einen der Polizeiwagen zu retten, so dass sie ihn nicht zurücklassen würden. Charly wollte mit seinem ganzen Willen in dieses ominöse Schloss gelangen.

    ***

    Im Wagen angekommen, setzte er sich neben den Truppenführer, der ihn erkannt hatte, in den hinteren Bereich des umfunktionierten schwarzen Bestattungswagens.

    »In so einem Teil liegen doch eigentlich die Leichen der Verstorbenen«, dachte sich Charly. So war es zumindest in seiner Kindheit. Daran konnte er sich noch erinnern.

    Er sah wie ein großer schlaksiger Mann mit einem langen Zopf auf ihn zukam. Der Mann war größer als die anderen Polizisten und nur ein wenig kleiner als Charly. Er trug eine weiße Uniform aber keinen Helm. Der Truppenführer zog Charly aus dem Wagen und ging mit ihm auf den Mann zu. Die beiden und der ältere Polizist, der Charlys Markierung entdeckt hatte, salutierten vor dem Mann, indem sie ihm die Mittelfinger zur Begrüßung entgegenstreckten. Charlys ahmte diese Bewegung unbewusst nach, als ob er sie bereits kannte und schon mehrmals ausgeführt hatte. Sie standen stramm vor dem Mann, der relativ teilnahmslos und locker wirkte, so als ob ihm die Situation nichts anging.

    »Captain Epi, Sehen Sie wen wir gefunden haben!«

    Der Captain inspizierte Charly mit seinen grünen, leicht schlitzförmigen Augen und zündete sich währenddessen eine Zigarette an. Die Haare des circa 40 Jahre alten Captains waren rotbraun und seine Haut war braungebrannt. Er hatte spitze Ohren, wobei sein rechtes mit tiefen Narben übersät und das Ohrläppchen komplett abgerissen war.

    »Da bist du ja endlich! Wir haben alle nach dir gesucht! Wir hätten nicht gedacht, dass du so weit kommen würdest! Nicht schlecht für einen 59 Jahre alten Mann. Steig ein!«, sagte der Captain mit einem Grinsen. Charly spürte indes, dass er langsam ohnmächtig werden würde und stieg wieder in den hinteren Bereich des Wagens. Er bemerkte noch, wie der Captain eine gelbe Sirene auf dem Dach des Wagens befestigt und sich auf den Beifahrersitz gesetzt hatte.

    Der Captain und der ältere Polizist, der sich als Fahrer herausstellte, saßen vorne. Der Truppenführer setzte sich in den hinteren Bereich des Wagens, wo Charly sich bereits erschöpft hingelegt hatte.

    »Ich bin müde und muss etwas schlafen. Darf ich die Augen schließen und mich ausruhen?«, fragte Charly den jungen Mann ängstlich und legte sich hin.

    »Wenn Sie gleich wieder aufwachen und alleine aufstehen können, ist das kein Problem. Ich werde Ihnen dann aber nicht helfen können«, sagte der Truppenführer. Der Captain drehte sich nach hinten und schaute die beiden an.

    »Du Idiot! Er ist Arzt. Und im Moment sogar unser einziger, seitdem Hitler tot ist. Wir brauchen ihn. Klar hilfst du ihm! Oder willst du, dass wir bald ohne Arzt dastehen?«

    Charly nahm die Worte des Captains nicht mehr war. Er war bereits eingeschlafen.

    C

    Nach 30 Minuten wurde Charly durch mehrere laute Rufe und Schreie aus seinem Schlaf gerissen. Er hatte immer noch starke Kopfschmerzen, wobei der brennende Schmerz am Rücken nachgelassen hatte. Er versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Durch den beißenden Benzingeruch und den modrigen Gestank der Sitzpolster registrierte er, dass er sich immer noch im hinteren Bereich des Polizeiwagens befand. Er versuchte, neben sich zu blicken, doch er wurde durch das grelle Licht der Sonne so stark geblendet, sodass er mehrmals krampfhaft blinzelte. Erst danach registrierte er, dass der Truppenführer verschwunden war. Die hintere Tür des Bestattungswagens war weit aufgerissen.

    Charly hörte wie zwei Männer sich draußen lauthals anbrüllten. Mühevoll kletterte er aus dem Wagen und trat dabei mit seinen weißen, löchrigen Turnschuhen auf einen Gegenstand auf dem Boden, der dabei zerbrach. Es handelte sich um die gelbe Sirene vom Dach des Wagens, die in mehrere Glassplitter zerschellt war. Die Splitter hatten sich aber, wie durch ein Wunder, nicht in sein Fleisch gebohrt.

    Draußen angekommen, sah er was passiert war. Der Polizeiwagen war mit einem Baum kollidiert und die Motorhaube wurde dabei stark eingedrückt. Die Tür der Beifahrerseite war durch mehrere dicke Äste, an denen Blut klebte, durchbohrt. Charly blickte auf einen besonderen Strauch des kleinen Laubwaldes, der direkt an den Baum gewachsen war, mit dem der Wagen kollidiert war. Dort sah er einen Strauch mit rot-orangenen Rosen, die mit spitzen schwarzen Stacheln bestückt waren. Daneben befand sich ein Erdbeerstrauch. Charly erinnerte sich an die helle, rötliche Farbe und als er den frischen Erdbeerduft der angrenzenden Erdbeersträucher roch, verspürte ein warmes Kribbeln in seinem Bauch, das ihn an schöne Tage während seiner Kindheit erinnerte.

    Als er gerade eine Erdbeere pflücken und diese vernaschen wollte, hörte er einen lauten Schrei. Charly ließ die Erdbeere auf den Boden fallen und ging einige Schritte um den Baum herum.

    Der Captain und der junge Truppenführer befanden sich unweit des Baumes. Sie schrien sich bedrohlich und wild gestikulierend an. Der Captain kniete mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden, während der junge Polizist neben ihm stand und ihn permanent anschrie.

    »Dass er das Bewusstsein verloren hat, war alleine Ihre schuld! Nur wegen Ihnen sind wir letztendlich von der Straße abgekommen und in dieser verdammten Lichtung gelandet. Um Sie zu schützen, hat er sich dazwischengeworfen und wurde mit dem verschmutzten Messer des Rebellen von letzter Woche verletzt. Sie wussten, dass seine Wunde sich immer mehr infiziert hatte. Deshalb ist er ohnmächtig geworden. Und jetzt wollen Sie, dass ich Ihnen helfe?! Er war mein Onkel und es ist Ihre Schuld, dass er tot ist. Und es ist nur gerecht, wenn Sie jetzt auch verbluten!«

    Im Hintergrund waren die Rufe von Krähen zu hören, die das Szenario von den Baumwipfeln aus beobachteten. Charly blickte auf eine klaffende Fleischwunde am Bauch des Captains und begab sich zur Fahrertür des Wagens, ohne dass die beiden Männer ihn wahrnahmen. Der Fahrer saß leblos auf seinem Sitz. Seine Augen waren weit aufgerissen und seine Hände umschlungen das Lenkrad. Er trug keine Handschuhe. An der Außenfläche der rechten Hand des Mannes bemerkte Charly eine große eitrige Wunde. Charly begab sich zurück zu den anderen beiden Männern und sah, wie sich der junge

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