Was richtig ist
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Über dieses E-Book
Die meiste Schutzengel machen ihre Arbeit gut.
Cassiel macht sie richtig.
Das erste Buch aus dem #engelcontent-Universum!
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Buchvorschau
Was richtig ist - Sebastian Kalkuhl
Was richtig ist
Was richtig ist
Impressum
Widmung
Prolog
Erster Akt
1
2
3
Zweiter Akt
4
5
6
7
8
Dritter Akt
9
10
Epilog
Charakterübersicht
Danksagung
Über den Autor
Was richtig ist
Sebastian Kalkuhl
Impressum
Texte
© Sebastian Kalkuhl
1. Auflage 2019
ISBN Print 978-3-7467-7254-7
Cover
© Robyn van Haase
robyn.vanhaase.de
Layout und Satz
© Cay Jakob Rahn & Nanouk Sebastian Helzle
Lektorat
Lydia Jablonski
www.LydiaJablonski.de
Verlag
Sebastian Kalkuhl
Unnaer Straße 7
59439 Holzwickede
info@sebastiankalkuhl.de
Widmung
Für meine Hunde. Es war immer richtig gewesen, dieses Buch zu veröffentlichen.
Prolog
Dienstag, 1. September
2 Monate vorher
Da war der Glimmer wieder. Er hing mitten in der Einfahrt, entzog sich jeder Beschreibung und brachte das Gefühl mit sich, dass hier etwas Seltsames geschehen war. Sam blieb stehen, um einen genaueren Blick darauf zu bekommen, blinzelte; da war nichts mehr. Martin unterdessen ging seelenruhig durch die Stelle hindurch, an der sich der Glimmer vielleicht befunden hatte, weder er noch die alte Dame hinter ihnen dürfte ihn überhaupt mitbekommen haben. Es würde keinen Sinn ergeben, sie darauf anzusprechen.
»Kommst du?«, rief Martin von seinem Auto aus herüber.
Sam nickte, verabschiedete sich noch einmal von der alten Dame und beeilte sich, einzusteigen.
»Das ist im Grunde alles, was du machen musst«, erklärte Martin kaugummikauend, noch während er sich anschnallte. Direkt beim Verlassen des Hauses hatte er eine gelangweilte bis genervte Miene aufgesetzt und sich offenkundig nicht darum geschert, dass ihn die Dame noch hatte sehen können. Jetzt gab er Gas, minimal über der Geschwindigkeitsbegrenzung, und Sam erwischte sich erneut beim Gedanken, dass es anders fahren würde. »Du kennst die Route ja jetzt, du bringst den alten Leuten Essen vorbei, unterhältst dich noch ein bisschen nett, lächelst und das war’s dann auch schon.«
Sam nickte. »Klingt machbar.«
»Grade eben so.« Martin grinste und bog auf die Hauptstraße. »Manche von denen nerven ein bisschen. Sind alleinstehend, Ehemann ist gestorben, haben sonst keinen zum Reden, das Übliche halt. Die brauchen das bisschen mehr Zeit, das du eigentlich nicht hast, wenn du nicht hetzen willst. Aber sonst...«
»Ich werd schon klarkommen«, erwiderte Sam und hoffte, das Thema damit erledigt zu haben.
»Da hab ich auch keinen Zweifel dran«, sagte Martin. »Hast du heute Abend noch was vor? Ich mein, wir haben jetzt ja technisch gesehen Feierabend und noch sind die ganzen Kneipen nicht brechend voll, da könnten wir ja theoretisch...« Er kommunizierte das Ende des Satzes über wildes Gestikulieren, sodass er einen Moment lang keine Hand mehr am Lenkrad hatte.
Sam zögerte eine Weile und versuchte ihn zu lesen. Die gesamte Fahrt über hatte er sich nicht direkt unsympathisch benommen, von kleinen, bissigen Kommentaren manchmal abgesehen, aber die wenigsten Leute, die einem wirklich etwas Böses wollten, benahmen sich auch so. ›Andererseits‹, dachte es, ›ich kann auf mich aufpassen, mir passiert schon nichts. Und ich war seit Ewigkeiten nicht mehr abends unterwegs.‹
Es unterdrückte ein leichtes Seufzen, mehr von sich selbst genervt als von der Frage, an der es für seinen Geschmack schon viel zu lange herumüberlegte. »Wenn du uns was Vernünftiges findest, dann ja.«
Martin warf einen Seitenblick zu Sam hinüber, der sehr deutlich fragte, ob es das ernst meinte. So selbstbewusst, wie der Kerl fuhr, wie er auftrat und wie er seine Haare trug – manche Frisuren sagten zuverlässiger einen bestimmten Typ Mensch voraus als andere und die hier gehörte zu Ersterem – wunderte es Sam nicht, dass er sich auskannte. Wahrscheinlich ging er jede zweite Woche mit einem großen, aber losen Freundeskreis feiern. Gerne inklusive ein paar junger Frauen, die sie irgendwo kennengelernt hatten, und für die er Sam wahrscheinlich gerade hielt. So gesehen eine schöne Abwechslung, nachdem die letzten drei älteren Menschen es immer einen »netten jungen Herren« genannt hatten. Beide Parteien lagen falsch mit ihrer Annahme, aber seitdem Sam sich vorgenommen hatte, diese Tatsache nur noch dreimal pro Tag Leuten erklären zu wollen, hielt sich das Maß an Diskussionen darüber in einem recht angenehmen Rahmen. Den Rest schluckte es, je nach Tagesform auch mit Fassung.
Es zwang sich zu einem Grinsen, obwohl ihm nach dem Gedankengang nicht mehr wirklich danach zumute war. »Du findest uns ’ne Bar.«
»Gerne auch mehrere.«
»Mal sehen.«
Martin bog links ab, fuhr gefühlt durch zwanzig Seitenstraßen und fünfmal durch dieselbe, bis Sam nicht mehr zweifelsfrei sagen konnte, ob es sich hier einfach nicht genug auskannte oder Martin wirklich keine Ahnung hatte, wo er hinwollte. Ausgehend vom bisherigen Weg war seine Orientierung definitiv nicht die allerbeste, aber offensichtlich noch ausreichend für einen Job, der viel Fahren beinhaltete.
»Ich fahr’ noch kurz tanken«, erklärte Martin nach einem Moment. »Dann eben zu mir und danach können wir los.«
›Dass ich vielleicht auch nach Hause will, vergisst du‹, dachte Sam. ›Schlechter Stil.‹
Martin fuhr an den nächsten drei Tankstellen gekonnt vorbei, die ihm offenkundig zu voll vorgekommen waren, bis er schließlich eine fand, bei der er nicht »Ewigkeiten stehen« musste. Dass das Benzin hier zufällig auch teurer war, war ihm entweder entgangen, der Job zahlte sich wirklich gut aus oder er hatte Eltern im Hintergrund, die ihm das Auto finanzierten.
»Ich komm sofort wieder«, erklärte er, kaum dass der Wagen stand und war kurz darauf schon ausgestiegen.
Sam seufzte, lehnte sich zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Egal, was der Kerl noch vorhaben mochte, allzu lange würde es mit Sicherheit nicht bleiben. Erstens war es aus welchen Gründen auch immer seit fünf Uhr morgens wach, zweitens kannten sie sich längst nicht gut genug für ausgiebiges Feiern bis zum Morgengrauen und drittens hatte es heute Abend nach wie vor geplant, zu zeichnen. Seine Linienführung war furchtbar, wenn es getrunken hatte.
»Geh nicht mit ihm mit.«
Sam für nur ein wenig zusammen und öffnete die Augen wieder. Für den ganz großen Schrecken passierte das zu oft.
Es drehte sich langsam um. Auf dem Rücksitz saß jemand Fremdartiges, der erkennbar nicht hierhergehörte. Sam kannte sein Gesicht, die verwuschelten braunen Haare und die leuchtend grünen Augen. Vor allem wegen Letzteren wollte es sich für den Gedanken, die Person sei nicht von dieser Welt, nicht sofort für verrückt erklären. Die Sache sollte ihm mindestens Sorgen machen, doch es wusste, er hatte recht.
»Bitte, geh nicht mit ihm mit«, wiederholte der Fremde und klang leicht außer Atem. Merkwürdig, dass Sam das hören konnte, seine gesamte Erscheinung ließ keinen Makel zu.
»Was ist falsch an ihm?«, fragte es wie jedes Mal. Wie bei dem Serienmörder, bei dem es im Taxi gesessen hatte, dem Vergewaltiger in der fast leeren Bahn, dem Kerl, der es auf dem Weg nach Hause überfallen hätte, hätte es den üblichen Weg genommen.
»Er wird dich nicht verstehen«, erwiderte der mehr oder weniger ungebetene Gast. »Er kann Personen wie dich nicht leiden, die nicht in sein Weltbild passen. Er glaubt, sie würden sich ihre Identität ausdenken, lügen, Aufmerksamkeit wollen und er wird sich einen Spaß daraus machen, dir das vorzuhalten.«
›Na wundervoll.‹ »Soll heißen, wenn ich mich oute, lacht er mich erst aus und schlägt mich zusammen, wenn ich Pech habe.«
Der bekannte Fremde nickte. »Geh nicht mit ihm mit.«
Sam warf kurz einen Blick nach draußen. Martin war gerade mit Bezahlen fertig geworden und schon wieder auf dem Weg zurück zum Auto. »Danke für die Warnung.«
Die Person antwortete nicht. Sam wandte den Kopf, die Rückbank war leer. Nur der seltsame Glimmer lag wieder in der Luft, deutlicher als vorher und trotzdem kaum mehr als ein Hirngespinst.
Die Fahrertür ging auf, Martin setzte sich wieder. Martin, der sympathisch war – zu Leuten, die in sein Weltbild passten. Mit dem man sich wohl gut unterhalten konnte – wenn er nicht gerade dabei sein würde, zu erklären, weshalb er sein offensichtlich existentes Gegenüber nicht für existent hielt. Und mit dem Sam von jetzt auf gleich nicht mehr in einem Auto sitzen wollte.
Es griff instinktiv zum Handy und setzte das beste gestresste Gesicht auf, zu dem es fähig war. Alles schon tausendmal gemacht. »Ich glaub, ich muss dir absagen«, erklärte es, bevor der Kerl auch nur dazu kam, die Handbremse zu lösen.
Martin fror mitten in der Bewegung ein und sah einigermaßen verwirrt, beleidigt und ein kleines bisschen sauer aus. »Was hab ich verpasst?«
»Ich…« ›Übliche Ausrede. Zieht bei den Menschen mit der Frisur immer.‹ »Freundin hat grade mit ihrem Freund Schluss gemacht. Und bevor die den ganzen Abend alleine bleibt und irgendwas anstellt…«
Martin nickte so schnell, dass Sam ihm unterstellen musste, gar nicht an den Details interessiert zu sein, die es sich noch hätte ausdenken müssen. »Ich versteh schon«, sagte er. »Darf ich dich wenigstens noch irgendwohin bringen?«
»Passt schon, sie wohnt nicht weit weg. Das Stück kann ich zu Fuß gehen.«
Das Letzte, was es noch von ihm mitbekam, war ein gemurmeltes »Frauen…«, ehe es die Beifahrertür zuknallte und sich mit schnellen Schritten auf in die Richtung machte, in der es die nächste Straßenbahnhaltestelle vermutete.
›Wenn du mir so kommst, dann hätte ich mich gar nicht outen müssen um zu merken, dass du und ich nicht zusammenpassen‹, dachte Sam bei sich und schüttelte den Kopf. Da hatte es doch lieber sein Date mit der Leinwand.
Zwei Tage später tauchten auf den Titelseiten der Zeitungen Bilder von Personen auf, die eine Gruppe Leute zusammengeschlagen haben sollten. Einen der Verdächtigen erkannte Sam wieder.
Erster Akt
1
Montag, 16. November
eine Stunde später
Sie hatten den Anstand gehabt, seine Wunden zu versorgen. Sie hatten nicht den Anstand gehabt, ihm zu sagen, wohin sie ihn im Anschluss brachten, aber etwas anderes als das Gericht kam nicht in Frage. Das Einzige, was Cassiel entsprechend interessieren sollte, war ob sie ihn noch anhörten oder gleich hinrichteten, aber das kümmerte ihn nicht. Seine Gedanken waren immer noch da unten, immer noch auf der Erde.
›Ich habe das Richtige getan‹, dachte er. ›Ich habe immer das Richtige getan.‹
Die beiden Soldaten, die ihm, kaum dass er wieder im Himmel angekommen war, erst Handschellen angelegt und ihn dann an der Schulter gepackt hatten, führten ihn mitten in das größte Gebäude im Himmel. Vorbei an den Treppenstufen zu den Balkonen, von denen die öffentlichen Urteile gesprochen wurden – immerhin das blieb ihm erspart. Aber selbst dann hätten ihn einfach nur mehr Leute gehört.
›Ich habe das Richtige getan.‹
Sie brachten ihn weiter ins Innere des Gebäudes, blieben aber rechtzeitig stehen, bevor sie die Zellen erreichten, in denen die Todeskandidaten auf ihr Schicksal warteten. Einer der Soldaten klopfte an die Bürotür vor ihnen, unter dutzenden identischen scheinbar zufällig ausgewählt. Ein Schild rechts an der Wand gab Cassiel Auskunft darüber, bei wem er jetzt landen würde.
Jehudiel, stand da. Erzengel. Oberster Richter.
Besagte Person öffnete nur einen Moment später. Er trug die üblichen schwarzen Richterroben, die dunklen Haare sorgfältig im Nacken zusammengebunden und musterte Cassiel aus ebenso dunklen Augen hinter Brillengläsern. Er wirkte übermüdet und überarbeitet, und ließ trotzdem keinen Zweifel daran, dass er seine Arbeit tun würde. Im Namen Gottes zum einen, im Namen der Erde zum anderen.
»Tretet ein, bitte«, sagte Jehudiel, ging selbst einen Schritt zur Seite und setzte sich hinter den Schreibtisch, der fast die Hälfte des Raums einnahm. Die andere war mit Akten, Schränken und Bücherregalen zugestellt, ein einziges Chaos auf den ersten Blick, aber auf den zweiten erkannte Cassiel das System dahinter. »Und nehmt ihm die Handschellen ab.«
Die Soldaten befreiten ihn von den schweren Ketten. Das Metall und die Kraft, mit der es infundiert worden war, damit er sich ja nicht losreißen konnte, waren hier wohl nicht mehr nötig. Die Richter besaßen ganz eigene Möglichkeiten, um ihre Angeklagten an der Flucht zu hindern.
»Lasst uns jetzt allein«, fuhr Jehudiel seelenruhig fort an die Soldaten gewandt und schien Cassiel für den Moment noch gepflegt zu ignorieren. »Ich lasse jemanden rufen, wenn wir hier fertig sind. Und schickt mir Remiel her.«
Die beiden nickten knapp, einen Moment später schloss sich die Tür wieder und ließ Cassiel allein mit dem Richter. Der Gedanke kam auf, dass er zumindest versuchen könnte sich zu wehren, doch weit würde er nicht kommen. Einen Großteil seiner Kraft hatte er auf der Erde verbraucht und was noch übrig war, würde gegen einen Erzengel nicht reichen. Sie standen in der Hierarchie lediglich knapp über Cassiel, doch hatten sie nur ihren Rang und Namen aufgegeben, als sie sich dem Schutz der Erde verschrieben hatten – nicht etwa ihre Macht.
Jehudiel stieß einen tiefen Seufzer aus, dann bedeutete er Cassiel, sich ihm gegenüber auf einen unbequem wirkenden Stuhl zu setzen. »Fangen wir an.«
»Werde ich hingerichtet?«
»Selbst wenn ich das schon wüsste, würde ich mich trotzdem noch mit dir unterhalten wollen«, erwiderte der Richter. »Du bist kein Soldat, das hier ist nicht das Kriegsgericht. Jeder Engel hat das Recht auf einen fairen Prozess und eine Anhörung, so sehr er sich auch versündigt hat.«
›Erstaunlich, wie leicht du das sagen kannst, nachdem ihr erst vor sechshundert Jahren Engel einfach in die Hölle gestoßen habt‹, dachte Cassiel bei sich. ›Aber Gott den Rücken zu kehren ist etwas anderes.‹ »Ich habe mich nicht versündigt, ich habe nur meine Arbeit getan.«
Jehudiel schwieg daraufhin sehr eisern und nahm sich die oberste Akte auf dem Stapel neben sich. Blätterte einmal kurz darin, legte sie weg und wiederholte das Ganze noch dreimal, ehe er die Richtige gefunden zu haben schien. Cassiel beugte sich leicht vor, in der Hoffnung, erkennen zu können, worum es da ging, aber außer seinem Namen konnte er nichts lesen. Das half ihm auch nicht zu neuen Erkenntnissen.
»Du heißt Cassiel?«, fragte der Richter schließlich.
»Ja.«
»Alter?«
»1463.« Nicht alt für einen Engel.
Jehudiel hob eine Augenbraue und wirkte so, als würde das Dinge erklären. Jugendlicher Leichtsinn oder was auch immer, Cassiel wollte es gar nicht so genau wissen. »Beruf?«
»Schutzengel.«
Jehudiel nickte sehr langsam und mit gerunzelter Stirn, machte sich eine Notiz in der Akte vor ihm und kommentierte das nicht weiter. »Dir ist bekannt, weswegen du hier sitzt?«
»Ja«, erklärte Cassiel, konnte das so aber unmöglich stehenlassen. »Aber ich musste das alles tun, es war richtig. Schutzengel tun immer das Richtige.«
Wieder bekam er eisernes Schweigen als Antwort. Dieses Mal gemischt mit einer unterschwelligen Erklärung, dass Jehudiel das bitte für sich allein entscheiden wollte.
»Diese Anhörung dient dazu, dass ich mir ein Bild von den Dingen machen kann, die passiert sind«, erklärte der Richter. »Sie soll mir helfen, ein gerechtes Urteil zu fällen. Ich bitte dich darum, die Wahrheit zu erzählen, sie nicht zu verdrehen und keine wichtigen Details auszulassen. Wenn du das Richtige getan haben solltest, dann werden mich nichts weiter als die tatsächlichen Ereignisse davon überzeugen können.«
»Ja«
»Schwörst du in Gottes Namen, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts anderes als die Wahrheit?«
»Ich schwöre. In Gottes Namen.«
»Gut.« Mit einem erneuten Seufzen schloss Jehudiel die Akte vor sich, nahm mehrere leere Blätter Papier und einen Stift, schrieb eine Überschrift und wartete dann kurz ab, als sollte Cassiel ihm jetzt diktieren, wie es weiterging. »Was ist, grob zusammengefasst, deine Aufgabe als Schutzengel?«
»Ich denke, das wisst Ihr längst.«
»Ich hätte es spätestens in den letzten Tagen erfahren, ja«, erwiderte Jehudiel ein kleines bisschen gereizt. Nicht auszuschließen, dass er unter anderem wegen Cassiel so müde aussah. »Aber ich würde es gerne von dir persönlich hören. Was ist deine Aufgabe als Schutzengel?«
»In Gottes Auftrag über meinen schutzbefohlenen Menschen zu wachen, auf ihn zu achten und vor Gefahren zu bewahren.« Die Worte beherrschte Cassiel im Schlaf. Es würde ihn wundern, könnte es auch nur einer seiner Kollegen nicht. »Und das habe ich getan.«
»Hattest du einen schutzbefohlenen Menschen?«
›Hatte.‹ Das Wort versetzte ihm einen Stich. »Ja. Sam.«
Jehudiel notierte. »Wie sieht die Beziehung eines Schutzengels zu seinem Menschen aus?«
»Der Schutzengel kennt das Leben seines Menschen besser als jeder andere. Er begleitet ihn ab dem Moment seiner Geburt. Er erlebt jeden wichtigen Moment seiner Entwicklung mit, auch dann, wenn sonst niemand da ist. Ein Schutzengel weiß, wann sein Mensch Schutz benötigt. Und er weiß auch, wann es richtig ist, einzugreifen.«
»Wissen die Schutzbefohlenen von ihren Schutzengeln?«
»Wir zeigen uns in der Regel nicht vor ihnen.«
Jehudiel nickte und schien das alles in Stichpunkten zusammenzufassen. »War das, was du mir gerade erzählt hast, auch bei deinem Menschen der Fall?«
Es half alles nichts. »Nicht… direkt.«
»Erläutere das bitte.«
Cassiel nickte und holte tief Luft. Jetzt erst begann er zu ahnen, dass er ein bisschen länger hier sitzen dürfte.
Donnerstag, 15. Oktober
32 Tage vorher
Kurz nach dem Aufwachen funktionierte Sam noch nicht gut genug für zusammenhängende Flüche. F ür ein paar eindeutige Worte an den Radiowecker gerichtet reichte es trotzdem, ehe es den Arm ausstreckte und provisorisch ein paar Mal öfter auf das bemitleidenswerte Ding schlug, mitten in die Delle hinein, die durch dieses Jahre alte Ritual zwangsläufig hatte entstehen müssen. Gefolgt von der heimlichen Frage, wie lange es wohl noch dauerte, bis es den Wecker dadurch endgültig zerlegte.
Sam grummelte noch etwas vor sich hin, ehe es schließlich aufstand, mehr vom Hunger getrieben als von tatsächlicher Motivation. Nach dem ersten Kaffee würde sich das geben. Oder nach dem fünften. Kam auf den Tag an.
Es ging mehr aus Gewohnheit, denn aus tatsächlichem Willen in die Küche, machte aus reiner Routine die Kaffeemaschine an und ärgerte sich wie jeden Morgen über sich selbst, das Pulver nicht schon gestern Abend in den Filter geschüttet zu haben – sein Hirn war für das Maß an Fingerfertigkeit einfach noch nicht bereit. Während der Kaffee kochte, folgte ein kurzer Abstecher ins Bad inklusive dem üblichen Grusel vor dem eigenen Spiegelbild, der zur Hälfte aus dem Schreck vor dem nicht vorhandenen Ausgeschlafensein bestand und zur anderen aus dem nicht Einsehenwollen, dass das wirklich Sam sein sollte. Immerhin war Letzteres schon schlimmer gewesen.
Zurück in der Küche war Sams erste Amtshandlung, sich dazu zu überreden, die erste Kaffeetasse direkt zur Hälfte wieder zu leeren, um dann wach genug zu sein, das übriggebliebene Brötchen von gestern Abend mit dem zu belegen, was als Nächstes schlecht wurde.
Sam rieb sich kurz die Augen, trank die Tasse leer und füllte sie gleich wieder nach – heute war offenkundig ein Tag, an dem eine allein nicht reichte – ehe es sich zurück auf den Weg ins Wohnzimmer machte, sich aufs Sofa und in eine flauschige altrosa Plüschdecke kuschelte. Es klappte den mittlerweile etwas altersschwachen Laptop vor sich auf, trank den nächsten Schluck Kaffee, aß den ersten Bissen Brötchen und schaute nach, was es Neues gab. Kunst von Personen vom anderen Ende der Welt, Leute, die sich über Dinge aufregten, über die sich Sam auch aufregen würde, hätte es dafür Zeit und Energie, mit ein bisschen Glück Anfragen für Auftragsarbeiten, zwischendurch auch ernsthafte und wichtige Nachrichten – aber nicht zu viele, das deprimierte nur unnötig. Zum Schluss der obligatorische, tägliche und leider notwendige Blick auf Facebook, um nachzusehen, welches Familienmitglied jetzt schon wieder Geburtstag hatte, heiratete, vor Jahren geheiratet hatte, Kinder bekam oder was sonst noch in einem gutbürgerlichen Leben an Ereignissen anfiel.
Mit einem Seufzen überflog Sam einmal alle Statusmeldungen, die aussahen als könnten sie von Belang sein, ehe es die Seite ganz schnell wieder schloss. Hinterher kamen noch Leute auf die Idee, es wollte sich mit ihnen unterhalten. Es griff wieder zur Kaffeetasse, bereit, sich schöneren Dingen widmen- Es klingelte.
»Verdammt noch eins«, murmelte Sam, stellte die Tasse ab, schälte sich mühsam aus der Decke und hastete zur Tür. »Ich hab dem Postboten gesagt, dass ich um die Uhrzeit nicht aufmache.«
Es drückte minimal missmutig auf den Summer, in der Erwartung, die Haustür zwei Stockwerke weiter unten aufgehen zu hören. Stattdessen drang aus der exakt anderen Richtung erst ein sehr unheilvolles Knacken, dann ein Rumsen an Sams Ohren, das es zusammenfahren und spontan beschließen ließ, dass wer auch immer da an der Tür war oder auch nicht, gerade zu warten hatte.
Sam ging ein paar Schritte zurück ins Wohnzimmer, wagte einen vorsichtigen Blick hinein und wunderte sich schon fast nicht mehr. Das an die Wand gehängte Bücherregal hatte gerade offenkundig beschlossen, umziehen zu wollen und sich von seinem angestammten Platz eigenhändig aufs Sofa befördert. Selbstverständlich und wie es anders nicht sein könnte an die Stelle, an der Sam gesessen hätte, wäre es nicht aus seiner Routine gerissen worden.
Es seufzte. Immerhin war nicht auch noch Staub im Kaffee gelandet.
Cassiel schüttelte den Kopf, mehr aus Enttäuschung über sich selbst als darüber, dass Sam diese Situation nicht hatte kommen sehen. Er hatte schließlich gewusst, dass die Wand das Regal nicht halten konnte, spätestens und erst recht dann nicht, als es mit Büchern vollgestopft worden war.
In diesem Haus lebten so viele Menschen, beinahe hätte er die richtige Klingel nicht gefunden, und um diese Uhrzeit brauchte Sam viel länger, um sich zum Aufstehen zu überreden. Sie hatten beide Glück gehabt.
Er setzte sich zurück an den Schreibtisch, atmete tief durch, schloss einen Moment die Augen, auch wenn er nicht glaubte, sich das erlauben zu können. Er war völlig außer Atem, hatte rennen und Regeln außer Acht lassen müssen, aber es war richtig gewesen. Wie immer war es richtig gewesen.
Sam fand es vielleicht ein wenig zu beruhigend, von keinem anderen Möbelstück angegriffen worden zu sein. Ansonsten hätte es seiner Wohnung unterstellen müssen, sich gegen es verschworen zu haben.
Es räumte das Regal nicht weg, sondern setzte sich demonstrativ daneben, trank den Kaffee aus, aß das Brötchen auf und machte genau da mit seiner Routine weiter, wo es aufgehört hatte. Zog sich an, wie immer Jeans, T-Shirt und Kapuzenpullover darüber an, alles schwarz oder in Grautönen. Alles war grau an ihm, seine Augen, selbst seine Haare ein kleines bisschen – sie waren aschblond und ließen Sam in ungünstigem Licht gerne deutlich älter aussehen als es tatsächlich war. Nur die obligatorische Strickmütze, die seine Oma ihm irgendwann zu Weihnachten geschenkt hatte, war dunkelgrün.
›Die einzige Sache von meiner Familie hier‹, dachte es bei sich und fand die Tatsache ganz in Ordnung.
Es seufzte, warf einen kurzen Blick in den Spiegel, richtete die Mütze erst und zupfte sie direkt wieder in die schiefe Position, in der sie vorher gewesen war. Dann griff es sich die Autoschlüssel von der Kommode im Flur und verließ mit schnellen Schritten die Wohnung.
Sam wohnte noch nicht lange hier – sehr wohl aber schon seit gefühlten Ewigkeiten in dieser Stadt, die ihm über die Zeit versehentlich ans Herz gewachsen war. Trotzdem wunderte es sich immer noch jedes Mal, wenn es aus dem Haus trat, dass es erstens nicht gleich von etwas überfahren wurde und zweitens wieder einmal einen Parkplatz hatte finden können, der keine halbe Weltreise entfernt war. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem sich das ganze Glück ins Gegenteil kehren und es ein sehr großes Problem haben würde, aber bis dahin verschwendete es lieber keinen Gedanken daran.
Sams Auto hatte schon vor Jahren bessere Tage gesehen. Das genaue Alter hatte wahrscheinlich nicht einmal der Händler gekannt, und sobald irgendein Teil den Geist aufgab, war es das gewesen. Die Reparatur würde mehr kosten, als das Fahrzeug wert war und Sam glaubte ohnehin nicht, dass es überhaupt noch Ersatzteile gab. Aktuell aber machte es seine Arbeit noch erstaunlich gut, erstaunlich zuverlässig und, auch wenn es nicht danach aussah, auch erstaunlich bequem. Abgesehen von der Tatsache, dass es drei Anläufe brauchte, um zu starten.
Dieses Mal erbarmte sich der Motor schon beim zweiten Versuch. Sam hob eine Augenbraue, erklärte den Tag spontan zu seinem Glückstag und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Der morgendliche Berufsverkehr löste sich gerade wieder auf, wenn Sam unterwegs war. Dennoch gehörte es zu den unausweichlichen Charakteristika von Großstädten und solchen, die es werden wollten, dass der Verkehr zu jeder Tages- und Nachtzeit an eine Katastrophe grenzte. Das kurze Stück über die Autobahn war Sam nur die erste Woche im neuen Job gefahren, denn das hatte sich schnell als Anfängerfehler herausgestellt. Die neue Route war zwar nur marginal schneller, sparte dafür aber gewaltig Nerven.
›Wenn ich was finde, was genauso viel Geld gibt und kein Auto braucht, dann bewerbe ich mich darauf‹, dachte Sam nicht zum ersten Mal, seufzte und nahm hin, dass das hier schon die vierte rote Ampel in Folge war. So viel zum vermeintlichen Glückstag.
Die Ampel schaltete auf grün, und die Autoschlange bewegte sich quälend langsam wieder vorwärts. Sam gab so etwas wie Gas und bereute insgeheim, sich nicht doch noch Kaffee mitgenommen zu haben. Diese Kreuzung war die schlimmste, brauchte mit Abstand am meisten Geduld, und kurz bevor es sie überqueren konnte, schaltete die Ampel wieder um.
»Ist das euer Ernst?«, murmelte Sam, bremste wieder ab und lehnte sich mit der