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Blüten aus Babylon
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eBook485 Seiten6 Stunden

Blüten aus Babylon

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Über dieses E-Book

Eine Leiche im Dachzimmer, die eigene Tochter verschwunden: Zwei Fälle zur gleichen Zeit bringen Inspektor Prancock ans Limit.

Der Tote war Mitglied im "Bund der Asketen", einer Glaubensgemeinschaft, die Verzicht und Bescheidenheit predigt. Bei der gerichtsmedizinischen Obduktion stellt sich jedoch heraus, dass der vorgebliche Asket kurz vor seinem Ableben noch Gänsebraten genossen hatte!

Im Rahmen seiner Nachforschungen entdeckt Prancock mehr und mehr Ungereimtheiten und gerät schließlich in eine mörderische Falle.

Jasmin Prancock, die Tochter des Inspektors, hat die Nase voll davon, im Leben ihres Vaters immer nur die zweite Geige neben der Kripo zu spielen. Sie beschließt, ihren Eltern eine Lektion zu erteilen. Die Botschaft ist eindeutig: "Kümmert Euch erst mal um den Fall Eurer verschwundenen Tochter!" Um ihr Auffinden zu erschweren, führt Jasmin ihre Eltern mit einem Krimirätsel in die Irre.

Doch das Ablenkungsmanöver befördert sie unversehens in Lebensgefahr.

Die Schlinge um die Familie Prancock zieht sich langsam zu, die Ereignisse überschlagen sich, die Zeit wird knapp. Und als schließlich alle Fäden zusammen laufen, muss sich Inspektor Prancock entscheiden, was ihm mehr bedeutet: die große Karriere oder das Wohl seiner Familie.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum15. Apr. 2016
ISBN9783741803765
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    Buchvorschau

    Blüten aus Babylon - Günther Klößinger

    epubli Berlin

    Blüten aus Babylon

    Günther Klößinger

    Umschlaggestaltung: www.kreatyv.de

    Copyright: © 2016 Günther Klößinger

    published by: epubli GmbH, Berlin

    Inhalt

    Jetzt schlägt’s dreizehn! – Prancock endlich im Einsatz ...

    Ortstermin

    Mittwoch

    Donnerstag

    Freitag

    Samstag

    Sonntag

    Montag

    Dienstag

    Mittwoch

    Gründonnerstag

    Karfreitag

    Samstag

    Ostersonntag

    Ostermontag

    Dienstag

    Für Giuliana und Yann

    ... auch wenn ihr dieses Buch erst in einigen Jahren lesen könnt.

    Als ich mit der Arbeit daran begann, wart ihr noch nicht einmal eine Idee – nun seid ihr das größte Geschenk meines Lebens.

    Jetzt schlägt’s dreizehn! – Prancock endlich im Einsatz ...

    Das geschäftige „Clickety-clack der Computertastatur erfüllt das Dachatelier, bis der Ringfinger entschlossen „Punkt tippt. Mit einem Male liegt Stille über dem Raum. Ich greife zur Kaffeetasse, nippe an dem mittlerweile nur noch lauwarmen Gebräu und lasse den letzten Absatz nochmals Revue passieren.

    Ein merkwürdiges Gefühl: Meine Arbeit an „Blüten aus Babylon" ist tatsächlich beendet. Einerseits fühlt es sich sehr befriedigend an, ein Werk abzuschließen, andererseits schwingt doch auch ein bisschen Wehmut mit. Man hat mit den Figuren der Geschichte für längere Zeit quasi zusammengelebt, mit ihnen gefiebert, gelitten und gelacht. So manche schließt man als Autor ins Herz, andere schreibt man ohne Gewissensbisse wieder aus der Geschichte hinaus. Gerade Charaktere, die man über die Zeit des Schreibens hinweg besonders lieb gewonnen hat, entfalten zuweilen eine Art Eigenleben und entwickeln sich etwas anders, als man ursprünglich geplant hatte. Und so ist der letzte Punkt eines Romans auch immer ein wenig wie der Abschied von guten Freunden.

    Ich springe zurück an den Anfang des Textes: „Die Leiche lehnte, auf den linken Ellenbogen gestützt, in einer Ecke des winzigen Zimmers. Trotz meines noch immer leicht melancholischen Gemütszustandes muss ich doch ein wenig lächeln. Auch wenn ich es kaum fassen kann – es ist tatsächlich rund dreizehn Jahre her, dass ich, aus einer spontanen Laune heraus, diesen Satz in meinen alten Computer tippte. In diesem Moment hatte ich noch keinen konkreten Plan für die ganze Geschichte und doch begann sie in mir zu rumoren. Umgehend tauchte vor meinem inneren Auge ein ziemlich launischer Brite auf, der den Toten musterte, und schon hatte mein Ermittler das Licht der literarischen Welt erblickt. Zunächst schrieb ich einfach drauflos und bemerkte bald, dass der Stoff für ein längeres Werk reichen könnte. Ich weiß nicht mehr genau, an welcher Stelle der Story mein ursprünglicher Schreibrausch anfing, sich in konzentrierte und zielgerichtete Arbeit mit Recherchen, inhaltlichen Tüfteleien und durchtippten Nächten zu verwandeln. In jedem Fall war es eine höchst interessante Erfahrung, wie mich die anfänglich spontane Idee packte und im Laufe eines Jahres ein kompletter Kriminalroman entstand. Nachdem ich die Urfassung abgeschlossen hatte, ließ ich das Manuskript noch Korrektur lesen und begann zur gleichen Zeit, an einer Fortsetzung zu arbeiten – ich hatte bemerkt, dass es mir unglaublich viel Freude machte, Geschichten mit den Hauptpersonen aus „Blüten aus Babylon zu erzählen. So entstand in mehrjähriger Arbeit schließlich „Schnee von gestern … und vorgestern".

    Dass beide Romane dann erst einmal in die Schublade wanderten und dort lange Zeit zu verstauben drohten, ist eine Geschichte für sich, die ein andermal erzählt werden soll. Glücklicherweise jedoch eine mit Happy End, aber auch einigen weiteren Verwicklungen. Diese hatten zur Folge, dass vor einem Jahr zunächst der 2. Band der Prancock-Saga das Licht der medialen Öffentlichkeit erblickte.

    Die Reaktionen darauf waren sehr vielfältig: In den Besprechungen diverser Zeitungen und Buchblogs sowie bei Live-Lesungen erhielt ich jede Menge ermutigendes Feedback. Und immer wieder stellten Leser und Zuhörer mir die Frage: „Was ist nun eigentlich mit der Vorgeschichte? Bekommen wir die auch irgendwann mal zu lesen?"

    Meine Antwort lautete stets: „Natürlich!, denn schließlich hatte der ursprüngliche Plan ja vorgesehen, die Romanserie „Fox & Crime mit dem vorliegenden Buch zu starten. Dass dann schließlich Band 2 das Rennen vor Band 1 gemacht hat, lag letztlich daran, dass ich kurz vor der geplanten Veröffentlichung von „Blüten aus Babylon erkannte, dass ich die Geschichte noch einmal generalüberholen wollte, sowohl stilistisch als auch inhaltlich. Mit der Endredaktion von „Schnee von gestern … und vorgestern hingegen war ich so gut wie fertig.

    Nun aber ist es tatsächlich so weit: Inspektor Prancock steht in den Startlöchern, um diesen ungewöhnlichen Fall zu lösen.

    Wie schon in „Schnee von gestern … und vorgestern stellte ich fest, dass die zugrunde liegenden Themen noch immer aktuell sind, lediglich an einigen Details ist zu erkennen, wie sich die Welt in dreizehn Jahren doch weitergedreht hat. Auch in „Blüten aus Babylon habe ich hier keine Aktualisierungen vorgenommen, sodass die Geschichte auch ein wenig zu einer Reise in die Vergangenheit werden kann.

    Eine weitere Frage, die mir im Zusammenhang mit „Fox & Crime immer wieder gestellt wird, kann ich mittlerweile ebenfalls beantworten: „Wird es mit Prancock, Steffens und all den anderen Figuren aus diesem kleinen Universum weitergehen? – Ich habe es vor. Die Idee von Teil 3 hat schon konkrete Formen angenommen, und ich hoffe sehr, dass ich diesmal keine dreizehn Jahre benötige, um die Arbeit daran zu Ende zu bringen.

    Mein herzlicher Dank geht an alle, die mich in den letzten Jahren unterstützt und mich bekräftigt haben, die Prancock-Romane zu veröffentlichen. Ganz besonders möchte ich hier meine Frau Cornelia bedenken, die mich stets ermutigt hat, weiterzumachen. Darüber hinaus Susanne, Laura und Jürgen Fechner für ihre riesige Unterstützung beim Erstellen der Urfassung sowie meine Lektorin Anne Baum für ihre höchst wertvolle literarische Stilberatung.

    Und last but not least geht noch ein ganz besonderes „Danke" an Giuliana und Yann, dass sie mir zwischen Spielen, Herumtollen, Schnullersuche und Windelnwechseln auch immer ein bisschen Zeit für die Arbeit an diesem Buch gelassen haben.

    Günther Klößinger, Oberkaufungen, 20.03.2016

    Ortstermin

    Wir befinden uns in einer typischen deutschen Stadt. Viele nennen sie eine Kleinstadt, böse Zungen sprechen gar von einem etwas zu groß geratenen Dorf. Wohlwollende Mitbürger werden jedoch nicht müde, das besondere Flair hervorzuheben, das es so angenehm macht, hier zu leben. Die beschauliche Innenstadt mit ihren auf mondän getrimmten Boutiquen und nostalgisch anmutenden Läden vom Obstmarkt bis hin zum „New Age"-Shop wirkt durchwegs heimelig und vertraut. Die Gastronomie ist gediegen und gemütlich. Gerade in den kleineren Cafés und Lokalen werden die Kritiker und Spötter mit der stets spürbaren Provinzialität versöhnt, denn in den Gaststuben herrscht eine urige, persönliche Atmosphäre und die Leute hinter den Tresen kennen ihre Gäste meist beim Namen.

    Das örtliche Tagblatt, „Die Allgemeine", bemüht sich mehr oder minder redlich, das Sensationelle im Alltäglichen zu entdecken und kleine Ereignisse wortgewaltig in kulturell bedeutende Events umzumünzen. Da wird schon mal der Häkelkreis in der Seniorenresidenz zum sozialen Großprojekt.

    Merkwürdig ist aber, dass sich ausgerechnet in diesem Provinznest mehr und mehr lichtscheue Subjekte breitmachen. Der erstaunlich hohen Kriminalitätsrate des Städtchens stellt sich ein eingespieltes Team von Ermittlern entgegen. Allerdings müssen Inspektor Prancock und seine Mitstreiter nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch zunehmend gegen leere Kassen ankämpfen. Das kleine Polizeirevier ist chronisch unterbesetzt und überlastet. Kein Wunder, dass die höchst engagierten Polizisten hier stets zwischen wahnsinnigem Stress und Urlaubsreife schwanken.

    Kurzum: eine ganz normale deutsche Stadt, wie wir sie wohl alle kennen.

    Mittwoch

    Die Leiche lehnte, auf den linken Ellenbogen gestützt, in einer Ecke des winzigen Zimmers. Vereinzelte Sonnenstrahlen, die sich durch ein verstaubtes Dachfenster quälten, verpassten der Szenerie das Flair eines muffigen Museums. Inspektor Prancock, auch schlicht „Pranke" genannt, beugte sich zu dem Toten hinab und blickte in ein starres, leicht hervortretendes Auge. Pupille und Iris waren von kränklichem Gelb umrahmt. Das zweite Lid war geschlossen. Zugleich zog sich ein groteskes Grinsen über die leblosen Züge, sodass der Verblichene dem Polizisten mit stummer Häme zuzublinzeln schien. Prancock ging in die Hocke und sah forschend in das ihm völlig unbekannte Gesicht, das zu einer makabren Fratze erstarrt war.

    „Wahrscheinlich Gift!", murmelte Steffens, der sich hinter seinem Vorgesetzten in die enge Kammer gezwängt hatte.

    Prancock fuhr herum und warf seinem Kollegen einen vernichtenden Blick zu. „Wusste gar nicht, dass du unter die Ärzte gegangen bist, Steffens. Nun gut, fang am besten gleich mit der Obduktion an!"

    „Aber …"

    „Klappe, Kollege! Deine Klugscheißereien stinken mir sowieso schon lange. Hab’ noch nie erlebt, dass du auch nur ’nen Fingerabdruck exakt abgenommen hättest. Und wie war das noch mit den Zigarettenstummeln am Tatort des Zankert-Mordes? Echt grandios, sie einfach wegzuschmeißen – mitsamt den Spuren vom Lippenstift des schwulen Mörders. Deine stümperhafte Observierung des Hauptverdächtigen erwähne ich besser gar nicht! Und jetzt kommst du hier rein und erkennst auf den ersten Blick die Todesursache! Ich sollte dich zur Beförderung vorschlagen. Vielleicht kommst du dann in ’ne andere Abteilung und ich bin dich endlich los!"

    Steffens verzog keine Miene. Seit der englischstämmige Inspektor zu ihnen versetzt worden war, geriet das Arbeitsleben für ihn und alle weiteren Kollegen immer öfter zu einer nervenaufreibenden Achterbahnfahrt. Ohne Zweifel war Prancock der unbeliebteste Bulle im ganzen Revier, dummerweise aber auch der erfolgreichste. Den Spitznamen „Pranke" hatte er sich eingehandelt, als er in einem üblen Handgemenge beinahe den Adamsapfel seines Gegners zerquetscht hätte. Mochte die Arbeit mit diesem unbritischen Anti-Gentleman auch noch so anstrengend sein – das Ansehen der gesamten Mordkommission war in den letzten Jahren enorm gestiegen. Dabei hielten sich Nervenkrieg und Stolz meist die Waage in der gemeinsamen Amtsstube.

    An diesem speziellen Tatort in der Blütenstraße 27b konnte Steffens kaum etwas falsch machen: ein absolut leeres Zimmer, in dem sich nur Staub und eine Leiche befanden. Keine Fingerabdrücke, außer denen des Opfers, keine angeschwulten Zigarettenkippen, keine Tatwaffe, die Kleidung des Toten unergiebig: leere Taschen, keine Papiere. Zudem fand sich nicht die geringste Spur äußerer Gewalteinwirkung. Es gab keine Schuss-, Stich-oder Bisswunden, keine Würgemale, keine Anzeichen von Drogenmissbrauch. Einfach nichts.

    Prancock versuchte trotz seiner Plastikhandschuhe eine Zigarette aus dem fast leeren Päckchen zu fischen.

    „Wenigstens Sie wollen hier Spuren hinterlassen, was?", holte Steffens zum Gegenschlag aus.

    Prancock hatte ausnahmsweise keine Lust auf weitere Wortgefechte und beendete den noch gar nicht losgebrochenen Streit mit einem erneuten „Klappe, Steffens!".

    „Wem gehört eigentlich das Haus, Chef?"

    „Einem alten Ehepaar. Hatten dem Kerl das Zimmer erst seit vorgestern vermietet. Sagte, er wolle nicht lange bleiben. Zahlte bar im Voraus. Für vier Tage oder ’ne Woche oder so. Nannte keinen Namen, meinte aber, er wäre irgendwie in Not geraten. Aß einmal mit den Alten zu Mittag. Sprach kein Wort, ging nur auf das Zimmer und …"

    „Warum vermietet man ein Zimmer ohne Möbel, ohne Bett, ohne Tisch und Stühle? Nicht mal ’ne Matratze gibt’s hier. Wie’s aussieht, hat der Kerl eine Nacht auf dem blanken Fußboden verbracht und …"

    „Steffens, du bist ja gar nicht so blöd, wie ich dachte. Nur, deine Fragestellung ist trotzdem bescheuert. Dreh sie doch mal um: Warum mietet jemand so ein Zimmer ohne alles? Noch dazu gleich für ’ne Woche oder so?"

    Prancock hatte es geschafft, die Zigarette in seinen Mundwinkel zu manövrieren. Steffens gab ihm Feuer. Beide schwiegen. Als Geste eines vorläufigen Waffenstillstandes hielt Prancock seinem Kollegen das Päckchen hin. Steffens nahm sich einen Glimmstängel, zündete ihn an und rauchte gedankenverloren. Bald hing der beißende Qualm von billigem Tabak wie eine trübe Denkblase in dem stickigen Dachzimmer.

    Jasmin hatte die Nase voll. Unter ihrem beeindruckenden Blondschopf brodelte unbändige Wut. Nur mit Mühe konnte sie sich zu einer halbwegs sozial verträglichen Miene durchringen, um nicht die wenigen Besucher von Ginos Eiscafé zu verschrecken. Wieso sollte sie sich in der Schule überhaupt noch anstrengen? Letztes Jahr hatte sie einen vermeintlichen Durchhänger gehabt, klar. Dieses Jahr sah es aber anders aus: Ihre Mathenoten hatten sich extrem verbessert, in der letzten Ex war sie sogar Klassenbeste gewesen, aber das registrierte ihr Vater, der ach so erfolgreiche Kriminalinspektor, einfach nicht. Für miese Ergebnisse gab es jede Menge Ärger, Gebrüll und zynische Kommentare. Einsen und Zweien wurden hingegen gar nicht erst erwähnt – sie waren wohl selbstverständlich. Kein Wunder, dass Mutter letztes Jahr mit ’nem Mathelehrer abgehauen war: Der hatte in der Sprechstunde einfach eins und eins zusammengezählt. Gerüchte über das Eheleben im Hause Prancock waren zur Genüge im Umlauf gewesen. Der Pauker hatte nichts weiter tun müssen, als Frau Kommissarin einfach nur zu beachten. Ja, einfach nur zu beachten. Das hatte genügt, um ihrer aller Leben auf den Kopf zu stellen.

    Seither war alles anders geworden, aber nichts besser. Else Müller-Prancock hatte nach der schicksalhaften Sprechstunde ihren Job bei der Polizei an den Nagel und einen Abschiedsbrief an die Kaffeemaschine gehängt. Er begann mit den Worten „Nie mehr Polizei und schloss mit „Das ist jetzt ganz und gar dein Revier, Herr Inspektor!. Das „good von „goodbye hatte sie nachträglich noch durchgestrichen.

    „Dumme Kuh!, fauchte Jasmin in sich hinein. Mutter hatte den Mann längst vergessener Träume verlassen, weil er ihr nicht genug Zuwendung geschenkt hatte. Ein berechtigter Vorwurf, da gab es keinerlei Zweifel. Andererseits: Wann hatte Else schon Zeit für die Familie gehabt oder sich wirklich um ihre Tochter gekümmert? Echte Aufmerksamkeit hatte sie Jasmin nur dann zuteilwerden lassen, wenn in der Schule mal wieder nichts so gelaufen war, wie die erfolgsverwöhnten Eltern es sich erträumt hatten. So hatte das Mädchen im Vorjahr versucht, die beiden mit einem einfachen Trick dazu zu zwingen, sich endlich wieder mit ihm auseinanderzusetzen. Durch konsequente Leistungsverweigerung hatte sie erreicht, dass ihr Notendurchschnitt in den Keller gepurzelt war. Voilà – mit einem Mal hatten Vater und Mutter in trauter Einheit wieder mehr zu sagen gehabt als „Guten Morgen oder „Gute Nacht. Gesprächsversuche, Gardinenpredigten und Gebrüll waren zu festen Tagesordnungspunkten geworden. Die Themenpalette hätte zwar etwas vielfältiger sein dürfen – Noten, Noten und nochmals Noten –, aber letztlich hatte Jasmin in dieser Zeit eine leise Ahnung davon bekommen, was „Familienleben bedeuten könnte. Zugegeben: eine sehr leise Ahnung inmitten lautstarker Auseinandersetzungen. Trotzdem waren ihr Kreischen und Gekeife fast lieber als die Grabesruhe zweier Erwachsener, die in ihre Karriereträume versunken waren.

    Mit immer neuen Katastrophenmeldungen von der Schulfront hatte Jasmin die beiden lange bei Laune gehalten. Die elterlichen Adrenalinspiegel waren fast dauerhaft am obersten Limit entlanggeschrammt. Sie hatte es eine Zeit lang richtiggehend genossen, mit den Gefühlsbarometern von Vater und Mutter zu spielen. Es hatte dabei nur einen Haken gegeben, und zwar einen entscheidenden: Auf eine Ehrenrunde hatte Jasmin nämlich dann doch keinen allzu großen Bock gehabt. Daher hatte sie ihre Leistungen rechtzeitig vor Schuljahresende drastisch gesteigert. Bingo: In einem entschlossenen Sprint hatte sie sich beim notentechnischen Hürdenlauf unmittelbar von „Versetzung gefährdet zu „Klassenziel erreicht durchgepowert. Damit war es aber wieder aus gewesen mit der Zuwendung von Daddy und Mum. Das Ende der Bildungsmisere hatte keine Begeisterungsstürme in den vorderen Rängen des Familientheaters hervorgerufen. Schule war seit dem Notenschluss nur noch Nebensache gewesen, zumindest bis zu Elses letztem Lehrersprechtag vor dem Zeugnistermin. Der Rest ist Geschichte.

    „Reg dich doch ab, Jassy! Ist doch ’n geiles Gefühl, als Einzige ’ne Eins in Mathe zu haben. Und bloß weil’s deinen Alten nicht juckt, sitzt du da und schaust wie der Exorzist persönlich!, unterbrach Nick die düstere Gedankenspirale seiner Freundin. Das Café war zu dieser Zeit nahezu menschenleer. Die Schüler, die sich hier für gewöhnlich nach dem Schlussgong bei Vanille-Whisky-Bechern oder Cappuccino „con Grappa von der Plackerei in der Penne erholten, waren größtenteils wieder gegangen.

    Jasmin blickte noch eine Weile abwesend in die fast leere Tasse und versuchte mit dem Kaffeebesteck ein paar Reste von Sahneflocken zu erhaschen. Schließlich sah sie Nick an. Ohne etwas zu sagen, schob sie sich ihren Löffel in den Mund und schlürfte ungeniert vor sich hin. Das süßlich-milchige Aroma weckte Fernweh in ihr. Bella Italia – ja, das wär’s! Sommer, Sonne und Softeis schwirrten in werbewirksamen Bildern durch Jasmins Tagtraum. Ihre großen grünbraunen Augen waren auf Nicks Finger gerichtet. Der Junge drehte sich gerade umständlich eine Zigarette. Als er kurz aufsah und bemerkte, wie Jasmin mit dem Löffel im Mund dasaß, musste er unweigerlich grinsen.

    „Ich geb’ dir auch gerne Papers und Tabak, dann brauchst du nicht ewig am Besteck zu nuckeln", meinte er trocken.

    Jasmin verschluckte fast den Löffel, so sehr musste sie lachen. Sie ließ ihre Linke in das Haar des Jungen gleiten und strich ihm leicht über den Kopf. Dann zog sie Nick entschlossen zu sich herüber und küsste ihn auf die Nasenspitze. Schließlich ging sie mit dem Mund ganz nahe an sein Ohr heran und flüsterte: „Ich liebe dich, aber vor allem deine schiefen Kippen!"

    Jetzt war es an Nick, loszuprusten. Gino, der hinter der Theke gelangweilt Eisbecher poliert hatte, schrak aus seiner meditativen Starre hoch. Blinzelnd fragte er: „Darf’s noch etwas sein, Bambini?"

    Donnerstag

    Else Müller hatte das „Prancock so schnell es ging aus ihrem Namen eliminieren lassen. Jeder, der sie noch so ansprach, konnte mit vernichtenden Blicken rechnen, die selbst den abgebrühtesten Politprofi dazu gebracht hätten, auf der Stelle abzudanken. Tauchte der Name in einem Zeitungsartikel auf, zerknüllte sie umgehend das Blatt und warf es in den Müll. Dort tummelten sich meist eine Menge verknitterter Bällchen. Als sie den Schriftzug „Prancock allerdings an diesem Vormittag auf einem Briefkuvert entdeckte, feuerte sie das Schreiben nicht wie gewohnt in den Papierkorb. Der Absender war nicht in der Klaue ihres Exmanns geschrieben, sondern eindeutig in der Handschrift ihrer Tochter. Das schlechte Gewissen stieg in Else hoch wie gelbe Kotze.

    Jasmin meldete sich bei ihr? Kaum zu glauben! Sie konnte die Bedeutung dieses Vorstoßes nicht einordnen. Sowohl ihr Ex als auch sie selbst waren stets zu selten für das gemeinsame Kind da gewesen. Zum Glück hatte Jasmin immer gute Freunde in der Schule und im Sportklub gehabt. Für die tagtäglichen Probleme eines Teenagers war im Leben zweier Kriminalbeamter kaum Zeit gewesen. Ständig hatten sie mit Mord, Vergewaltigung, Drogen und dem damit verbundenen Leid zu tun. Was war schon die erste Regelblutung der Tochter gegen das Blutbad eines Psychopathen? Die Erinnerung traf Else wie ein Schuss aus der emotionalen Pumpgun. Ein frisch aus dem Knast entlassener Vater hatte seine ganze Familie ausgelöscht. Die Eindrücke vom Tatort hatten sich zwischen die damalige Kommissarin und die Wirklichkeit ihres Alltags geschoben.

    Schließlich war doch eine Stimme durch diese gedankliche Plakatwand voller blutiger Bilder gedrungen: „Mutter, ich habe heute …"

    „Jetzt nicht, Jasmin!"

    „Ich brauche eine Binde!"

    „Lass mich in Ruhe, du weißt doch, wo die Schachtel steht!"

    „Mensch, können wir nicht wenigstens einmal miteinander reden?"

    „Ich habe vorhin zwei Kinder gesehen, tot, in ihrem eigenen Blut! Die Kehlen waren von einem Küchenmesser regelrecht zerfetzt worden, Jasmin. Die Augen! Du hättest diese Augen sehen sollen …"

    „Mutter, vielleicht solltest du deinen Job sein lassen, wenn du das alles nicht mehr packst!"

    Else hatte die Szene noch so plastisch vor Augen, als hätte der Wortwechsel erst vor wenigen Minuten stattgefunden. Ihre Erinnerung spielte die Ereignisse dieses denkwürdigen Nachmittags wie eine Liveschaltung direkt vom Ort des Geschehens ab. Alles war ihr plötzlich wieder vollkommen gegenwärtig: Die Bilder von jenem entsetzlichen Tatort, das abwesende Auf-und-abLaufen in der eigenen Küche, wo sie versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Da konnte sie die neunmalklugen Ratschläge ihrer Tochter nun wirklich nicht gebrauchen. Manchmal trieb das Mädchen sie zur Raserei und Else verlor jegliche Beherrschung. Mit einem peitschenden Knall brachte sie Jasmin vier fingerdicke rote Striemen auf der Wange bei.

    An dieser Stelle hätte Else die Übertragung am liebsten unterbrochen, doch die Doku lief unbarmherzig weiter. Eine Großaufnahme von Jasmins in Verwirrung erstarrtem Gesicht füllte die Mattscheibe im Kopf nun fast völlig aus. Der verstörte Blick des Mädchens warf eine stumme Frage in den Raum: „So weit sind wir also nun schon gekommen, Mutter?" Wieder und wieder dröhnten die Worte durch Elses Bewusstsein, die Echos schwollen zu einem wilden Crescendo an.   

    „Mutter, bitte …"

    Das hilflose Wimmern unterbrach den anklagenden Wortschwall, der bedrohlich in Elses Hirnwindungen tobte und ließ ihn platzen wie eine Seifenblase. Zurück blieben nur Scham und Selbstmitleid. Gnadenlos und gestochen scharf ließ der mentale Beamer das innere Video weiterlaufen.

    „Verdammt, Jasmin, es tut mir leid, flüsterte Else in sich hinein, „was habe ich dir da nur angetan? Der Regisseur aus dem Ü-Wagen ihrer Erinnerungen schaltete auf eine andere Kamera: Schnitt! Ohne Unterbrechung flimmerte das Geschehen weiter über den Schirm, nun allerdings aus Jasmins Perspektive.

    Das Mädchen war von der Wucht der Ohrfeige benommen und hielt das schmerzende Gesicht in beiden Händen. Sie fühlte heiße Tränen über ihre Finger rinnen und hatte einen blutigen Geschmack im Mund. Den Stoß, den ihre Mutter ihr dann versetzte, spürte sie kaum noch. Sie glitt an der Wand des Wohnzimmers hinab zu Boden. Jasmin glaubte, in ein tiefes, dunkles Loch zu fallen. Als Else sie am Arm packte, blinzelte das Mädchen verstört. Die Umgebung nahm wieder schärfere Konturen an. Verängstigt blickte die Tochter der Mutter ins Gesicht. Gehörte diese Fratze, eine Maske aus Wut, Trauer und Verzweiflung, wirklich ihrer Mum? Und wo war eigentlich Dad? Else zerrte Jasmin aus dem Wohnzimmer hinaus auf den Flur. Am liebsten hätte das Mädchen laut aufgeschrien. Der Arm drohte aus dem Schultergelenk zu springen. Leises Wimmern verhallte unbeachtet in der Wohnung. Schließlich zog Else ihre Tochter ins Badezimmer. Direkt neben der Toilettenschüssel ließ sie das Mädchen los. Jasmin stöhnte leise auf und fiel vollends auf die kalten Fliesen. Schluchzend blieb sie liegen.

    Plötzlich flog etwas unsanft in das tränenbenetzte Gesicht. „Da hast du deine verdammte Binde, Jasmin!", krächzte eine Stimme. Wie eine geifernde Hexe stand Else im Raum. Sie glich kaum noch der Kriminalkommissarin, die dafür berühmt-berüchtigt war, dass nichts sie so schnell aus der Bahn werfen konnte.

    Ein harter Schnitt unterbrach die Direktübertragung. Keine Schlussmusik, keine Werbespots. Das auszehrende Gefühl von Schuld und Versagen machte sich in Else breit. Einzelne Schlaglichter des familiären Dramas tauchten nochmals vor ihrem inneren Auge auf. Dass sie es zeitweilig aus der Sicht der eigenen Tochter neu durchlebt hatte, ließ ihr Unbehagen noch weiter anwachsen.

    „Wie lange ist das nun schon her?, überlegte sie laut, während sie mit einer Nagelfeile den Brief öffnete. „Drei Jahre, vielleicht schon vier?

    Else Müller-Prancock hatte damals fest damit gerechnet, dass Jasmin ihrem Vater von dem Vorfall erzählen würde. Dieser hätte sie danach bestimmt verlassen, und zwar garantiert zusammen mit Jasmin. Jeder Richter hätte diesen Schritt nach einer entsprechenden Aussage der misshandelten Tochter befürwortet. Auch mit beruflichen Konsequenzen hätte die Kommissarin rechnen müssen: Gewalt gegen Schutzbefohlene ist nicht gerade ein angesehenes Qualitätsmerkmal für Polizisten. Jasmin hatte geschwiegen. Noch nie zuvor hatte Else deutlicher gespürt, wie sehr ihre Tochter sie liebte.

    Sie zog ein kleines, hellgrün gefärbtes Stück Papier aus dem Umschlag. Bevor sie den Zettel auffaltete, setzte sie sich an den Küchentisch, nahm ihre bereits begonnene Tasse Espresso in die Hand und trank einen Schluck. Sie bemerkte, dass ihre Finger leicht zitterten, als sie den Falz öffnete. Schließlich las sie Jasmins ersten Brief seit der Trennung.

    Hallo, Frau Kommissarin!

    Oder soll ich doch „Mutter" schreiben? War eigentlich ganz klug von dir, den Dienst zu quittieren. Wenn ich mir anschaue, womit Vater sich so in letzter Zeit herumschlagen muss, sausen mir die Ohren. Für ihn gibt’s wie üblich immer nur seinen neuesten Fall – aber das kennst du ja. Du hast schließlich auch nicht über deinen Job hinausgedacht. Dir ist bestimmt total langweilig, ohne Mörder, Stricher und so. Und wenn der Bert im Bett so aufregend ist wie in Mathe, sind deine Tiefschlafphasen garantiert. Welch ein entspanntes Leben!

    Aber damit ist jetzt erst mal Schluss, Frau Kommissarin. Du hast nämlich einen neuen Fall, und den kannst nur du lösen! Na gut, vielleicht auch zusammen mit deinem Exmann. Es geht um eure verschwundene Tochter! Da schaust du, was? Wenn ihr den Fall nicht annehmt – auch okay, dann bin ich eben weg. Solltet ihr aber bereit sein, noch einmal das Dreamteam der Kripo zu spielen, habt ihr vielleicht eine kleine Chance, mich wiederzusehen. Das ist kein Gag! Mir ist das sehr ernst! Denk dran: Weg ist weg – und wenn ich weg schreibe, meine ich auch weg!

    Ciao, Jassy

    Steffens saß an seinem PC, kaute an seinem Kugelschreiber herum und warf mit einem Bleistift auf die Dartscheibe.

    „Fassen wir also noch mal zusammen, nuschelte er in seinen Fünftagebart, der allerdings nur nach dreitägigem Wildwuchs aussah. „Wir haben eine Leiche ohne Ausweis in einem leeren Zimmer. Keine Spuren. Die Bude war gemietet, die Vermieter sind Herr und Frau Kabler, 76 und 74 Jahre alt. Sie kannten ihren Mieter nicht näher und nicht einmal namentlich. Angeblich gaben sie ihm das Zimmer aus reiner Nächstenliebe zu einem Spottpreis. Sie besitzen selbst kaum Möbel oder Luxusgegenstände. Keinen Fernseher, keine Bücher, nur eine alte Bibel. Als Verfechter eines asketischen Lebenswandels schlafen sie selbst lediglich auf Lattenrosten ohne Matratzen. Die zwei Alten behaupten, der Mieter wäre auch ein Asket gewesen, daher hätte er weder Bett noch weitere Möbel in seiner Stube gebraucht. Sein Name war in den Augen der Kablers völlig unwichtig. Namen seien nur Schall und Rauch. Mannomann, Prancock, das ist der durchgeknallteste Fall, den ich jemals hatte.

    Prancock wollte gerade etwas zum Thema „durchgeknallt" erwidern, als sein Handy klingelte.

    „Neuerdings Beethoven?", fragte Steffens verblüfft.

    „Das ewige ,Je t’aime‘ ist mir einfach auf den Keks gegangen, zeigte sich der Brite ungewohnt auskunftsfreudig. Er räusperte sich und nahm das Gespräch entgegen: „Prancock.

    Steffens war verwundert, wie lange sein Chef in der Lage war, zu schweigen und zuzuhören. „Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder", nuschelte er in seine Bartstoppeln und nutzte die Gelegenheit, die als Dartpfeile missbrauchten Stifte einzusammeln. Als er schließlich wieder aufsah, erschrak er fast. Prancock erinnerte fatal an einen begossenen Pudel und starrte mit leerem Blick in die Dienststube. Solch einen Gesichtsausdruck kannte Steffens von dem ruppigen Engländer nicht: Die Miene zeugte von Verwirrung und – noch merkwürdiger – Sorge.

    Sie liebte es, Nicks Hand warm im Rücken zu fühlen. Mit geschlossenen Augen genoss sie das zarte Kribbeln unter ihrem T-Shirt, das seine sanft herumwuselnden Finger hervorriefen. Jasmin gurrte zufrieden wie eine Taube, als sich eine Gänsehaut wohlig über ihren Körper ausbreitete. Halb lagen, halb saßen die beiden auf Nicks Bett. Mit einem flüchtigen Blick in die Augen ihres Freundes erkannte Jasmin, dass er zum Glück nicht böse mit ihr war. Die Schatten der Enttäuschung konnte er aber auch nicht ganz aus seinem Gesicht vertreiben.

    „He, mein großer Zauberer! Sei doch nicht traurig! Du hast es immerhin geschafft, die schöne und begehrenswerte Märchenprinzessin in dein verwunschenes Schloss zu entführen …" Jasmin wollte betont locker klingen. Ein Hauch von romantischer Poesie, gewürzt mit einer Prise Komik lag in den Worten, doch kam ihr sonst so feiner Witz diesmal nicht gerade überzeugend rüber.

    Nicks Mundwinkel blieben unschlüssig in der Schwebe. Seine Miene wirkte so verdattert wie nach der Begegnung mit einer Dampframme.

    Jassys Gehirn suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. „Verdammt, wie komm’ ich bloß aus dieser Nummer wieder raus?", schoss es ihr durch den Kopf.

    Sie war froh, als Nick ihre Grübeleien stoppte, indem er einen Finger sanft auf ihre Lippen legte. „Schon gut, Jassy. Eigentlich sind auch nur meine Hormone sauer."

    „Du bist ein Engel, Nick. Natürlich hätte sich so was später einmal gut in unserer gemeinsamen Biografie gemacht: Das erste Mal am Tage der dramatischen Entführung aus dem Serail …"

    Mit einem Lächeln zog Nick die Hand aus Jasmins T-Shirt hervor und nahm Tabak und Papers vom Nachttisch. „Na ja, murmelte er, „immerhin liebst du meine schiefen Kippen!

    Beide schwiegen, bis Nick mit zwei besonders schrumpeligen Exemplaren fertig war. Er gab seiner Freundin eine Zigarette und zückte sogleich das Feuerzeug. Sekunden später zogen bläuliche Schwaden zum geöffneten Fenster hin. Nick und Jasmin blickten dem Rauch versonnen nach. Ihre Vertrautheit brauchte momentan keine Worte. Nicks Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hätte seiner Freundin stundenlang zusehen können, wie sie so nachdenklich auf dem Bett saß und rauchte. Das grünbraune Glänzen ihrer Augen verlieh dem Tabakqualm ein Flair von übelstem Smog. Das Spiel blauer Dunstkringel mit Jassys märchenblonden Strähnen ließ ihn hingegen an mystische Feenwesen in den Schwaden eines sommerlichen Morgennebels denken.

    Sie drehte sich etwas zur Seite und zog die Beine an. Dabei legte sie sich auf den Rücken und schmiegte ihren Kopf in Nicks Schoß. Der Junge parkte seine Zigarette im Aschenbecher und begann Jasmins Stirn zu streicheln. Das Mädchen funktionierte den ausgehauchten Rauch zur Sprechblase um: „Ich liebe dich, Nick. Aber für das hier, na, du weißt schon …"

    „Sag doch einfach Sex, Jassy, oder bist du neuerdings so zurückhaltend?", frotzelte der Junge.

    „Mensch, wir sind hier nicht auf dem Schulhof! Dort labert vielleicht jeder einfach so herum! Aber dafür ist mir die Sache zu wichtig, konterte die Märchenprinzessin und brachte ihren Hofzauberer damit zum Schweigen. Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn leidenschaftlich. Nicks allerletzte Zweifel wurden wie von einer erotischen „delete-Taste kurzerhand gelöscht: Es würde sich lohnen zu warten.

    Missmutig rührte Prancock in seinem Kaffee. Das schmierige Braun erinnerte ihn unweigerlich an eine seiner verzweifelten Rettungsaktionen für das zeitweilig verstopfte Klo seiner Wohnung. Zum Glück hatte er diesbezüglich nun schon seit mehr als vier Wochen Ruhe. Noch ein Schuss Milch und die Vision von der Sanitär-Apokalypse verblasste. Zudem war der Gedanke an ätzende Klempnerorgien immer noch angenehmer als die Vorstellung, sich mit Else in den ehemals gemeinsamen vier Wänden zu treffen. Allerdings hatten sie für das notwendig gewordene Gespräch dennoch einen Ort ausgesucht, der mit ihrer beider Vergangenheit zu tun hatte. Fredos Café war weniger ein Café als vielmehr ein Schnell-und Stehimbiss, wo sie sich manchmal in Dienstpausen getroffen hatten. Hier war so mancher Schlachtplan gegen kaltblütige Killer entstanden und hier hatten sie den ein oder anderen Fall durchgesprochen.

    Prancocks Gedanken turnten in fixen Flickflacks von Synapse zu Synapse, doch blieb ihm die Angelegenheit unbegreiflich. Je länger er darüber nachdachte, desto bizarrer erschien ihm alles. „Der Fall eurer verschwundenen Tochter – was hatte Jasmin sich bloß dabei gedacht? Und wieso wandte sie sich ausgerechnet an Else? Die hatte sie doch im Stich gelassen, um mit ihrem Mathelehrer im Paradies der Primzahlen glücklich zu werden. Unpassenderweise fielen dem Inspektor nun ausgerechnet die schönen Momente seiner Ehe mit Else ein und er fragte sich, wie dieses erste Treffen „danach wohl werden würde.

    „Ein Wiedersehen in Fredos Café, welch romantische Vorstellung, dachte er sich. Wenn ihm nicht zum Kotzen zumute gewesen wäre, hätte er vielleicht sogar gelacht. Immerhin hatte er Glück: Zwei Barhocker an den runden Stehtischen waren frei. Es gab also Sitzplätze für dieses erste Face-to-Face-Treffen nach dem Scheidungsprozess. Als aus den Boxen der Anlage auch noch „Yesterday schmalzte, hätte Prancock am liebsten seine Dienstwaffe gezogen und das trällernde Musikmonster abgeknallt. Die Ballerei wäre eindeutig als Notwehr durchgegangen, da war sich der Bulle in ihm sicher. Ein Schluck vom immer noch zu heißen Kaffee überzeugte den Inspektor, auch noch das zweite Zuckertütchen in die Brühe zu entleeren. Er hatte definitiv nicht die leiseste Lust auf weitere Assoziationen mit überlaufenden Toilettenschüsseln, die der Geschmack ansonsten erneut wachrufen könnte.

    Endlich sah er sie: Noch bevor Else durch die Glastür hereingetreten war, fiel ihm schlagartig wieder ein, was er damals an ihr geliebt hatte. Jede ihrer Bewegungen war folgerichtig und signalisierte unmissverständlich, dass diese Frau genau wusste, was sie wollte. Ihre Körpersprache betonte das bis ins kleinste Zehengelenk. Wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich auch ihren Nasenknorpel gezielt bewegt, um Gestik und Mimik zu unterstreichen. Diese berechnende Ausstrahlung verlieh Else auch eine etwas kühle Aura. Genau diese hatte Prancock, der frühere Schwerenöter vom Dienst, vor all den Jahren durchbrechen wollen. Und er hatte es ja auch geschafft. Zumindest damals.

    Ja, die Ermittlerin war ihrem Inspektor in jener Zeit wahrhaft verfallen. Die Klatschpresse hätte ihre helle Freude an dieser wilden Romanze gehabt. Da dem englischen Polizisten allerdings von der Insel her sein Ruf als Journalistenfresser vorausgeeilt war, hatten sich die Aktivitäten der Skandalblätter doch in Grenzen gehalten. Die zeitweise höchst spektakulären Einsätze der beiden außergewöhnlichen Kriminalbeamten wurden von Zeitungen jeglicher Couleur jedoch von Anfang an bejubelt. Vor allem ihr Sondereinsatz vor dem Traualtar wurde nicht nur polizeiintern als legendär gehandelt. Nach dem salbungsvollen Sermon des Priesters hatte Prancock trocken geantwortet: „Sie haben vergessen, mich darauf hinzuweisen, dass alles, was ich von nun an sage, gegen mich verwendet werden kann! Die Gemeinde hatte getobt, nur die schwarz berockte Kirchenmaus war puterrot angelaufen. Feierliches Glockengeläut hatte verkündet, dass das Dienstverhältnis der beiden Ermittler nun auch auf das Privatleben ausgedehnt worden war. Im Job herrschte dennoch „business as usual. Auch wenn sie offiziell nur selten gemeinsam ermittelt hatten, waren sie doch als das Traumpaar im Revier angesehen worden. Sozusagen „the Beauty and the Beast" für alle Fälle. Beide waren als hart gegen sich selbst und andere bekannt. Einzig Prancock selbst – und später auch Jasmin – wusste, wie viel von Elses vordergründiger Toughness Schauspielerei war, nämlich nahezu alles. Der Preis dafür war hoch gewesen: Schlaflosigkeit, Depressionen, Paranoia. Bis heute hatte Prancock niemandem gegenüber die heimlichen Therapiesitzungen seiner damaligen Frau auch nur mit einer Silbe erwähnt.

    Und trotz dieser Scharade hatte sie Karriere gemacht, hatte sogar ihren Mann überrundet: Während er einfach immer der ewige Inspektor blieb, hatte man ihr schon bald den Posten als Kommissarin angetragen. Das allein wäre bereits ein großer Schritt für eine Polizistin, war aber nur ein kleiner für Frau Müller-Prancock. Sie war schon dabei gewesen, ihren Fuß auf der Karriereleiter noch eine Sprosse höher zu setzen, als sie schließlich die Reißleine gezogen hatte. In die Welt von Romantik, Geometrie und Algebra abzutauchen, war ihr urplötzlich wie die Einladung in ein ewiges Märchenparadies erschienen. Beim Gedanken daran zog Prancock schnell und unauffällig seinen Flachmann aus der Manteltasche und goss sich heimlich einen Schluck Kognak in den Kaffee. Als sich die Türe öffnete, war das Fläschchen bereits wieder in den unermesslichen Abgründen des Trenchcoats verschwunden.

    „Einen Kaffee, Fredo!", bestellte Else schon beim Eintreten.

    Fredo konnte sich seinen Uralt-Witz „Einen caffè freddo? auch nach mehreren Jahren immer noch nicht verkneifen, als er jedoch bemerkte, wer da bestellt hatte und zu wem sich die Dame gesellte, wurde Fredo tatsächlich freddo. Seit „Casablanca hatte er nicht mehr an rührende Wiedersehen à la „Hollywood geglaubt. Davon abgesehen war sein beengtes Lokal mit dem Charme einer unbeheizten Bahnhofstoilette ohnehin nicht unbedingt als Schauplatz einer solchen Szene geeignet. Verwirrung ergriff den Wirt, gepaart mit einem winzigen Funken Euphorie. Wie ferngesteuert schob er eine CD in den Player: „As time goes by

    Als er dann den Kaffee servierte, raunzte Prancock ihn an: „Spiel das nicht noch mal, Fredo, sonst nenne ich dich Sam!"

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