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Könnenwollen I: 30 Soziale Stories
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Könnenwollen I: 30 Soziale Stories
eBook243 Seiten3 Stunden

Könnenwollen I: 30 Soziale Stories

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Über dieses E-Book

Nichts beeinflusst Schicksal tiefgreifender und nachhaltiger als Krankheit. Gelegentlich macht auch das Schicksal krank. Wie gehen Menschen damit um, und wer entscheidet, wann Gesundheit aufhört und Kranksein beginnt? Diese Frage beantwortet nicht alleine der Arzt, sondern auch der Patient selber. Der eine könnte noch, will aber nicht mehr. Sein Zipperlein weitet sich zum Leiden aus. Der andere kann nicht mehr richtig, müht sich aber redlich. Er will noch mit dazu gehören. Die hier präsentierten dreißig Episoden greifen dieses Spannungsfeld auf. Es geht um Leid und Wünsche, Geduld und Geld, um große und kleine Helden oder Schurken auf der Seite der Patienten, aber auch bei den Ärzten. Dr. K. ist ein Arzt, der den Zenit seiner beruflichen Karriere überschritten hat. Er befindet sich in einem Alter, in dem andere schon längst ihren Altersruhestand pflegen. Er hat den harten Praxisalltag hinter sich gelassen. Geblieben ist ihm der Gutachterjob. Jetzt steht ihm mehr Zeit denn je zur Verfügung, um ausführliche Anamnesen zu erheben. Dabei entdeckt er das eingehende Gespräch mit dem Patienten als Diagnoseinstrument für sich neu. Und es befallen ihn aber auch Zweifel, ob er mit seiner Einschätzung zum Könnenwollen immer ganz richtig liegt.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum8. Okt. 2012
ISBN9783844233889
Könnenwollen I: 30 Soziale Stories

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    Buchvorschau

    Könnenwollen I - Paul Hermann

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    1. Lerchen-Syndrom

    2. Sternhagel

    3. Das teuerste Hobby der Welt

    4. Sitzprotest

    5. Es kam eins zum anderen

    6. TUR-P

    7. Und es war genau so…

    8. Ausgangssituation

    9. Scheiß Krebs

    10. Frau G. gegen Herrn Dr. G.

    11. Analitäten

    12. Grenzdosis

    13. Gekränkter Knüppel

    14. Herr des Verfahrens

    15. Baggerführer

    16. Riesterrente

    17. Glück im Unglück

    18. Fehlerhafte Kunst

    19. Hobbykoch

    20. Kollateralen

    21. Brunhilde

    22. Bleisatz

    23. Plasmozytom

    24. Hausbesuche

    25. Tierfreund

    26. Freitag

    27. Fortune

    28. Wildecker Herzbube und -dame

    29. Meat Packing District

    30. Recht und Gerechtigkeit

    Prolog

    Nichts beeinflusst Schicksal tiefgreifender und nachhaltiger als Krankheit. Gelegentlich macht auch das Schicksal krank. Wie gehen Menschen damit um, und wer entscheidet, wann Gesundheit aufhört und Kranksein beginnt? Diese Frage beantwortet nicht alleine der Arzt, sondern auch der Patient selber. Der eine könnte noch, will aber nicht mehr. Sein Zipperlein weitet sich zum Leiden aus. Der andere kann nicht mehr richtig, müht sich aber redlich. Er will noch mit dazu gehören. Die hier präsentierten dreißig Episoden greifen dieses Spannungsfeld auf. Es geht um Leid und Wünsche, Geduld und Geld, um große und kleine Helden oder Schurken auf der Seite der Patienten, aber auch bei den Ärzten. Die Grundlage der ärztlichen Kunst besteht im Untersuchen nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele und des sozialen Umfelds der Patienten. Das erfordert viel Zeit, die heutzutage kaum ein Arzt hat. Bei gleichen Ausgangsbedingungen können so ganz unterschiedliche sozialmedizinische Beurteilungen entstehen. Die hängen nicht nur davon ab, was den Patienten quält und was er erzählt, sondern auch von der Tagesform des Arztes. Dargestellt werden die Grenzen der Medizin, die Insuffizienz ärztlichen Handelns, fatale Ignoranz im Banne der medizinischen Spezialisierung sowie Quacksalberei und mangelnde Erfahrung vor dem Hintergrund von Ressortdenken. So entsteht schlaglichtartig ein Sittengemälde unseres derzeitigen medizinischen Versorgungssystems.

    Dr. K. ist ein Arzt, der den Zenit seiner beruflichen Karriere überschritten hat. Er befindet sich in einem Alter, in dem andere schon längst ihren Altersruhestand pflegen. Er hat den harten Praxisalltag hinter sich gelassen. Geblieben ist ihm der Gutachterjob. Jetzt steht ihm mehr Zeit denn je zur Verfügung, um ausführliche Anamnesen zu erheben. Dabei entdeckt er das eingehende Gespräch mit dem Patienten als Diagnoseinstrument für sich neu. Und es befallen ihn aber auch Zweifel, ob er mit seiner Einschätzung zum Könnenwollen immer ganz richtig liegt.

    Die in diesem Buch erzählten Fallbeschreibungen entstammen der Wirklichkeit und der Fantasie des Autors. Einige Episoden sind so passiert, andere sind ausgedacht, haben aber immer einen realen Bezug. Alle Geschichten sind hinsichtlich Name, Ort und Handlung so verfremdet, dass die Persönlichkeitsrechte der Akteure strikt gewahrt bleiben. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind Zufall und nicht gewollt.

    1. Lerchen-Syndrom

    Dieser Patient sammelte gleich am Anfang Minuspunkte bei K. Er schlurfte über das sorgsam gepflegte alte Eichenholzparkett. Man hörte und sah es ganz deutlich. Jeder Schritt bedeutete einen Kratzer in K.s Wertemuster, in dem der Respekt vor altehrwürdiger Bausubstanz einen hohen Stellenwert genoss.

    Irgendwie bemerkte der Patient K.s skeptischen Blick und die hochgezogenen Augenbrauen. „Ich habe keinen Parkplatz gefunden. Ich musste ungefähr zweihundert Meter laufen", sagte er und ließ sich in den Stuhl fallen.

    Ja und, zweihundert Meter, was ist das schon, dachte sich K. und musterte den kleinen dürren Mann etwas näher. Luftnot schien ihn nicht zu plagen. Er hatte ein Kurzarmhemd an. Aus den Ärmeln ragten Ärmchen hervor, braun gebrannt, aber dünn, sehr dünn, wie Hähnchenschenkel. Die mickrigen Muskelpartien vibrierten.

    „Ist Ihnen kalt?", fragte K.

    „Nein, eigentlich nicht."

    Der Mann kam K. eigenartig abwesend vor. Er schob ein paar Unterlagen rüber. „Ich habe ein Lerchen-Syndrom", sagte er, so als würde er an einer Erkältungskrankheit leiden.

    „Aha", parierte K., ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, was ein Lerchen-Syndrom sein könnte.

    „Warum sind Sie denn so klapperdürr?", fragte K. mit gespielter Anteilnahme.

    „Seit ein paar Monaten habe ich keinen Appetit. In der Zeit habe ich knapp zehn Kilo an Gewicht verloren."

    „Und das bei Ihrer Größe", staunte K. Der Mann war gerade mal eins sechzig groß.

    „Ja, und vorher kam das mit der Gehbehinderung, schon vor ein paar Jahren. Mir taten die Unterschenkel weh, auch die Oberschenkel. Es war so ein Ziehen. Ich musste nach immer kürzeren Gehstrecken stehen bleiben."

    „Also so eine Art Schaufensterkrankheit", sagte K.

    „Ja, so haben es die Ärzte genannt. Gaudiatio interruptus, oder so ähnlich."

    „Claudicatio intermittens meinen Sie sicherlich."

    „Ja, richtig."

    Zwischenzeitlich hatte K. nebenher Lerchen-Syndrom bei Wikipedia eingegeben. Er stieß auf Leriche-Syndrom. Er las, dass der Erstbeschreiber der französische Chirurg René Leriche gewesen war. Es handelte sich dabei um einen vollständigen Verschluss der Bauchschlagader und zwar oberhalb der Stelle, an der sich das wichtigste Blutgefäß beim Menschen in die zwei Beinarterien aufspaltet. Das ist aber mit dem Leben nur schlecht vereinbar, dachte sich K., dem Mann müssten zumindest die Beine abgefallen sein.

    „Das kommt von Ihrem Leriche-Syndrom", sagte K., nunmehr als Wissender.

    Der Mann schaute ihn traurig an und wurde in seinen Bewegungen leicht fahrig.

    „Rauchen Sie?", fragte K.

    Es kam ein unsicheres „Ja" mit einer gequälten Verwindung des Oberkörpers. Natürlich wusste der Mann, dass das inhalative Tabakrauchen der wichtigste Risikofaktor für seine Grunderkrankung war.

    „Wieviel?" K.s Frage stand schneidend im Raum.

    Der Mann tat so als, wenn er rechnen müsste. „Weniger als zwanzig", antwortete er.

    Alkohol und Nikotin rafft die halbe Menschheit hin. Aber: Ohne Schnaps und ohne Rauch stirbt die andere Hälfte auch, pflegte mein Großvater immer zu sagen, wenn er genüsslich an seinem Rotweinglas nippte und sich eine Zigarre anzündete." K. wollte mit diesem volkstümlichen Erfahrungsspruch versöhnlich stimmen und vorfühlen, wie es denn mit dem Saufen stand.

    Der Mann reagierte hektisch. „Ich trinke keinen Schnaps."

    „Und wie sieht es aus es mit anderen alkoholischen Getränken?"

    „Vor Jahren hatte ich mal eine Phase, private Schwierigkeiten, da war es etwas mehr."

    „Wieviel?"

    Wieder sah es so aus, als wenn er ganz neu kalkulieren müsste. Zögernd kam die Antwort. „So acht bis zehn Flaschen waren es dann doch."

    „Bier pro Tag?"

    „Ja, nur Bier. Aber nach sechs Wochen stationärem Entzug war ich über den Berg."

    „Sie meinen, Sie sind seitdem trocken."

    „Absolut."

    K. entdeckte in den spärlich vorhandenen medizinischen Unterlagen Angaben zu den Leberenzymaktivitäten. Sie waren leichtgradig erhöht, was nicht unbedingt für übermäßigen Alkoholkonsum sprechen musste. Das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen, kurz MCV, lag jedenfalls im oberen Streubereich der Norm. Erhöhungen dieses Parameters weisen auf einen schon länger bestehenden Alkoholabusus hin. Letztlich war es auch egal, ob der Mann soff. Entscheidend für die Gefäßerkrankung war das Rauchen.

    Bei dem Patienten war nicht nur die Aorta verstopft, sondern auch eine Nierenarterie. Die Blutzufuhr zur kontralateralen Niere war nur dadurch einigermaßen gesichert, weil es sich hier um eine Gefäßanomalie mit einer arteriellen Doppelversorgung handelte.

    „Sie haben noch etwas Glück im Unglück gehabt. Sie haben die chronische Variante des Leriche-Syndroms. Der Verschluss in der Bauchschlagader hat sich schleichend entwickelt. So hatte Ihr Arteriensystem Gelegenheit, Umgehungskreisläufe zu entwickeln. Der Radiologe beschreibt in seiner Magnetresonanz-Angiographie Kollateralenbildungen über die Bauchwand- und die Lumbalarterien. Das ist aber letztendlich so, als wenn es beim Wasserwerk keine Hauptleitung gibt, sondern das ganze Wasser ab dem Ursprungsort über dünne Rohre zum Verbraucher geleitet wird. Das kommt schon an, aber halt langsamer und mit weniger Druck."

    Als sich der Mann auszog, damit K. ihn untersuchen konnte, zeigte sich ein erbärmliches Bild. Der Patient stand wacklig auf den Beinen, dünn wie Streichhölzer. Die Schlüsselbeine traten hervor wie Haltegriffe . Die Halsmuskulatur existierte so gut wie gar nicht mehr. Er zitterte wie Espenlaub. Das Herz raste und der Blutdruck lag trotz Untergewicht bei 210/120 mmHg. Die Fußpulse waren nicht mehr tastbar.

    Ich muss aufpassen, dass mir der hier nicht in meiner Praxis abschmiert, dachte sich K. und ging ganz behutsam vor. „Machen Sie langsam, ich habe viel Zeit", beruhigte er.

    Nachdem sich das Häuflein Elend wieder angezogen hatte, nahm der Mann die Stufen zwischen Untersuchungsraum im Souterrain und Besprechungszimmer im Erdgeschoss recht zügig. Das gelang aber nur dadurch, dass er sich am Handlauf hoch zog. Oben aber musste er sich sofort hinsetzen, weil ihm die Beine den Dienst versagten.

    „Es ist völlig illusorisch, dass Sie wieder arbeitsfähig werden, stellte K. fest. „Es ist für mich sowieso schleierhaft, wie Sie so lange Ihren Job als Lagerist durchhalten konnten. Da hilft nur noch eine Operation.

    „Die Wegstrecken im Lager waren nicht so lang. Ich bin auch viel Stapler gefahren. Wenn schwere Sachen zu heben waren, dann hat man mir geholfen."

    „Warum sind Sie denn erst so spät zum Spezialisten gegangen? Sie kennen doch schon seit Jahren Ihre Grunderkrankung."

    „Mein Hausarzt hat gesagt, dass wir das schon hinkriegen würden."

    „Wissen Sie was, möglicherweise ist es jetzt zu spät. Ihre Appetitlosigkeit kommt von der Minderdurchblutung Ihrer Darmgefäße. Sie sind dadurch an den Rand einer Kachexie gekommen, denkbar schlechte Voraussetzung dafür, eine Operation zu überstehen. Bei Ihnen muss eine sogenannte Y-Prothese eingesetzt werden, das heißt, es wird der verstopfte Teil der Aorta mit den daran hängenden Anfangspartien der Beinarterien durch ein künstliches Gefäßstück ersetzt. Was nicht ganz ungefährlich ist. Durch die plötzlich wieder ungehinderte Durchblutung kann sich ein sog. Postischämiesyndrom entwickeln. Dabei kommt es zum Schock oder zum Nierenversagen. Ich weiß nicht, ob Sie einen Gefäßchirurgen finden, der sich bei Ihrem Ernährungszustand an eine so schwierige Operation heran wagt."

    Obwohl, dachte sich K., irgendwo gibt es immer einen Chirurgen, der sich so mächtig fühlt, dass er das Risiko eingeht, der Patient muss nur ja sagen. Doch im vorliegenden Fall bezweifelte K., dass seitens des Patienten Bereitschaft für einen operativen Eingriff bestand. Der Mann würde sich draußen erst mal eine Zigarette anzünden und zu Hause einen Schluck aus der Pulle nehmen. Und K. konnte ihm das bei der schlechten Prognose auch gar nicht verübeln.

    Wenn er doch nur die Fersen etwas anheben könnte, wünschte sich K., als der Mann aus der Praxis hinaus hatschte.

    2. Sternhagel

    Der Mann war groß, kräftig und braun gebrannt. Die leicht gelockten brunetten Haare hatte er streng nach hinten gekämmt. Durch die tiefen Geheimratsecken entstand der Eindruck einer flach gelegten Irokesenfrisur. Der Bart war nach Manier eines D’Artagnan gestutzt. Er hatte eng anliegende Handschuhe an, blau und teilweise mit abgeschnittenen Fingerenden. Er trug nagelneue Sneaker von Ascis und lief irgendwie schwer.

    „Wir wohnen direkt am Waldrand", sagte er. „Das ist ideal für unsere Hündin, ein Weimaranerweibchen. Nur ein paar Schritte, und sie ist in der Natur. Sie ist die ganze Zeit dabei herumzuschnüffeln und Fährten aufzunehmen. Ein Paradies. Und dann kam die kälteste Nacht des Jahres. Es hatte noch dazu ausgiebig geschneit. Der Schnee, das war etwas völlig Neues für sie. Sie spielte damit, warf Schneeschollen mit ihrer Schnauze nach oben, leckte das Eis und war außer Rand und Band. Als ich in unser Haus zurückkehrte, hatte sich meine Frau bereits zu Bett begeben. Sie hatte schon den ganzen Tag lang über Migräne geklagt. Ich setzte mich vor den Fernseher, es lief Wetten dass. Als die Sendung rum war, ging ich auf die Terrasse, um noch eine zu rauchen. Ich schaute hinauf zum Himmel und war überwältigt von der Sternenpracht. Noch nie hatte ich so viele Lichter am Firmament gesehen. Die Streustrahlung der zwei Großstädte in der näheren Umgebung war in dieser Nacht geringer als sonst. Ich schaute auf das Außenthermometer. Es zeigte minus 21 Grad an. Und da kam mir die romantische Idee, in dieser hinreißenden Nacht noch einen Spaziergang zu machen. Ich zog mich also warm an und nahm einen Schluck aus der Flasche, um sozusagen auch etwas innere Wärme zu tanken."

    „Was war das denn für eine Flasche?"

    „Es war ein Zwetschgenschnaps. Die Flasche stand schon ewig bei uns in der Vitrine. Ich trinke so gut wie nichts, höchstens zu Geburtstagen oder zu Weihnachten, aber auch dann nicht mehr als ein, zwei Gläser Bier oder Wein."

    „Und was war Ihr Plan?"

    „Ich hatte keinen richtigen Plan. Da war nur das Bedürfnis nach Naturerleben. Mein Vater war Angler und mein Großvater war Jäger. Die Naturverbundenheit liegt mir im Blut. Ich nahm also noch einmal den Weg, den ich vorher mit dem Hund gegangen war. Der Himmel war unbeschreiblich."

    „Und wo war die Schnapsflasche?"

    „Die hatte ich in die Manteltasche gesteckt, für unterwegs. Vielleicht noch einen Schluck zum Aufwärmen."

    „Was war das denn für eine Flasche, ein kleiner Flachmann?"

    „Nö, wie soll ich sagen, das war eine normale Schnapsflasche mit 0,33 Litern Inhalt."

    „Okay, eine ungewöhnliche Größe. Und was passierte dann?"

    „Am Ende des Parcours befindet sich eine Bank. Auf die habe ich mich gesetzt und fasziniert den Sternenhimmel betrachtet."

    „Wie viele Kilometer ist denn die Bank von Ihrem Haus aus entfernt?"

    „Das kann ich nicht genau sagen. Vielleicht einen Kilometer oder zwei."

    „So, und dann haben Sie noch einmal in die Flasche geschaut."

    „Kann sein, dass ich einen weiteren Schluck genommen habe. Jedenfalls ist die Bank das Letzte, an das ich mich erinnern kann. Erst drei Tage später wachte ich auf. Ich lag auf der Intensivstation."

    „Was war in der Zwischenzeit passiert?"

    „Ich weiß es nicht genau. Ich kann mich nur auf die Aussagen von anderen Personen stützen. Ein Spaziergänger fand mich am nächsten Morgen im Wald. Ich lag im Schnee. Auf meiner Jacke fand sich Erbrochenes. Das sprach für eine Gehirnerschütterung."

    „Eine Gehirnerschütterung? Hat man denn eine Kopfverletzung gesehen?"

    „Da war gar nicht nachgeschaut worden."

    „Mh, wissen Sie, was eine ziemlich sichere Methode ist, einiger maßen kommod aus dem Leben zu scheiden?"

    „Nein."

    „Sie lassen sich volllaufen und gehen dann in die Kälte hinaus. Zunächst sorgt der Alkohol dafür, dass Ihre Haut besser durchblutet wird. Sie fühlen sich trotz Minustemperaturen behaglich. Die Wärmezufuhr aus dem Körperinneren erschöpft sich aber. Im weitern Verlauf kommt es unweigerlich zur Unterkühlung. Müdigkeit und Benommenheit begünstigen einen unkritischen Umgang mit der prekären Situation. Man legt sich hin und wenn man aufwacht, ist man tot."

    „Interessant, das wusste ich bislang noch nicht. In der Klinik stellten sie aber fest, dass ich mir große Blutergüsse an meiner linken Flanke zugezogen hatte. Zusammen mit der Gehirnerschütterung sprach das alles für einen Sturz. Irgendeine Spurrinne oder ein Ast unter der Schneedecke."

    „Wie auch immer, es ist nicht meine Aufgabe Kausalanalysen durchzuführen. Wie ging es weiter?"

    „Der Spaziergänger informierte die Notrufzentrale. Der Notarzt versuchte, mich zu reanimieren, beziehungsweise meinen darniederliegenden Kreislauf wieder anzukurbeln. Es kam zu Komplikationen, weil vermehrt kaltes peripheres Blut in die zentrale Blutbahn gelangte. Das senkte die Körperkerntemperatur noch weiter ab. Sie sagten mir, dass die bei 23 Grad gelegen hätte. Es trat mehrfach Kammerflimmern auf. In der Intensivstation wurde ich in ein künstliches Koma versetzt und an so eine Art Herz-Lungen-Maschine angeschlossen."

    „Das war sicherlich die extrakorporale Membranoxygenierung. Damit kann man den Körper mit Sauerstoff versorgen und das angefallene Kohlendioxid ableiten. Außerdem gelingt die langsame Steigerung der Körperkerntemperatur. Da haben Sie aber Glück gehabt, dass die in der Klinik eine solche Maschine parat hatten."

    „Ja, da habe ich großes Glück gehabt. Und dann hatte ich noch mal Glück. Als ich nach vier Tagen von der Intensivstation auf die normale Station verlegt wurde, sagten mir die Ärzte, dass mir wahrscheinlich beide Hände und beide Füße abgenommen werden müssten. Ich hatte mir Erfrierungen dritten Grades zugezogen. Die letzte Entscheidung bezüglich der Amputationen würde man aber gerne den Kollegen in

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