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Sin.n.e
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eBook419 Seiten5 Stunden

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Über dieses E-Book

Was, wenn du eines Tages erfahren würdest, dass da mehr ist, als du dir jemals zu träumen gewagt hättest? Du Zutritt zu etwas erlangen könntest, das es nicht geben dürfte? Würdest du es wagen, andere dafür zu kontrollieren?
Vielleicht bildest du dir irgendwann ein, dass es nicht richtig ist, was du tust und dass du nicht verdienst, was du erhältst. Wie auch immer du dich in derselben Situation entschieden hättest, dies ist die Geschichte von Cord, der es gewagt hat.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Juli 2017
ISBN9783745096330
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    Buchvorschau

    Sin.n.e - Danie Novak

    SIN.N.E

    Danie Novak

    Text und Cover Copyright © 2017 Danie Novak

    Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

    Cord

    1.

    Die dunklen Flecken an der Decke waren gewachsen. Morgen würde er sich endlich dazu aufraffen müssen, dem ungewaschenen Arschloch von Stock vier die Leviten zu lesen.

    Cord schälte sich aus seiner dünnen Bettdecke und setzte Kaffee auf. Bis die kleine, silberne Espressokanne das erwünschte Blubbern von sich geben würde, war Zeit genug die Zeitung von der Fußmatte aufzuklauben. Routine. Tür öffnen, bücken, Tür schließen. Im Stiegenhaus war es eiskalt. Irgendjemand hatte einmal mehr vergessen, über Nacht das riesige Fenster im Gang zu schließen. Cord überflog die erste Seite der offiziell unpolitischen Tagespresse und beförderte das Teil auf die Kommode im Vorzimmer. Er schlüpfte in ein frisches Paar schwarzblauer Jeans und zog sich das Hemd über, das er sich letzte Woche für genau diesen Tag besorgt hatte.

    Das behagliche Glucksen der Kaffeekanne hatte sich längst in ein warnendes Brodeln und Fauchen verwandelt, als er in die Küche zurückkehrte, um in der Brotbox nach etwas Essbarem zu suchen. Fehlanzeige. Eine schimmeltreibende Toastscheibe und ein nicht weniger unappetitlicher Kornwecken waren alles, was der Inhalt der emaillierten Box zu bieten hatte. Warum hatte er Samstagnachmittag, nach der Extratrainingseinheit, nicht mehr daran gedacht, seine Vorräte aufzufüllen? Stattdessen war er schnurstracks auf seinen Privatparkplatz in der Tiefgarage zurückgekehrt und hatte sich die wenig einfallsreiche DVD eines Freundes reingezogen.

    Die Uhr in der Küche zeigte achtzehn Minuten nach Acht. Zweiundvierzig Minuten und Cord würde dem Scharfrichters jener schwerprogressiven Firma mit dem eingängigen Namen »Deep Space« gegenübertreten. Würde in den verstaubten Winkeln seines ins Abseits geratenen Selbstbewusstseins nach Argumenten suchen, die ihn allein als den einzig wahren Kandidaten für die Position des Webdesigners auszeichneten. Auszeichneten. Cord hatte denkbar wenig Lust dazu, das Ganztagshakeln in der Firma des besten Freundes seines Onkels anzutreten. Es war Pflicht, keine Kür. Und hätte seine Freundin ihn nicht bekniet, seine Eltern ihn in ihre sanfte Mangel genommen und sein ältesten Kumpel so beiläufig mit den Schultern gezuckt, hätte die Welt ihn vielleicht an einer anderen Stelle verschluckt.

    Doch noch einmal würde man ihm das nicht gestatten. Und das, obwohl es doch gerademal drei Monate gewesen waren. Drei Monate, in denen er durch das südliche Amerika getrampt war, eine Idee für eine eigene Firma geboren hatte und sie sogleich wieder verworfen hatte. Drei Monate, in denen er die Freiheit des freien Denkens erfahren hatte und süchtig geworden war. Monate, die wie ein einziger Wimpernschlag in sich zusammengefallen waren und sein Selbstwertgefühl in der Luft zerrissen zurückgelassen hatten.

    Cord goss den schwarzen Kaffee in die angeschlagene Tasse und stürzte die bittere Flüssigkeit in einem einzigen Schluck hinunter. Noch ein kurzer Abstecher ins Bad, wo er gerade mal das Nötigste über sich ergehen lassen würde und er hatte es geschafft.

    Cord warf einen kritischen Blick in den Spiegel und sah zu, wie die dunkelblonden Strähnen so beiläufig hinter den langweiligen Ohren landeten. Sein mittelmäßiges Gesicht starrte ihm teilnahmslos aus dem Jenseits entgegen, bis es sich auf einmal selbst zuzwinkerte und die graublauen Augen für einen Moment dem Rest der Visage die Show stahlen.

    Laut klirrend zog Cord den Autoschlüssel über die Glasplatte des Vorzimmertisches und klemmte sich seine Jacke unter den Arm. Etwas in seiner linken Brusttasche gab einen dezenten Ton von sich, unterstützt von einem verstimmten Brummen.

    Memo an dich selbst: Du hast nur noch knappe dreißig Minuten!! Ich hoffe, du bist schon auf dem Weg!!

    Das war er nicht. Ungehalten steckte Cord das kantige Ding zurück in seine Brusttasche. Eine Brusttasche. Daran könnte er sich gewöhnen. Nicht jedoch an den Kragen, die kleinen Knöpfe und die Tatsache, dass er sich wie das letzte Stück Fleisch fühlte, das in einem Hemd dieser Art Platz finden sollte.

    Zwei Stiegen auf einmal nehmend eilte Cord die Treppe hinab ins Untergeschoß und öffnete die schwere Eisentür zur Tiefgarage. Der eiskalte Geruch von Treibstoff und frischer Farbe bezog augenblicklich Stellung im Bereich seiner Nasenwurzel und automatisch tastete Cord nach dem rechteckigen Päckchen in seiner rechten Gesäßtasche.

    Fehlanzeige, die zweite. Kurz hatte er verdrängt, dass sein Ich von gestern dem Ich von heute dieser, wie auch immer, schlechten Angewohnheit einen Riegel vorgeschoben hatte. Aus dem zäh tropfenden Sumpf seiner Erinnerungen tauchte die eine Szene, die zu dieser Restriktion geführt hatte, vor seinem geistigen Auge auf. Es war auf der letzten Familienfeier gewesen, als sein Onkel Herby ihn kurz zur Seite genommen und vor dem pedantischen Nichtrauchertum des Personalchefs gewarnt hatte. Diana hatte still neben ihm gestanden und immer wieder zustimmend mit dem Kopf genickt. Übelkeit und der Wunsch nach einer Zigarette in genau diesem Moment hatten sich wie ein grauer Schleier zwischen ihn und seinen Onkel gelegt. Selbst seine Freundin war zum Teil dahinter verschwunden. Aus keinem besonderen Grund erinnerte Cord sich nicht mehr an den Rest des Abends, aber irgendwann in den Tagen darauf war es dann passiert. Diana hatte ihn einen planlosen Phlegmatiker genannt und überstürzt seine Wohnung verlassen.

    Cord öffnete die Tür zu seinem Wagen und schloss für eine Sekunde die Augen. Noch zwanzig Minuten. Er würde mindestens fünfundzwanzig brauchen. Um diese Tageszeit vielleicht mehr. Cord legte den Gang ein und trat etwas flott den Weg zur Auffahrt an. Ein grüner Fiat kam ihm aus dem Nichts entgegen und Cord stieg abrupt in die Bremsen. Na klar. Gerade heute musste die sonst so verlassene Tiefgarage aus dem Dornröschenschlaf erwachen. Seelenruhig hatte sich auch noch ein grauer BMW vor ihn gesetzt und tuckerte nun langsam die Ausfahrt empor. Oben angekommen hielt der Fahrer für eine geschlagene Minute am Gehsteigrand, bevor er das riesige Loch nutzte, das sich vor ihm im Straßenverkehr aufgetan hatte. Cord fluchte und dachte angestrengt über eine flottere Route nach. ‚Eventuell wenn er,...‘ Seine Hand ging auf dem abgegriffenen Leder seines Lenkrads nieder. Es hatte keinen Zweck hatte. Die direkte Route war nun mal auch die schnellste und er hatte denkbar wenig Spielraum für Experimente. Unermüdlich schob ihn die Viskosität des städtischen Verkehrs vor sich her durch dichtverbaute Flächen bis an sein Ziel.

    Fünf Minuten nach neun fuhr Cord auf dem kleinen Firmenparkplatz ein und parkte seinen Wagen direkt beim Eingang über dem in zukunftsweisendem Design die dunkelblauen Lettern »Deep Space« prangten. Eilig lief er die wenigen Stufen in den ersten Stock hinauf und nahm vor der Tür des Personalchefs Platz.

    Auf einem kleinen Tisch lagen ordentlich aneinandergereiht einige Computerfachzeitschriften. Schräg neben ihm hatte ein rothaariger Blickfang mit übereinandergeschlagenen Gazellenbeinen Platz genommen und saß in eines der Magazine versunken da. Cord warf einen Blick auf den Titel und blieb an den bordeauxfarbenen Fingernägeln seiner Konkurrentin hängen. Für einen Moment hatte er Mühe, seine Aufmerksamkeit irgendeiner anderen Sache, als ihrer markanten Person und den außerordentlichen Attributen, die sie dazu nominierten, zuzuwenden. Der Raum, der sie beide umgab, enthielt wenig dekorativen Inhalt. Die Wände der kleinen Nische im Gang waren in Weiß gehalten und nur ein einzelner, orangefarbener Farbstrich führte, unterbrochen von grauen Türstöcken, zu beiden Seiten in die Unendlichkeit. Die gummiartigen Blätter der Pflanze zwischen ihnen schimmerten wie aus einem Wohnhauskatalog in einheitlichem Dunkelgrün und wurden allem Anschein nach einwandfrei versorgt.

    Cord rutschte auf dem tiefliegenden Stuhl nach vor, bis seine Knie die scharfe Kante des Tisches zu spüren bekamen, und wandte sich ihr zu.

    „Schon jemand bei ihm?"

    Die Rothaarige nickte kurz und schenkte ihm nicht mehr als ein höfliches Lächeln über den Seitenrand ihres Hochglanzprodukts. Cord ließ seine Bewerbungsunterlagen auf den Tisch vor ihm gleiten und massierte seine Finger. Seine Hände zitterten leicht. Der Nikotinentzug, beruhigte er sich selbst und suchte nach einer Position, in der es möglichst wenig auffiel.

    Die rote Erscheinung räusperte sich verhalten und legte das Magazin zurück auf den Stapel neben seinen Unterlagen. Mit makelloser Eleganz fischte sie sich ein nächstes und vertiefte sich darin. Ihre kurzen Haare saßen perfekt. Der modische, halblange Rock unter der blütenweißen Bluse wirkte jugendlich und verhalten zugleich. Es stand außer Zweifel, rein optisch hatte sie den Vogel abgeschossen. Cord konnte nur hoffen, dass der Personalchef eventuell auf die Frauenquote pfiff und tatsächlich allein dem vielerorts üblichen Vitamin B den Vorzug gab.

    Die Unterarme auf die Knie gestützt, machte es sich Cord auf der rein zweckmäßigen Sitzgelegenheit so gut es ging bequem und betrachtete das wenig inspirierende Muster der Linoleumfliesen zu seinen Füßen.

    Nach endlos langen zwanzig Minuten öffnete sich die Tür und ein älterer Herr trat, gefolgt von zwei jüngeren Männern, aus dem Büroraum dahinter. Er verabschiedete sich von ihnen und nickte Cord und dem fuchsigen Prachtexemplar wohlwollend zu. Mit einer einzigen, eleganten Bewegung erhob sie sich von dem kantigen Plastikteil und kam zu ihm getreten. In einer weit höheren Stimmlage als erwartet, riss er Cord aus seinen Gedanken.

    „Sie sind auch gemeint, junger Mann. Wie ihnen gerade eben vielleicht nicht entgangen ist, bevorzuge ich den Trialog."

    Trialog. Das passte hierher, in diese unendlichen Weiten der medialen Avantgarde. Cord rappelte sich deutlich weniger anmutig von seinem Stuhl hoch und gesellte sich zu ihnen. Die Aussicht mit Rotkäppchen gemeinsam ins Kreuzverhör genommen zu werden, ließ seine kühnsten Erwartungen zu einem läppischen Klumpen Hoffnung zusammenschrumpfen. Möglichst gelassen folgte er den beiden in das kleine Büro und nahm auf einem der Stühle an dem großen Schreibtisch Platz.

    2.

    Cord konnte nicht sagen, was dort oben, in dem luftarmen Raum des Personalchefs soeben passiert war. Das Gespräch war allerhöchstens mittelmäßig verlaufen und die junge Frau zu seiner Linken hatte ihm, seiner Meinung nach, in so ziemlich allen Belangen die Show gestohlen.

    Cord selbst hatte die meiste Zeit über in dieser dynamischen, aber unbequemen Haltung auf dem Sessel verharrt und sämtliche Fragen, die man an ihn gerichtet hatte, mit einer öden Ehrlichkeit beantwortet, die nicht einmal das anspruchsloseste Erdmännchen aus seinem Bau gelockt hätte. Dennoch hatten ihn die aufmerksamen Augen des Personalchefs stets unvoreingenommen ins Visier genommen und eine Frage ehrlichen Interesses an die nächste gereiht. So gut wie alles an der ganzen Situation hatte Seltenheitscharakter besessen.

    Irgendwann, war es eine Stunde oder mehr gewesen, hatte man sie beide genauso galant, wie die Kandidaten zuvor, vor die Tür gesetzt und taktvoll den nichtssagenden Wänden des Ganges übergeben.

    Ohne ein weiteres Wort hatte Rotkäppchen die Treppe ins Erdgeschoß genommen und war durch die gläserne Flügeltür ins Freie verschwunden. Cord hatte seine schläfrigen Beine zur Eile getrieben, nur um im letzten Moment dem panischen Drängen seiner Blase nachzugeben. Als er zwei Minuten später aus der Toilette gekommen war, hatte er nur noch beobachten können, wie das Heck ihres buttergelben Minicooper vom städtischen Mittagsverkehr verschluckt worden war.

    „Bescheuerte Tussi!", schimpfte Cord, als er wieder in seinem Wagen saß und den Motor startete. Er konnte jedoch nicht genau sagen, auf wen von ihnen beiden er sich tatsächlich bezog.

    Die kleine Digitaluhr in seinem Ford zeigte 10 Uhr 45 und sein Magen machte sich mit einem deutlichen Krächzen bemerkbar. Als er sich endlich außer Sichtweite währte, zündete er sich eine Zigarette an und atmete tief durch.

    Er hatte es versucht und er hatte sein Bestes gegeben. Cord hatte sich nichts vorzuwerfen. Dennoch zehrten die Anstrengungen des Vormittags an seinen Nerven und er hatte das Gefühl, die Anspannung auf der Stelle in Energie umwandeln zu müssen.

    An einem ihm unbekannten Park hielt er an und sah aus dem Fenster. Schüler einer angrenzenden Schule hatten sich in kleinen Gruppen hinter dem fragwürdig hohen Maschendrahtzaun postiert und bibberten in der Kälte. Cord stellte den Motor ab, zog sich seine Jacke über und stieg aus dem Wagen. Frischer Wind gepaart mit einer Idee des herannahenden Frühlings schlug ihm entgegen. Gemächlich schlenderte Cord den Gehsteig bis zum Eingang des Parks entlang. Bis auf einige Hundebesitzer und jene, die es mal waren, wirkte der Park inmitten der endlosen Fronten wie leergefegt. Das kahle Buschwerk zwischen den immergrünen Nadelbäumen gab der Trostlosigkeit seinen Zündstoff.

    Cord setzte sich auf eine abseits gelegene Bank zwischen zwei Rotföhren und zündete sich seine zweite Zigarette an. Ungewollt verfingen sich seine Gedanken in der Vergangenheit. Diana. Eine hatte sie in ihrer Gegenwart stets akzeptiert, zwei hintereinander hingegen hatte sie bereits den Beginn einer Kette genannt. Cord musste schmunzeln und inhalierte das beruhigende Kraut und mit ihm die Freiheit, die ihm von jetzt an zustehen würde. Würde sie das? Rein objektiv gesehen, konnte er nicht sagen, wo in der komplexen Welt der Beziehungsebenen sie sich gerade befanden. Seit Dianas übereiltem Verschwinden hatten sie nur noch oberflächliche Floskeln auf ihren smarten Begleitern ausgetauscht und sein Interesse an ihr war zu einem Tiefststand gesunken. Die elendige Wahrheit war, Cord wartete nur noch darauf, dass sie ihm endlich ein für alle Mal den Laufpass gab.

    Entspannt ließ er seinen Blick über die zertretenen Wiesen gleiten, beobachtete Hund und Frauchen Herrl dabei, wie sie den periodischen Gang ins Freie über sich ergehen ließen. Alles Routine. Beschissene, ewig wiederkehrende Routine. Für Mensch und Tier.

    „Kannst du haben, du feige Sau!"

    Cord wandte den Kopf und verfolgte ein zusammengeknülltes Stück Papier, das neben ihm im Mistkübel landete. Eine junge Frau hielt ihr Mobiltelefon zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und kramte in ihrer Umhängetasche. Nach einem mürrischen Blick ins Innere des Stoffbeutels, gab sie ihr Vorhaben auf und trat den Rückweg an. Doch nach wenigen Schritten drehte sie sich plötzlich um und sah Cord direkt ins Gesicht. Die schwarzen Augen funkelten und er spürte, wie sie sich zu dem aufgesetzten Lächeln hatte zwingen müssen, wie zu einem Schnaps, in den jemand ein rohes Ei geleert hatte.

    „Hättest du eventuell eine für mich?"

    Cord hielt ihr das Päckchen hin und sie zündete sich die Zigarette an, indem sie sich von ihm und dem stärker werdendem Wind abwandte.

    „Danke."

    „Keine Ursache."

    Sie schenkte ihm ein erstes aufrichtiges Lächeln und hob den Arm zum Gruß. Auf halber Höhe setzte die Schwerkraft ein und der Arm in dem grauen Ärmel sackte zurück in ihre Manteltasche.

    Cord fröstelte. Dennoch hatte er noch keinen Plan, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Den Aushilfsjob im Fahrradshop eines Freundes hatte er für heute ausgesetzt. Seine höchstwahrscheinlich zukünftige Ex kam nicht in Frage. Ebenso wenig sein Bruder, der, wie man es von jemandem in seinem Alter und mit seinem gesellschaftlichen Status erwartete, einer geregelten Beschäftigung nachging. Cords schwangere Schwester war vor wenigen Monaten zu ihrem Freund nach Deutschland gezogen. Der Rest der Belegschaft würde bis zum Abend wohl ebenfalls unerreichbar bleiben.

    Mit den Fersen malte Cord Muster in den erdigen Boden und beobachtete noch einmal das Spiel der Hunde. Als einer zu ihm gelaufen kam, kraulte er ihn am Kopf und klopfte ihm an die Seite. Er mochte Hunde. Er mochte Tiere. Sie waren unkompliziert und direkt. So anders als Menschen.

    Etwas steif erhob sich Cord von der Bank und wanderte zum anderen Ende des Parks, wo der Ausgang beinahe direkt in einen türkischen Supermarkt zu münden schien. Cord besorgte sich eine kleine Stärkung und schlenderte weiter durch die ihm unbekannten Schluchten und Täler in diesem Teil von Wien. Lärmende Kinder schossen an ihm vorbei und ein kugeliges mit roten Backen entschuldigte sich rotzfrech, nachdem es Cord mit voller Wucht am Arm erwischt hatte.

    Sein Mobiltelefon spielte die stimmige Nummer, die anzeigte, dass es sich um einen Familienangehörigen handelte und Cord hob ab.

    „Ja?"

    „Ganz ok."

    Er nahm einen langen Zug und schickte die graue Wolke von Nummer drei dem unverschämt blauen Himmel entgegen.

    „Nein. Habe ich nicht. Sonst noch was?"

    „Bin ich nicht. Mama..."

    „Ist gut, bis demnächst."

    Während des kurzen Gesprächs hatte ein unscheinbares Klickgeräusch den gleichzeitigen Anruf seiner Freundin angezeigt. Ein leises Klicken. Nur das. Vor dem Gewitter dahinter hatte es ihn tunlichst verschont. Cord ignorierte ihren Anruf und schob den Rückruf auf seiner Liste der unangenehmen Dinge weiter nach hinten.

    Cord

    3.

    Die Wohnung wirkte einsam und verlassen, als er am späten Nachmittag zu ihr zurückkehrte. Cords Onkel hatte ihn überraschend auf einen ausgiebigen Lunch beim Italiener eingeladen und ihm druckfrisch von den rosigen Aussichten berichtet, die ihn offenbar ohne den geringsten Umweg erreicht hatten. Zwischen Rückwand und Tischplatte geklemmt, hatte sich Cords Hemd immer enger um seine Brust gelegt und seine ruhelosen Finger waren bald unter der schweren, dunkeln Tischplatte verschwunden.

    „Freddy hat mich gleich nach seinem Gespräch mit Magister Gunther angerufen. Und du bist definitiv unter den Top-Drei."

    Sein Onkel nahm einen doppelten Bissen seiner Pizza Diavolo und steckte ihn sich genüsslich in den Mund.

    „Hast dich auch fein rausgeputzt."

    Mit der Gabel markierte Onkel Herby die Strähnen seiner Haare, die dem Gel sei Dank noch immer an Cords Kopfhaut klebten, wie eingetrocknete Nudeln im Kochtopf. Cord würgte einen letzten Happen Pasta hinunter und spülte mit einem großen Schluck Bier nach.

    „Na, was sagst du!? Das ist doch was für dich!? Geradezu ideal!"

    Cord musste zugeben, dass er sich darüber bisher noch wenig Gedanken gemacht hatte. Der Job entsprach seinem Profil. Er entsprach seinem Können. Seiner Ausbildung. Aber entsprach er auch seiner Persönlichkeit?

    „Klar. Aber ich möchte mich nicht zu früh..."

    „Hah! Selbstverständlich, aber keine Sorge..."

    Wie immer, konnte sich Onkel Herby einen seiner unvermeidlichen Gesichtsausdrücke aus diesen schwermütigen Schinken nicht verkneifen und Cord kam nicht umhin, dem Mienenmassaker gehorsam standzuhalten.

    „...unter uns, hast du den Job so gut wie in der Tasche."

    „Ich bin mir da nicht so sicher. Die Konkurrenz war doch..." Cord suchte nach Worten, um der Erscheinung dieses fuchsroten Fabelwesens und ihrer makellosen Nägel auch nur annähernd Genüge zu tun. Es klappte nicht.

    „...naja, auffallend gut."

    Onkel Herby, der gerade noch den Paten gemimt hatte, lachte ungezügelt auf.

    „Und wie es das Schicksal so will, weiß ich diesbezüglich auch etwas mehr als du. Freddy plant für sein nächstes Großprojekt gleich zwei Webdesigner einzuschulen."

    Das hatte gesessen. Mit einem Mal konnte sich Cord zum ersten Mal echte Chancen ausrechnen. Chancen, die zu einem winzigen Teil sogar auf seinem eigenen Mist gewachsen sein könnten. Er leerte sein Glas Bier in einem letzten Schluck und spielte mit dem Gedanken, ein drittes zu bestellen.

    Die leicht muffelnde, unaufgeräumte Küche lechzte nach seiner Aufmerksamkeit. Cord ließ die Bewerbungsunterlagen auf den Küchentisch fallen ließ und sackte auf den Sessel daneben. Selbst wenn er genug Zeit dafür hätte freischaufeln können, hätte er sie anders genutzt. Doch das Training würde um fünf beginnen und es gab noch etwas, dass seine Gefälligkeit benötigte.

    Diana. Der ereignisreiche Vormittag hatte Cord bisher davor verschont, sie zurückzurufen, doch nun schwebten ihre verpassten Anrufe wie dunkle Gewitterwolken über seinem Gemüt. Verpasste Anrufe, „Anrufe" waren etwas, das nicht zu ihr passte. Einmal, dann ließ es bleiben. Diana war die Art von Frau, die es sich stets hatte leisten können, niemandem nachzulaufen. Schwachsinnig wie er gewesen war, hatte er genau das getan. Cord war ihr nachgelaufen. Hatte sie angehimmelt und sie umgarnt wie eine affektierte Heldin. Irgendwann war sie dann schwach geworden. Hatte es auf seine blauen Augen geschoben und die unvermeidlichen Lachfalten um seinen Mund.

    „Diana?"

    Seine Knöchel bohrten sich in seine Stirn. Der Beginn ihrer Mailboxansage hatte ihn schon mehr als einmal aufs Glatteis geführt.

    „Hey. Hör zu, ich muss gleich zum Training, aber wenn‘s ok ist, meld‘ ich mich später bei dir? Gut, dann... bis später."

    Cord hasste seine Mailboxmeldungen. Er hasste seine Stimme am Telefon. Nur selten klang sie annähernd so, wie er es sich vorstellte. Schnell packte er frisches Gewand in die dunkelblaue Sporttasche und verließ das Wohnhaus durch die Eingangstür im Erdgeschoß.

    „Hey Cord! Ultimate Frisbee again?"

    Cord nickte und erntete eine Handbewegung, die wohl so etwas Ähnliches wie Anerkennung und Coolness ausdrücken sollte. Der etwa achtzehnjährige Afghane sprang die wenigen Stufen in den ersten Stock hinauf und verschwand in der Wohnung, aus der zu so gut wie jeder Tageszeit aromatische Gerüche drangen.

    Cord nahm die U-Bahn zu der modernen Trainingshalle, inmitten einer weitläufigen Wohnhausanlage und begrüßte seine Mitstreiter in der Umkleidekabine.

    „Paul schafft‘s heute nicht. Kein Babysitter oder so ähnlich."

    Georg zog das dunkelgrüne Shirt über und stopfte sich einen Müsliriegel in den Mund. Seit Paul Vater geworden war, hatte sich vieles verändert. Sie waren kein eingeschworenes Team mehr. Waren seither mehr oder weniger wie die vier Säulen einer einbruchsgefährdeten Konstruktion, die es sich nicht eingestehen wollte, dass der Zahn der Zeit an ihnen nagte. Cord konnte nicht leugnen, dass er sie vermisste, jene unbeschwerlichen Abende, die Ideen einer Fortsetzung, die es von seinem jetzigen Standpunkt aus kaum zu erreichen gab.

    Etwas matt trottete er hinter Leo in die grell beleuchtete Halle hinauf. Die Aussichten eines ruhmreichen Trainings waren diesmal alles andere als rosig. Sein rechter Knöchel spielte den eingebildeten Kranken und Cord bezweifelte stark, dass ihn die gierig eingeworfene Mahlzeit vorhin in irgendeine andere Richtung ziehen würde, als nach unten.

    Und er sollte Recht behalten. Das Aufwärmtraining nahm kein Ende und das Freundschaftsspiel danach versetzte ihm und seinem Team einen herben Schlag in die Magengrube.

    „Na, das haben wir ja grandios an die Wand gefahren! Oder wie es unser Trumpianer Paul formuliert hätte: «Männer, wir haben richtig abgelost!»"

    Cord schenkte Leo und seinem unerschütterlichen Humorzentrum einen vernichtenden Blick. Dennoch brachte dieser es noch fertig, mit einem letzten, unpassend einsetzenden Energieschub die übrige Truppe dazu zu überreden, das Trauerspiel in der nahegelegenen Bar zu begießen.

    Gemeinsam mit den Mädels aus der anderen Garderobe machten sie sich auf in die ehemalige Spielhölle, die, wenn es nach dem Betreiber der Wohnhausanlage ging, wohl bald einer Spielhalle für Milchtrinker würde weichen müssen.

    Anders als in Cords womöglich zukünftiger Firma stellte sich die Frage nach Raucher- oder Nichtrauchertum hier nicht. Hatte man ein Problem mit der dicken Luft, wurde man von dem brummigen Betreiber auf das pinklastige Szenetreff gegenüber verwiesen. Aktuellen Gesetzeseinfälle hin oder her.

    Cords rechte Hand verschwand in seiner Jeanstasche, noch ehe sich das weiche Polstermaterial an seinen Hintern zu schmiegen begann. Auch der nächste Handgriff saß. Routine. Erneut. Diese allesvereinnahmende, überall lauernde Eintönigkeit.

    „Darf ich mir eine schnorren."

    „Du schuldest mir noch mindestens zwei Packerl."

    „Cord..?"

    „Sicher. Hier."

    Er reichte ihr eine und sie lächelte ihn dankbar an. Nicht schüchtern. Nicht frech. Ein aufrichtiges Lächeln ohne Geschmacksverstärker. Leila schlüpfte aus ihrer Sportjacke und setzte sich zu ihm.

    „Habe Diana vorhin beim Shoppen getroffen. Läuft nicht so, mh?"

    „Nicht wirklich."

    „Hast du ne neue?"

    Cord konnte nur hoffen, dass sie Diana dieselbe Frage gestellt hatte.

    „Nein."

    Leila nickte stumm.

    „Einfach auseinandergelebt."

    Wie langweilig das klang. Wie alltäglich. Cord nahm einen tiefen Zug und drehte das eiskalte Bierglas zwischen den Fingern.

    „Das wird schon wieder!"

    Cord warf ihr einen ungläubigen Blick zu und sie zwinkerte ihn an.

    „Sonst machst du’s einfach wie die Finnen."

    „Und was machen die Finnen so?"

    „Naja, Sauna und dann raus ins Eisloch. Soll Wunder wirken gegen jede Art von Beziehungsengpass."

    Cord bezweifelte das stark und hielt sich lieber an Lateinamerika. Tanzen, Trinken und ab und zu an ortsansässigen Substanzen kauen.

    „Leila?! Dori hat sich gerade gefragt..."

    Leila war abgetaucht. Wie ein Delfin war sie den Rufen auf der anderen Seite des Tisches gefolgt und in die Wogen des neuen Gesprächs eingetaucht. Cord lehnte sich zurück und sah zu Leo hinüber.

    „Wie war’s heute? Irgendwelche Chancen?"

    „Vielleicht, wenn’s nach den Insiderkanälen meines Onkels geht."

    „Tatsache? Nicht schlecht! Wieviel würde da denn so rausspringen?"

    „Anfangs an die zweitausend Netto."

    „Zweittausend haben oder nichthaben!"

    Cord musste ihm Recht geben. Er konnte das Geld gut gebrauchen. Die Ersparnisse in seinem Geldbunker zierten, wenn überhaupt, nur noch den spiegelglatten Metallboden und funkelten ihm verächtlich entgegen.

    Dennoch. Etwas fehlte. Etwas Großes. Etwas Farbiges. Etwas Unfassbares.

    4.

    Cord schlief schlecht in dieser Nacht. Im Schlaf wand er sich durch einen Strudel aus durchwachsenen Träumen, vorbei an starren, unbekannten Gesichtern und fremden Orten. Sein Kopf war zum Bersten gefüllt mit mehr als einem Informationsstrang, den sein Körper in die Ewigkeit zu verbannen versucht hatte.

    Der Rasierer kratzte und malte ihm blutige Sterne ins Gesicht. Im Badezimmerspiegel folgte er den Bewegungen seiner Hand, die hoffnungslos versuchte, dem Jammerspiel ein Ende zu bereiten. Als er fertig war, sah Cord nach der etwa fünf Zentimeter großen Brandblase, die er sich tags zuvor auf dem Handrücken zugezogen hatte. Aber sie war verschwunden. Seine Hände waren makellos, nur ein winziger Kratzer, als er in seinem Kasten nach einer Hose gekramt hatte und dabei an eine hervorstehende Schraube geschrammt war. Keine unschöne Rötung, die dünnwandige Blasen geschlagen hatte.

    Cord suchte in seiner Erinnerung nach einer Erklärung. Er hatte die Szene vor sich. Wie er ohne Handschuhe das Backrohr geöffnet hatte, den Nudelauflauf mit einer Gabel getestet und dabei zu nah an die heiße Kante des Backrohrs geraten war. Nudelauflauf? Gestern Abend hatte er mit Sicherheit nichts Derartiges mehr zustande gebracht. Er hatte um Punkt 23 Uhr die Tür zu seiner Wohnung aufgeschlossen und im selben Moment auf das Display seines Handys gesehen. Ein Anruf in Abwesenheit.

    Verwirrt blickte er sich in der Küche um. Der Anruf! Natürlich hatte er sein Versprechen, Diana nach dem Training zurückzurufen, nicht eingehalten. Zweifelsohne würde sie stocksauer sein. Cord suchte nach seinem Telefon, das sich im Badezimmer auf der weichen Duschmatte unter seiner Hose aalte.

    Ein Anruf. Eine Nachricht.

    Der Anruf war wie erwartet von Diana gekommen. Er öffnete die Nachricht. Die Nummer direkt darüber war ihm unbekannt.

    „Findest du das lustig? Wer bist du?"

    Sonst nichts. Cord starrte auf die wenigen Buchstaben der kurzen Nachricht. Die Versuchung, darauf zu antworten, war groß. Doch noch größer war die Leere in seinem Hirn, was den diesbezüglichen Text anbelangte. Cord tat das erste, das ihm in den Sinn kam. Er tippte die Nummer in ein Onlinetelefonbuch und klickte die stilisierte Lupe rechts davon an.

    »Ihre Suche lieferte 0 Ergebnisse.«

    War ja klar.

    In diesem Augenblick läutete Cords Telefon erneut. Geistesabwesend hob er ab.

    „Ja?"

    „Guten Morgen Cord."

    Ihre Stimme klang wie das Packeis, das sich an die Eisbrecher Sibiriens heftete.

    „Diana! Es tut mir leid..."

    „Spar’s dir. Ich rufe nur an, weil ich von Schlussmache per SMS noch viel weniger halte..." Im Grunde hielt sie nicht viel vom SMS-Schreiben im Allgemeinen. „...also, so wie ich das sehe, sind wir Geschichte."

    Cord atmete möglichst unauffällig aus und stierte zu der Kaffeekanne, die immer noch ungewaschen auf dem Herd auf ihren neuerlichen Einsatz wartete. Er war sich ziemlich sicher, dass er sie ausgewaschen hatte.

    „Wow, mehr kommt da nicht?!"

    Cord riss sich zusammen und dachte angestrengt über eine Antwort nach.

    „Wie gesagt, Diana, es tut mir leid. Vielleicht sollte es einfach nicht sein."

    Ein Klicken und die Leitung war tot.

    Cord warf das Handy auf sein Bett, schlüpfte in T-Shirt und Hose und reinigte die Kaffeekanne ein weiteres Mal. Dabei verfing sich sein Blick an seinen Fingernägeln. Seine Fingernägel waren dunkelblau gewesen. Er wusste das so genau, weil ihn etwas an dem Bild an einen Schwarzindianer der Metal-Szene erinnert hatte oder auch an einen dieser, aus der Mode gekommenen Emotionalen. Cord betrachtete seine Nägel. Keine Spur von Nagellack, egal welcher Farbe.

    Auf dem Tisch lagen die Bewerbungsunterlagen von gestern. Er fischte sich einen Stift aus der Küchenschublade und notierte die Worte «Brandwunde, Nagellack und Nudelauflauf» darauf.

    Das Telefon meldete sich erneut. Es war Magister Gunther, der Personalchef von gestern.

    »Eine gewisse Frau Scarlett Wyss und er werden gebeten, sich morgen um zehn in der Firma einzufinden. Der Firmenchef und sein Adjutant möchten sich gerne höchstpersönlich von ihren Fähigkeiten überzeugen.«

    Scarlett. War das wirklich ihr Name? Sie hatte ihn jedenfalls zum Programm gemacht. Das weißlich glühende Actionmännchen

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