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GLASTRAUM: Die Vision einer besseren Welt
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eBook316 Seiten4 Stunden

GLASTRAUM: Die Vision einer besseren Welt

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Über dieses E-Book

Die evangelische Kirchgemeinde eines Dorfes in der Schweiz hat enorme finanzielle Sorgen. Der Unterhalt für die überdimensionierte Kirche frisst die Einnahmen laufend weg. Ein undurchsichtiger Finanzhai aus Zürich wird in den Kirchenvorstand aufgenommen. Doch die Situation verschlimmert sich trotzdem. Die Rettung könnte der Verkauf eines wundervollen Waldes aus dem Besitz der Kirchgemeinde bringen. Gust und Tobias Fink übernehmen im Auftrage des überforderten Kirchenpräsidenten vertiefte Abklärungen. Sie finden geradezu sensationelle geschichtliche und wirtschaftliche Details über den Wald. Der Herzinfarkt des Präsidenten, eine ungeheure Naturkatastrophe und frivole Abenteuer der Akteurinnen und Akteure bringen das ruhig vor sich hinplätschernde Dorfleben komplett durcheinander. Als Retter in der Not greift ein wohlhabender deutscher Industrie Tycoon den Dörflern unter die Arme.

Doch der wahre Retter kommt in der Form eines Glasbildes von ganz oben.....

Spannung, Unterhaltung, Erotik, Menschliches, Geldgier, Kulturkampf und Fragen zu Fracking und Umweltschutz lassen bestimmt keine Langeweile aufkommen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Aug. 2014
ISBN9783844298130
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    Buchvorschau

    GLASTRAUM - Hans Rudolf Specht

    Die Saalfrage

    In einem grossen Dorf das sich seit Jahren erfolgreich sträubte zur Stadt zu werden, ereignete sich eine bemerkenswerte Geschichte.

    Vor sicherlich zweihundert oder mehr Jahren wurde beim östlichen Dorfeingang eine stattliche Villa mit Gesindehaus, einer Remise mit stilgerechten Stallungen und einem grosszügigen Park samt Springbrunnen erbaut. Die reichen Bürger des damals noch kleinen Dorfes waren Textilfabrikanten, Kaufleute, Fuhrhalter oder Söldner in fremden Kriegsdiensten. Das Gebäude von dem hier die Rede ist, liess sich der Besitzer einer grossen Weberei errichten. Es war in der Tat ein herrschaftliches Ensemble. Das Kellergeschoss der Villa war grosszügig und eine veritable Stickmaschine hätte durchaus Platz darin gefunden. Doch der Bauherr dachte beim Keller in erster Linie an einen geeigneten Aufbewahrungsort für seine exquisiten Weine aus den eigenen Rebbergen im Waadtland. Im Hochparterre bauten die Zimmerleute eine in dunklem Holz getäferte Stube, die nach dem Textilfabrikanten benannt wurde. Dazu kam ein kleiner Saal samt grosser Küche. Das erste Stockwerk umfasste die Stube, Wirtschafts- und Nebenräume. Die dritte Etage nahm die Schlafräume und das Badezimmer auf. Zuoberst im grossen Estrich unter dem ausladenden Dach hausten in zwei engen Zimmerchen die Bediensteten. Im Rest des Dachbodens lagerten die Dinge, für die niemand Verwendung hatte. Bei der Grundsteinlegung wurden feierlich zwei Linden gepflanzt. Den handverlesenen Gästen erklärte der Fabrikant mit einem Glas seines erlesenen Weissweins in der Hand:

    »Ich taufe unser neues Heim auf den Namen Gut zu den zwei Linden Prost!«

    Die Textilindustrie in dem grossen Dorfe das sich heute durchaus Stadt nennen könnte, blühte und schwelgte in ihrem Reichtum. Das war in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts. Eine Krise in der Textilindustrie oder gar deren Niedergang war unvorstellbar. Allein der Gedanke daran war so absurd, dass niemand auch nur schon auf die Idee kam darüber zu sinnieren. Die Besitzerfamilie war reich, wirklich reich und wohltätig. So überliess sie der reformierten Kirchgemeinde des kleinen Dorfes kostenlos ein riesiges, flaches Grundstück, direkt in südlicher Richtung vor der besagten Liegenschaft zu den zwei Linden. Eine Kirche samt Park sollte darauf gebaut werden. Das war die einzige Bedingung. Eine grosse Kirche und ein grosser Park. Rund achtzig Prozent der Bewohner des Dorfes waren zu jenem Zeitpunkt evangelisch. Alle Familienoberhäupter der reformierten Kirchgemeinde, etwas mehr als tausend Männer, müssen darin Platz finden und ein hoher, massiger Glockenturm das Dorf überragen. Eine präsentable Allee rund um die Kirche soll zur besinnlichen Einkehr einladen und die Kirche umschliessen. So lauteten die Bedingungen der Wohltäterfamilie.

    Der Wille geschah, so wie es sich der weit gereiste und weltgewandte Fabrikant vorgestellt hatte. Die Einweihungsfeier war ein unvergessliches Fest. Die grosse Kirche platze fast aus den Nähten, alle wollten dabei sein. Sogar die Stehplätze wurden nummeriert und tatsächlich erlebten mehr als eintausendzweihundert Männer und Frauen die über zweistündige Einweihungsfeier. Ewige Meckerer behaupteten zwar, es seien genau zwölfhundertdreizehn gewesen, doch wegen der Unglückszahl spreche man lieber von über zwölfhundert. Zu erwähnen ist zudem auch der mysteriöse Seilriss beim Aufziehen der grossen Glocke. Sie fiel zwar nur einen knappen halben Meter tief auf den weichen Grasboden und niemand, auch nicht die Glocke, kam zu Schaden. Doch ein Seilriss beim Glockenaufzug? Wenn das nur kein Unglück bringt. Vielleicht sollten die Stänkerer ja Recht behalten. Jedenfalls ist es historisch erwiesen, dass die Kirche nie mehr so viele Menschen in ihrem düstern Innern sah, wie zur Einweihungsfeier. Nach hundert Jahren lässt sich sogar sagen, dass seit jenem Tage, kurz nach dem Übergang vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert, die reformierte Gemeinde in diesem Dorf stagnierte. Die Einwohnerzahl im Dorf wuchs zwar stetig, aber es waren vor allem katholische Glaubensbrüder und Schwestern die sich hier niederliessen. Aber im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts stoppte auch das Wachstum der katholischen Kirchgemeinde. Einerseits zogen die freien Kirchen und Sekten immer mehr Menschen an und anderseits nahmen viele muslimische Gläubige in der Gemeinde Wohnsitz. Die katholische und die reformierte Landeskirche mussten hingegen jedes Jahr Austritte registrieren. Die Anzahl der religionslosen Menschen wuchs somit stetig. Durch den Rückgang der Steuereinnahmen gerieten dafür die Finanzen der beiden Kirchgemeinden mehr und mehr in Schieflage.

    So erschien es dem reformierten Kirchenrat einige Jahre nach dem Wechsel ins 21. Jahrhundert wie eine wundersame Fügung, dass die politische Gemeinde Land für einen Gemeindesaal suchte. Sie fand die Liegenschaft direkt hinter der riesigen Kirche nämlich als perfekt passend für ihren Zweck. Die Vorsteherschaft nutzte die Gunst der Stunde und gab den Boden im Baurecht an die Gemeinde ab. Der Baurechtszins spült nun für neunundneunzig Jahre stetig Geld in die Kasse der Kirchgemeinde. So konnte sich auch diese an Investitionen wagen und baute zusammen mit dem Saal der politischen Gemeinde ein Kirchenzentrum mit Büroräumen, Schul- und Sitzungszimmern samt einem Mehrzwecksaal. Bis dato war die Verwaltung in einem gewaltigen historischen Gebäude aus dem siebzehnten Jahrhundert mit dem Namen Zur Buche untergebracht. Dieses Haus wurde zu einer modernen Kindertagestätte umgebaut. Die KITA wird seither von der reformierten Kirchgemeinde betrieben, steht aber für alle Kinder, egal welcher Konfession sie angehören, offen. Dank Beiträgen der katholischen Kirchgemeinde, der politischen Gemeinde und des Kantons wirft der Hort einen bescheidenen Gewinn ab und entlastet so die arg gebeutelte Kasse der Reformierten.

    Mit der Einweihung des Kirchgemeindezentrums könnte die Geschichte hier nun glücklich enden. Für alle Beteiligten war somit jene grosszügige Landschenkung vor über hundert Jahren der Ausgangspunkt zur allgemeinen Zufriedenheit.

    Doch genau mit der Einweihung des reformierten Gemeindezentrums, die zusammen mit dem Saal der politischen Gemeinde gefeiert werden sollte, nimmt die Geschichte ihren Anfang. War der Name für den grossen Gemeindesaal nämlich schnell gefunden, er sollte als Glattsaal (nach dem Fluss der durch die Gemeinde fliesst) in die Geschichte eingehen, taten sich die Verantwortlichen der reformierten Kirchgemeinde schwer, den richtigen Namen für ihren kleineren Mehrzweckraum, der angrenzend an den Glattsaal gebaut wurde, zu finden.

    Schleichen wir uns doch in die Zusammenkunft des erweiterten reformierten Kirchenrates im grossen Sitzungszimmer des Hauses Zur Buche.

    Dreissig Frauen und Männer zwängten sich im ehrwürdigen Raume zusammen. Der jüngste Teilnehmer keine zwanzig und die Älteste mit ihren achtundsiebzig Jahren noch immer die aktive Leiterin der Altersgemeinschaft 60 - na und? Trotz der drei schräg gestellten Fenster war die Luft zum schneiden dick.

    Franz, Kirchenratpräsident und Sitzungsleiter, versuchte dennoch frischen Sauerstoff zu schnappen und holte aus:

    »Liebe Anwesende, eines meiner Grundprinzipien ist ja, dass keine Sitzung länger als zwei Stunden dauern soll. Dank euerem grossen Einsatz und dem Mitmachen von allen, konnten wir in den letzten hundert Minuten bis auf eine, alle Traktanden abarbeiten. Ich bin glücklich, dass ich schon jetzt sagen kann: Die Organisation zu unserem grossen Tag, der Einweihung des neuen Zentrums, steht. Das Fest kann beginnen, lediglich der letzte Punkt der heutigen Traktandenliste bleibt uns noch.«

    Der Kirchenpräsident hatte sich wie gewohnt perfekt auf den Abend vorbereitet. Auf dem Beamer wurde eine Innenansicht des neuen Mehrzweckraumes auf die Leinwand projektiert.

    »Dieses Bild habe ich heute vor der Sitzung aufgenommen. Meine lieben Leute, dieser wunderschöne Raum ist fertig, hat aber leider keinen griffigen Namen. In den letzten Wochen sind zwar einige gute Vorschläge bei mir eingetroffen und ich stelle diese zur Diskussion.«

    Nun erschienen Namen und Erklärungen in der Mitte der Leinwand:

    Wyssbachsaal

    (ein Nebenfluss zur Glatt)

    Reformierter Kirchensaal

    Evangelisches Zentrum

    Kirchenzentrum

    Neuer Buchensaal

    (in Erinnerung an den Saal im Haus zur Buche)

    und ????

    »Ich danke allen, die sich die Mühe gemacht haben mir ihren Vorschlag zu melden. Was meint ihr zu den Ideen?«

    Die Diskussion ging los und zeigte schnell, dass keiner der Vorschläge so richtig zu gefallen wusste. Grüningersaal fanden einige nicht schlecht, doch hatte der Name seit der Schliessung der Grüninger Textil Werke und den unumgänglichen Entlassungen gewaltig an Glanz verloren und einen eher negativen Beigeschmack. Der Präsident sah ein, dass es an dieser Sitzung nicht mehr zum grossen Wurf kommen würde. Er wollte die Sitzung schliessen:

    »Ja, es geht mir genau wie euch. Der Name für unseren neuen Treffpunkt, in dem die Sitzungen des Kirchenvorstandes und der verschiedenen Organisationen, Anlässe und kirchlichen Feiern statt finden werden, soll klar und deutlich sein, ein Zeichen für unseren Glauben setzen, aber auch für den Willen, unsere Kirchgemeinde vorwärts zu bringen und unverwechselbar sein. Wenn der zündende Name heute nicht kommt so wird er halt ein anderes Mal kommen. Ich möchte nichts erzwingen und schliesse die......«

    Laut und deutlich war die Stimme der Gemeindeschwester zu hören:

    »Zwinglisaal!«

    Während eines Augenblickes herrschte absolute Ruhe im Raum des Hauses zur Buche. Der Finanzchef zeigte sich als Eisbrecher. Er stand auf, blickte geradezu entzückt zur Gemeindeschwester und klatschte in seine weichen Bürolistenhände. Nur wenige Sekunden später applaudierten alle Versammlungsteilnehmer begeistert mit. Franz bat mit Handzeichen um Ruhe und stellte erfreut fest:

    »Die Abstimmung kann ich mir wohl ersparen. Nur für das Protokoll: Die heutige, grosse Versammlung beschliesst einstimmig, den Gemeinschaftsraum im neuen Kirchenzentrum Zwinglisaal zu nennen. Die Sitzung wird nach hundertachtzehn Minuten geschlossen. Claire, ich gratuliere dir zu deinem hervorragenden Vorschlag und ich spendiere gerne eine Runde für alle. Ich habe im Rössli reserviert.«

    Claire, die Gemeindeschwester, die sich um die allein- stehenden, betagten Kirchgemeindemitglieder kümmerte, sie regelmässig besuchte und wenn nötig auch pflegte, war sichtlich stolz über ihren Gedankenblitz. Viele klopften ihr auf die bald vierzig Jahre alten Schultern und äusserten ihre helle Begeisterung für ihren tollen Vorschlag.

    Rückblende

    In den guten Wirtschaftsjahren entschied sich der geschäftsführende Spross der Textilunternehmerfamilie in deren Besitz sich das Gut zu den zwei Linden befand, dieses als Stiftung dem Dorfe zu überlassen. Die Familie hatte längst eine neue, grossartigere Villa gebaut und das Gut stand leer. Nur eine Bedingung war zu erfüllen: Im Hause solle ein Museum über die Dorfentwicklung eingerichtet werden. Schnell waren geschichtlich interessierte Einwohner und Einwohnerinnen gefunden, die sich im Verein Ortsmuseum organisierten und genau zwanzig Jahre vor dem Wechsel vom zweiten ins dritte Jahrtausend der christlichen Zeitrechnung die Liegenschaft übernehmen konnten. Das Inventar und die im Hause verbliebenen Gegenstände der Fabrikantenfamilie wurden sorgsam registriert und beschrieben, teilweise verkauft und mit neuen Museumsstücken ergänzt. Das Haus wurde durchsucht und auf dem Estrich fanden die engagierten Freiwilligen nebst vielen Antiquitäten einen ganzen Stapel originaler Biberschwanzziegel, die vom Bau her stammten und einen bedeutenden Wert darstellten.

    »Die lassen wir schön da! Erstens sind wir vielleicht einmal froh, wenn wir Ziegel ersetzen müssen und zweitens sind diese Dachziegel heute sehr gesucht.«

    Der erste Museumspräsident, ein im Dorfe angesehener Advokat, war ein weiser Mann. Das zwanzigste Jahrhundert nach Christus verabschiedete sich nämlich in weiten Teilen Westeuropas mit einem gewaltigen Sturm. Das Unwetter ging als Lothar in die Geschichte ein. Tausende Bäume wurden geknickt oder entwurzelt, Autos wie Spielzeuge durch die Luft gewirbelt. Alles was nicht niet- und nagelfest gesichert war, wurde umgeworfen, weggeblasen und zerstört. Der Sturm deckte die Dächer von ganzen Häuserzeilen ab. Ziegel flogen auf die Strassen, auf Autos und unglückliche Passanten. In der Schweiz starben vierzehn und in den umliegenden Ländern einhundertsechs Menschen. Auch das Haus zu den zwei Linden kam nicht ungeschoren davon. Bäume wurden geknickt, entwurzelt, Äste abgerissen und das Dach des Hauptgebäudes stark beschädigt. Die Feuerwehr zersägte die kaputten Bäume und errichtete ein Notdach. Im ersten Frühjahr des neuen Jahrtausends rückte ein Dachdecker aus dem Ort an und begann mit seiner Mannschaft das Dach zu reparieren. Die im Estrich eingelagerten Ziegel erfüllten ihren Zweck voll und ganz.

    Es blieb ein ansehnlicher Stapel wundervoller Biberschwanzziegel übrig und der Dachdeckermeister wollte die Gunst der Stunde nutzen. Er gab seinem stämmigen Gehilfen den Auftrag möglichst viele der neuen Ziegel in einer Brente nach unten zu tragen und im gedeckten Anhänger zu verstauen. Er bläute ihm ein, sich von niemandem dabei erwischen zu lassen und verschwand zum Gewerbeapéro in ein beim Bahnhof gelegenes Café. Der junge Mann mühte sich mit dem schweren Tragkorb redlich ab. Doch beim dritten Transport brach der Boden des Weidengeflechtes. Der Inhalt fiel auf den Vorplatz. Einige Ziegel barsten und die Brente war zerstört. Er räumte auf, so gut er eben konnte, wischte die Spuren von den Pflastersteinen und lud die Reste des Korbes in den Anhänger. Diesen verschloss er gewissenhaft und ging nach Hause. Schliesslich war Freitagabend und er wollte mit seiner Freundin an einen Bum Bum Raverevent.

    Am Samstagmorgen fand eine Besichtigung im Ortsmuseum statt. Der Jahrgängerverein der Nachbargemeinde hatte seinen Besuch angekündigt. Der Präsident wollte die Führung persönlich übernehmen. Er war eine halbe Stunde vor den Gästen da und fand Bruchstücke der zerbrochenen Ziegel vor dem Eingang. Auf dem Parkplatz stand noch immer der Anhänger des Dachdeckers. Der Gewerbeapéro hatte etwas länger gedauert. Der Meister lag deshalb mit brummendem Schädel im Bett und dachte ganz gewiss nicht an den Anhänger, der gerade vom Museumsleiter geöffnet wurde. Der gewiefte Mann erkannte sofort, was da geschehen war und eilte auf den Estrich. Alphons, der Mann der im Hause unermüdlich für Ordnung und Übersicht sorgte und jede Ecke wie seine Hosentasche kannte, hatte ihm eindringlich erklärt, dass diese Ziegel einen kleinen Schatz darstellten. Der Schädel des Dachdeckermeisters brummte nach dem Telefon mit dem Museumspräsidenten um einige Touren höher. Von Diebstahl, Sachbeschädigung und grobem Unfug war die Rede. Rechtsanwalt gegen Dachdecker endet selten zu Gunsten des Handwerkers. Der langen Rede kurzer Erfolg: der Präsident rief Alphons. Alphons inspizierte den Rest der Ziegel, schaute genauer hin, nahm seine Taschenlampe und entdeckte unter dem Stapel etwas Unbekanntes. Er räumte den Rest der Ziegel weg und fand nach dem entfernen des Staubes, dem Fledermauskot und den Spinnweben einen wunderschön geschnitzten kleinen Holzkoffer. Ungefähr einen halben Meter in der Länge, vierzig Zenitmeter in der Breite und zwanzig Zentimeter in der Tiefe. Kunstvoll gearbeitete Messingbeschläge hielten den Deckel auf dem Unterteil. Die Oberfläche zierten, von einem geschickten Bildhauer geformt, griechische Symbole. Die Zeichen Alpha und Omega verflochten mit Rosen und in jeder Ecke eine fein modellierte, halbnackte, Frauengestalt. Im Zentrum aber stand unübersehbar ein stolzer Hahn. Alphons löste das Kistchen aus seinem Schmutzverlies und trug es sorgsam auf ein kleines Tischchen. Erst im dritten Anlauf gelang es ihm, den Deckel zu öffnen. Er wagte kaum zu atmen. Was hatte er gefunden? Vielleicht einen alten Goldschatz? Nein, eine Scheibe aus buntem Glas! Das Portrait eines Mannes. Sorgfältig hob er das Bildnis vor das Fenster. Im eindringenden Sonnenlicht erkannte er den Mann. Huldrych Zwingli, der berühmte, schweizerische Reformator. Trotz seiner grossen Erfahrung für Altertümer konnte er auf den ersten Blick unmöglich das Alter des Fundes abschätzen. Er erkannte aber, dass es aufwändig und schön gefertigt war. Er trug seinen neuen Schatz in die kleine Werkstatt im Keller des Hauses, reinigte das Bild und das Kästchen mit Pressluft und Pinsel und verschloss sein Reich sorgfältig. Den Schlüssel steckte er ein. Er wollte seinen Boss, der mit der Besuchergruppe schon längst weiter gezogen war, mit seinem Fund persönlich überraschen. Der Präsident, katholischen Glaubens, konnte jedoch dem Bildnis von Huldrych Zwingli keinerlei Sympathie entgegenbringen. Er empfahl Alphons, das Kästchen wieder dorthin zu legen, wo er es gefunden hatte, auf den Estrich zum Fundus des Museums. Alphons nahm den Zwingli auf die Inventarliste und versuchte etwas über die Herkunft zu erfahren. Man kann es sich fast nicht vorstellen aber vor etwas mehr als zwanzig Jahren war der Begriff Im Internet googeln völlig unbekannt. Trotzdem fand Alphons einiges über das Kunstwerk heraus. Das Glasbild soll einem Gemälde von Hans Asper gleichen und wurde von einem Fachmann aus Andwil auf ein Alter von ungefähr dreihundert oder mehr Jahren geschätzt. Es sei wohl in einer Manufaktur im fernen Zürich hergestellt worden. Damals habe es an der Limmat verschiedene Glaskünstler gegeben. Alphons schrieb diese Erkenntnisse ebenso sorgfältig in sein blaues Buch wie er die Kiste wieder auf den Estrich trug, mit einem rotweissen Karotuch bedeckte und vergass.

    Annemarie und Zwingli

    Claire war etwas Sturm im Kopf. Ihr Geistesblitz vom vergangenen Abend wurde im Rössli ausgiebig gefeiert. Ungeübt im Umgang mit Alkohol musste sie dauernd mit Gratulanten anstossen. Ihre aufgedonnerte äussere Erscheinung stand im klaren Widerspruch zur wahren Person. Nicht selten wurde sie wegen ihren langen blonden Haaren, der figurbetonten, modischen Garderobe und den weiten Ausschnitten eher für die Gastgeberin einer Bar als für die sehr engagierte Pflegefachfrau gehalten, die sie in Wirklichkeit war. Claire war froh ihren Flyer vor dem alten Patrizierhaus im Dorfzentrum parkieren zu können. In diesem Haus betrieb ihre Freundin Annemarie eine Immobilienagentur für gehobene Ansprüche. Diskret und lukrativ. Die dorfgeschichtlich interessierte Frau war vor einigen Jahren in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Hinter ihr lag eine hässliche Scheidung von einem Immobilienmogul aus Berlin. Die nicht unerhebliche Abfindung steckte sie in ihr eigenes Geschäft. Da sie im Unternehmen ihres Mannes mitgearbeitet hatte, wusste sie genau, wie der Handel mit Objekten in der oberen Preisklasse lief und wie die anspruchsvolle Klientel behandelt sein wollte. Als eine der ersten Kundinnen konnte sie Claire eine kleine aber feine Eigentumswohnung vermitteln. So lernten sich die beiden Frauen kennen. Die Immobilienspezialistin machte keinen Hehl daraus, dass ihr Bedarf an Männerlaunen wohl lebenslänglich gestillt war. Claire ihrerseits schwärmte von ihrem freien Leben und erzählte der fast zwanzig Jahre älteren unbeschwert über ihre Erfahrungen. So begann die Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen. Sie trafen sich regelmässig für einen Kaffeeschwatz, besuchten gemeinsam die verschiedensten Anlässe im Dorf und gingen zusammen aus. Als der katholische Rechtsanwalt die Leitung des Ortsmuseums abzugeben wünschte, wurde Annemarie angefragt ob sie seine Nachfolge übernehmen wolle. Ihre Eltern wohnten auch im Dorf und der Vater, ein ehemaliger Oberstufenlehrer freute sich sehr, als seine Tochter das Präsidium übernahm, hatte er doch massgeblich beim Aufbau des Museums mitgearbeitet.

    Nach den Begrüssungsküsschen und einer innigen Umarmung sprudelte Claire los:

    »Heute kann ich dir einmal eine tolle Nachricht überbringen. Gestern lud die Kirchenvorsteherschaft zu einem grossen Meeting. Wir bereiteten die Einweihungsfeierlichkeiten des neuen Kirchenzentrums vor. Ich habe dir ja erzählt, dass mir die Betreuung der VIPs zugetraut wird. Auch du gehörst als Vertreterin des Museums natürlich dazu. Ihr seid ja schliesslich unsere direkten Nachbarn. Es wird ein feiner Anlass. Du wirst zwischen dem Gemeindepräsidenten und unserem Finanzchef sitzen. Der hat seinen Platz natürlich neben mir!«

    »Das passt mir ausgezeichnet und natürlich dir auch, denke ich?«

    Die erfolgreiche Unternehmerin sagte dies mit einem leicht anzüglichen Lächeln. Der Finanzchef war ein gut aussehender Mann in den besten Jahren. Es hiess er sei verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern, aber man munkelte so dies und das über seine Ehe. Claire nickte kommentarlos und sprach weiter:

    »Das Beste kommt jetzt. Auch ich habe hie und da eine Superidee, ist zwar noch streng geheim, aber der Name Zwinglisaal für unseren Mehrzwecksaal stammt von mir. Oh, haben wir das gestern gefeiert. Ich konnte ganz unmöglich alleine nach Hause gehen.«

    »Was? Wer begleitete dich denn? Wohl der Säckelmeister! Du gibst ja wie immer Vollgas!«

    »Ach woher, beim hinausgehen im Rössli schaute ich nur kurz in den Spiegel. Ich habe alles doppelt gesehen auch mich. Also war ich zu zweit!«

    Die Frauen lachten herzhaft und wandten sich ihren Espressi zu. Zwanzig Minuten später war die Ortsmuseumspräsidentin wieder allein. Sie trat vor die weisse Lista Office Cube - Ablage suchte den Hinweis Museum und entnahm dem Fach den Ordner Fundus. Schnell fand sie das blaue Buch mit den Aufzeichnungen von Alphons. Sie murmelte:

    »Habe ich mich doch richtig erinnert. Da hätten wir ja das ideale Geschenk für die Einweihung!«

    Ihr in giftigem Grün lackierter, gerade gefeilter Fingernagel des linken Zeigefingers blieb beim Eintrag stehen:

    Glasbild von Huldrych Zwingli, 18. oder 19. Jahrhundert, vielleicht auch älter, vermutlich aus einer Manufaktur in Zürich. Einziges bekanntes Exemplar.

    Zwinglisaal

    Annemarie überbrachte am grossen Tag der Einweihung mit einer launigen Rede das Geschenk des Ortsmuseums an die reformierte Kirchgemeinde. Es war ein wunderschöner Sonntag im Spätsommer. Der feierliche, kurze und ökumenische Gottesdienst konnte bei strahlendem Sonnenschein im Freien durchgeführt werden. Lediglich der Gemeindepräsident und die Präsidentin der katholischen Kirchgemeinde beteiligten sich mit ihren Grussadressen nebst Annemarie an der Feier. Das hervorragende Bankett mit den offiziellen Gästen zog sich bis in den Nachmittag hinein. Claire, der das kurze Sommerkleid mit den Spaghettiträgern und dem raffinierten Ausschnitt hervorragend stand, hatte die Gäste mit Fingerspitzengefühl und Grips platziert. Annemarie konnte den Gemeindepräsidenten für eine Beitragserhöhung an das Ortsmuseum überzeugen. Die Chefin der Katholiken unterhielt sich glänzend mit dem holländischen, evangelischen Pfarrer. Im Gegenzug lachte der katholische Pfarrer auffallend oft, wenn seine Tischnachbarin, die junge Leiterin der Tagesstätte, lustige Erlebnisse mit ihren Kindern erzählte. Claire freute sich über die aufgeräumte Stimmung und den offensichtlichen Erfolg ihrer Sitzordnung ebenso, wie über die körperliche Nähe zum Finanzminister. An einer Vorstandssitzung vor einigen Monaten, an der sie berufshalber teilnehmen musste, hatte sich der Mann gewaltig für die Aufstockung ihres Pensums auf hundert Prozent eingesetzt. Ihr Antrag auf die Erhöhung ihres vierzig Prozent Pensums war nämlich sehr umstritten. Vor allem die Mitglieder des Zwinglianischen Bibelkreises fanden die

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