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Aus der Zeit gefallen: Mein Besuch bei den Hutterern in Nordamerika
Aus der Zeit gefallen: Mein Besuch bei den Hutterern in Nordamerika
Aus der Zeit gefallen: Mein Besuch bei den Hutterern in Nordamerika
eBook364 Seiten3 Stunden

Aus der Zeit gefallen: Mein Besuch bei den Hutterern in Nordamerika

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Über dieses E-Book

Die Utopie vom einfachen Leben
Alles gehört allen – der Traum von der autarken Gemeinschaft Gleichgesinnter ist faszinierend. Die Hutterer leben nach diesem Prinzip: ohne Shopping, Stress und Konkurrenzdenken. Doch das christlich-urkommunistische Gesellschaftsmodell kennt kaum Freiheiten, die Bibel wird wörtlich genommen, das Streben nach persönlichem Glück ist verpönt.
Autor Helmut Luther besucht unterschiedliche Gemeinden, arbeitet als Hilfslehrer, taucht in die Lebenswelt der Hutterer ein. Da er deren Sprache spricht, die aus dem alten Tirol stammt, erhält er einen tiefen Einblick in die sonst verschlossenen "Kolonien". Das Ergebnis ist eine vielschichtige und unterhaltsame Reportage.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Raetia
Erscheinungsdatum30. Nov. 2023
ISBN9788872839188
Aus der Zeit gefallen: Mein Besuch bei den Hutterern in Nordamerika
Autor

Helmut Luther

Geboren 1961. Schreibt Reisereportagen u.a. für „Die Welt“, „FAZ“ und „Süddeutsche Zeitung“. Veröffentlichungen: „Auf den Spuren des Doppeladlers“ (2020). Bei Edition Raetia: „Mussolinis Kolonialtraum: Eine Reise zu den Schauplätzen des Abessinienkrieges“ (2017).

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    Buchvorschau

    Aus der Zeit gefallen - Helmut Luther

    Ankommen

    Der Hüter der Gmah. Edi Vetter

    Gerade erst bin ich angekommen bei den Hutterern in Crystal Spring, da habe ich auch schon in der Kirche meinen großen Auftritt. „Nun wolle mir eppes singe, Lied 711, seven/eleven, sagt Edward Vetter, das religiöse Oberhaupt der Gemeinde, im Anschluss an die Predigt, woraufhin alle zu einem dicken Gesangbuch in schwarzem Ledereinband greifen: „Die Lieder der Hutterischen Brüder. Mit feiner, glockenheller Stimme intoniert eine Frau: „Wachet auf, ruft uns die Stimme … Ich kenne Text und Melodie der Kantate 140 von Johann Sebastian Bach, das geistliche Lied ist auch im „Gotteslob unserer Diözese enthalten. Oft habe ich es in der Adventszeit gesungen, so oft, dass ich die ersten Zeilen auswendig kann. Mitgerissen vom Sturm der Begeisterung, ohne die irritierten Blicke wahrzunehmen, schmettere ich drauflos: „… der Wächter, sehr hoch auf der Zinne, wach’ auf, du Stadt Jerusalem!"

    Die Crystal Spring Kolonie liegt isoliert etwa 40 Kilometer südlich von Winnipeg, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Manitoba. Etwa zehn Autominuten hinter Schotterpisten, wo verwitterte Holzschilder den einzigen Hinweis auf die Siedlung bilden, führt eine Straße, auf der viele Lastwagen verkehren, in die USA, eine Stunde weiter südlich befindet sich die Grenze, ansonsten erstrecken sich hier nur brettebene, wie mit dem Lineal gezogene graubraune, rechteckige Felder, mit hineingetupften Waldinseln. Die selbst gewählte Abgeschiedenheit ermöglichte es den Hutterischen Brüdern, über Jahrhunderte ihre deutsche Sprache und ihren Glauben in einem oft feindlichen Umfeld zu bewahren.

    Draußen schneit es, der Wind rüttelt an den dünnen Wänden und Fensterscheiben des Gotteshauses, das einer Lagerhalle ähnelt, tiefe Finsternis umhüllt die Siedlung. Überragt wird sie von einem Eisengerüst, an dem über Metallrohre Getreide in Silos hochgeblasen wird. Am höchsten Punkt hängt ein leuchtender Kunststoffstern. Als ich vorhin mit gesenktem Kopf zur Kirche hinüberging, piksten mir wie Nadelstiche harte Flocken ins Gesicht, die dunklen, knöchellangen Röcke der heraneilenden Frauen flatterten um ihre Beine. Minus 21 Grad Celsius zeigte das Thermometer am Eingang vor dem Gotteshaus an – hier im Westen Kanadas dauern die Winter lang, manchmal sinken die Temperaturen auch auf minus 40 Grad. Das Lied „Wachet auf, ruft uns die Stimme …" hingegen erwärmt mein Herz. Ich achte nicht auf die von Kopf bis Fuß schwarz gekleideten Männer auf meiner Seite, nicht auf die Frauen mit ebenfalls schwarzen Jacken und Kopftüchern auf der gegenüberliegenden Seite, in den vordersten Bänken sitzen die Kinder, die Buben in karierten Hemden, über den Schultern Hosenträger, die Mädchen tragen Hauben auf dem Kopf. Spät bemerke ich, dass die Vorsängerin und ich die Einzigen in der versammelten Menge sind, die das Lied kennen. Die anderen brummen ein bisschen mit und geben dann kopfschüttelnd auf.

    Ankunft in Crystal Spring. Zum Schutz vor dem Wind werden am Rand der Kolonien inmitten der ansonsten baumlosen Weite Bäume gepflanzt.

    „Warum kunnst des Liad?, fragen mich später einige beim Abendessen. Morgens, abends und zu Mittag kommen alle in die Gemeinschaftsküche, die genauso kahl ist und ein bisschen trist aussieht wie die Kirche, ohne jeden Schmuck und auch ohne Kreuze oder andere religiöse Symbole. Hier wie dort hängen Neonlampen und Ventilatoren an der Decke. Gegen die Augen- und die Fleischeslust wetterte vorhin Prediger Edward, weil sie zu Hoffart und Hochmut verleiten, direkten Wegen in die Hölle, an die die Hutterer aus tiefem Herzen glauben: weil ohne Hölle kein Himmel, kein ewiges Leben, das Ziel aller Sehnsüchte wo die „Berufenen und Auserwählten nach einem entsagungsvollen Leben im Jammertal dieser Welt ihren Lohn erhalten werden. „So lasset uns dem Himmelvoter danken für alles Gute, das wir empfangen haben", betet nach dem Mahl der Prediger vor, woraufhin die Bärtigen neben mir ihre großen, schwieligen Hände falten. Als Bauern, Handwerker, Metzger oder Mechaniker haben Hutterermänner Dreck unter den Fingernägeln.

    Huttererkolonien sind große Bauernhöfe. In riesigen Getreidesilos am Rand der Siedlung wird die Ernte des Jahres gelagert.

    Prediger Edi Vetter in seinem Büro. Er scheint es nicht oft zu benützen, lieber hilft der gelernte Mechaniker den Handwerkern in deren Werkstätten.

    Gemeinschaft ist in diesem Ministaat ein Grundprinzip: Allen gehört alles zusammen, Privatsphäre gibt es nur in den eigenen vier Wänden. Die Häuser, in denen die Familien wohnen, sehen alle gleich aus und gruppieren sich um die Kirche sowie die Küche, die beide in einem großen Flachbau untergebracht sind und das Zentrum jeder Huttererkolonie bilden, wo man mehrmals täglich zusammenkommt. Wie andere Täufer, die Amischen und die Mennoniten, gehen die Hutterer auf die Reformationszeit zurück, sie legen die Bibel wörtlich aus und wollen Christus ohne Priester nachfolgen. Das Wohl der „Gmah", der Gemeinde, kommt vor der Familie und vor dem Glück des Einzelnen – im Gegensatz zum atheistischen Kommunismus funktioniert die Gütergemeinschaft der Hutterer jedoch, und das seit 500 Jahren.

    In seiner Wohnung hütet der Prediger Dokumente und Fotoalben über die Geschichte der Schmiedeleutekolonien.

    Ihren Namen hat die Glaubensgruppe von Jakob Hutter, der aus dem Pustertal stammt, seine Nachfolger sprechen den Dialekt der alten Heimat. Um mehr über diese Frommen zu erfahren, bin ich nach Kanada gereist. Edward, von den Gemeindemitgliedern in Crystal Spring respektvoll „Vetter genannt, einer weitverbreiteten Anredeform, hat mich eingeladen. Ich übernachte im Haus, in dem er zusammen mit seiner Gattin Judith wohnt, Platz genug ist vorhanden, die sieben gemeinsamen Kinder sind längst ausgezogen und haben eigene Familien gegründet. „Kumm eini, leg die Schuach ab, sollst dich wohl fühlen, hat Edi Vetter gleich am Abend meiner Ankunft gesagt und mir gezeigt, wie die Kaffeemaschine funktioniert. In den folgenden Tagen wird mir auffallen, dass die Häuser in Crystal Spring nicht abgesperrt werden. Besucht hier einer den anderen, poltert er ohne Ankündigung bei der Tür herein. Als Tiroler versteht man gut, was Hutterer miteinander reden – in den 150 Jahren, die sie bereits in Kanada und den USA leben, nisteten sich allerdings auch etliche englische Begriffe in ihre Sprache ein. In Tirol verfolgt, zogen die Hutterer im 16. Jahrhundert nach Mähren und Siebenbürgen. Von dort ging es nach Russland und schließlich, weil sie auch im Zarenreich bedrängt wurden, 1874 nach Nordamerika, wo Glaubensfreiheit herrschte. Als Deutsche und als Pazifisten wurden die Hutterer in den USA jedoch während des Ersten Weltkrieges angefeindet – die Amerikaner waren Kriegsgegner der Mittelmächte geworden, daher zogen viele Fromme weiter nach Kanada. In den Provinzen Manitoba, Saskatchewan und Alberta leben heute etwa 35.000 Hutterische Brüder in Siedlungen mit hundert bis zweihundert Mitgliedern.

    Nach getaner Arbeit. Aktivismus gehört nicht zum Lebensentwurf der Hutterer.

    „Kummst mit dem Luftschiff, am Airport in Winnipeg klauben mir di auf, antwortete Edi Vetter auf WhatsApp, nachdem ich mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Um zu „callen, greifen die Männer in Crystal Spring oft zum Smartphone. Was die „Lehr betreffe, das geistliche Leben, erklärt mir Prediger Edi, „rühren wir uns allerdings nicht vom Fleck, da bleibt alles beim Alten. Ansonsten passe man sich der heutigen Welt vorsichtig an. Gespräche beginnen bei meinen Gastgebern gerne mit einem langgezogenen „Joo. „Joo, kummst später in die Deitsche Schual!, fordert mich Edward beim Frühstück am Tag nach meiner Ankunft auf. In der zur Gmah gehörenden öffentlichen Schule gibt es täglich zusätzlich zwei Deutschstunden, vor und nach dem regulären Unterricht – als Deutschlehrer könnte ich mich dort nützlich machen.

    Aufgeschlossenheit gegenüber der Technik unterscheidet die Hutterer von den Amischen, die ohne Maschinen, Autos und Internet leben. In Crystal Spring geht es moderner zu. Hier gibt es jede Menge Maschinen. Auch wenn die Gmahmitglieder, Alte und Junge, Männer und Frauen, nur ein paar Schritte zurücklegen müssen, benutzen sie eines der Quads mit Ladefläche, die vor jeder Haustür parken. Wenn sie volljährig werden, bekommen die Jungen hier ein Handy, es gibt ein Hockeyfeld und eine Turnhalle, es wird Musik gespielt: Neuerungen, die nicht allen gefielen und zu internen Konflikten führten. Bevor sie Russland verließen, hatten sich die Hutterer in drei Gruppen aufgespaltet: die Schmiedeleute, Dariusleute und die Lehrerleute. Die Crystal Spring Kolonie gehört zu den Schmiedeleuten, genauer: zu „Group one der Schmiedeleute. Mit der erwähnten Öffnung hat es nämlich zu tun, dass sich die Schmiedeleute ihrerseits in Gruppe 1 und Gruppe 2 spalteten. „Es wurde schon so viel darüber geredet und geschrieben, vergiss es, winkt Edi Vetter ab, als ich ihn zu diesem Thema befrage.

    Zusammen mit dem Mittsiebziger bilden ein zweiter Prediger, der Säckelmeister – man könnte ihn als Finanzminister bezeichnen – und einige andere „Zeugbrüder den „Bruderrat, wo sämtliche wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Gewählt wird der Rat von allen getauften männlichen Gmahmitgliedern. Obwohl sie den Männern unter Berufung auf die Bibel gehorchen sollen und keine öffentliche Rolle spielen, wirken Huttererfrauen nicht unterdrückt. Beim Essen in der Gemeinschaftsküche von Crystal Spring geht es auf der Frauenseite lebhafter zu als bei den Männern, Köpfe werden zusammengesteckt, es wird gekichert. „Weiber heißen die Frauen hier, „Dianla die Mädchen. Zum Thema Internet sagt Edi Vetter, dass die Hutterergemeinden zwar ein spezielles Sicherheitssystem benutzten, um den Datenverkehr zu kontrollieren. „Wer es jedoch darauf anlegt, kann die Zäune überspringen. Man muss auf den Verstand und das Gewissen setzen. Mein Eindruck ist: Es funktioniert. Nie sehe ich in Crystal Spring Kinder mit elektronischen Geräten spielen. Umgeben von Geschwistern und Cousins, Omas, Opas, Onkeln und Tanten, auf dem Schoß der Eltern, lernt der Nachwuchs früh beten und lesen. In der „Klaanen Schual, dem Kindergarten, geht es mit Religionsunterricht weiter – natürlich wird, wenn die Gemeinschaft zusammenkommt, also mehrmals täglich, gebetet. Das geht an keinem spurlos vorüber.

    Edi Vetter und Judith waren schon öfter auf den Spuren der Hutterer in Tirol und Kärnten. Heidi, die jüngste Tochter der Predigerpaares, lebt bei Spittal, aus dieser Gegend stammen viele Hutterer mit den Namen Hofer, Kleinsasser, Waldner und Wurz. Heute gibt es in der Glaubensgemeinschaft keine arrangierten Ehen mehr, geheiratet wird allerdings nur unter Glaubensbrüdern. Klar, sagt Edward, komme es vor, dass manche Gemeindemitglieder Auswärtige zum Partner nehmen. „Aber dann müssen sie die Kolonie verlassen. Neben der Tochter in Österreich kehrten drei Söhne des Predigerehepaares Crystal Spring den Rücken. „Es hat keinen Sinn, ein freudloser Hutterer zu sein. Wer wegging, soll draußen glücklich werden, für uns ist er dann irgendwie abgeschrieben, sagt Edi Vetter. „Trotzdem, meint hingegen Judith, „möchte ich die Kinder hier haben. Nächste Woche ist Edi bei einer Verlobungsfeier in einer Nachbarkolonie eingeladen – normalerweise zieht die Huttererfrau nach der Heirat zur Kolonie des Mannes. „Möchtest mitkommen?, fragt mich der Prediger, der geschickte Netzwerker. Er könne ja mal vor Ort die Lage sondieren. Als ich erfreut zustimme, zeigt Edi auf seinem Handy, was ihm aus der Gmah, wo die Feier stattfinden wird, „getextet wurde: Sein Gast sei willkommen bei der „Hulba – so wird die Verlobung genannt. „Die sind alle neugierig auf den Tirol-Länder, erklärt Edi Vetter. Er hat nämlich seine Fühler bereits ausgestreckt, bevor er mich fragte. Aus den Augen des Predigers blitzt der Schalk – kein Widerspruch zur Frömmigkeit. „Ich wollte sehen, wie du auf die Einladung reagierst", sagt er und grinst.

    Auf dem Weg zum Gottesdienst in schwarzen Trachtenjankern. Gleich nach dem Gottesdienst trifft sich die Gemeinde erneut zum gemeinsamen Mahl.

    Kein Vorrecht auf das Himmelreich

    Wurstmachen. Andrew

    Vom Jetlag geplagt, schleiche ich in den Tagen nach meiner Ankunft im Morgengrauen aus der Predigerwohnung und schaue mir die Gegend an. Das Dorf schläft noch um diese Zeit. Vorbei an einem qualmenden Müllhaufen wandere ich dem Rat River entlang, der in Schleifen um die Gemeinde herumfließt, auf die nahen Felder zu. Unter einer Brücke stochert eine einsame Kanadagans im Schlick. Gestern Abend hörte man über den Häusern ein dunkles näselndes Trompeten, am langsam verblassenden Himmel über den braunen Äckern zogen Hunderte Gänse in Keilformation in ihre südlichen Winterquartiere. Diese hier scheint den Flug der Artgenossen versäumt zu haben, vielleicht ist sie verletzt. Von Birken und einem Schilfgürtel umrahmt, plätschert der Rat River Richtung Sainte-Agathe. Nachdem ich einige Wachteln aufgescheucht habe, die mit ihrem braunrotgelben Gefieder perfekt getarnt auf der gewendeten Scholle hockten, kehre ich in einem Bogen zur Gmah zurück. Am Rand, wo sich ein Obstgarten und ein Friedhof befinden, davor rupfen Pferde an Heuballen herum, steht ein niederes Häuschen. Dort parkt ein hellblauer Pick-up, aus dem ein klein gewachsener Mann mit breitem Lachen klettert. Er heißt Andrew, ich lernte ihn in der Küche kennen.

    Andrew ist der Metzger von Crystal Spring. Wie alle in der Kolonie hat er noch andere Jobs, er repariert die Pick-ups und riesigen Traktoren, die hier von allen „engine, Maschinen, genannt werden. Außerdem hilft Andrew den Frauen beim Fleischzubereiten in der Küche, seine eigene amtiert dort als zweite Köchin. Fleisch, von den eigenen Tieren, wird in Crystal Spring in rauen Mengen verzehrt. „Bist du Vegetarier?, fragte mich eine der Hilfsköchinnen, als ich beim Essenfassen nur Gemüse und Reis auf meinen Teller lud, es klang wenig erfreut. Vegetarische oder vegane Ernährung: für die Hutterer eine Modeerscheinung, etwas Fragwürdiges, Verdächtiges. Auch Andrew hat für Fleischabstinenz nur ein Kopfschütteln übrig. Mit Schweißperlen auf der Stirn brutzelt er auf einem großen Herd täglich Berge von Steaks und Würsten.

    Wenige Tage vor meiner Ankunft starb Chesters Vater Tim bei einem Autounfall. Blumen zur Beerdigung gibt es nur bei den liberalen Schmiedeleuten.

    Zwar gibt es im Gemeinschaftsspeisesaal keine feste Sitzordnung, in der Regel jedoch gesellt sich Gleich zu Gleich. Mich zu den Graubärten setzend, landete ich neben Andrew. Als ich ihn fragte, ob der Platz neben ihm frei sei, blickte er mich zuerst verwundert an, dann stand er wieder auf, um mir den Stuhl zurechtzurücken. Anschließend füllte Andrew an der Anrichte zwischen der Männer- und Frauenseite aus einem Glaskrug eine Tasse mit dunkelrotem Saft auf, die er neben meinem Teller abstellte. „Weichselkirschen, sagte er, mehr nicht. „Willst Ketchup, richtete Andrew später das Wort an mich, dabei zeigte er auf einen drehbarer Gewürzteller, auf dem auch Behälter mit Ketchup und Mayonnaise waren – es gab Bratwurst. „Von mir selbst gemacht!, sagte Andrew, dabei stand ihm die Freude ins Gesicht geschrieben. Auf meine Frage, ob ich ihm bei seiner Arbeit zusehen könne, antwortete der Wurstmann: „Klar. Kannscht auch helfe. Wenn im „Wursthäusle Licht brenne und davor sein Pick-up parke, sei er da. Oft arbeite er bereits vor dem Frühstück, erklärte Andrew. Als ich an einem Nachmittag, vor dem Eingang sehe ich seinen Wagen, die Tür des Wursthauses öffne, ist Andrew gerade dabei, Schinken in einer eisernen Wanne zu kochen. Kurz den Deckel über der Wanne lüpfend, erklärt der Wurstmann, dass die Temperatur zwischen 73 und 75 Grad Celsius betragen müsse. Der Endfünfziger scheint kein Ordnungsfanatiker zu sein. Seine holzvertäfelte Bude ist mit Geräten und Werkzeug vollgestopft, über einen Bürosessel sind Pullover und Jacken ausgebreitet. „Ich like das, sagt Andrew und erzählt, dass er das Alleinsein genieße, das Herumwerkeln in der Stille. Meinen Blick auffangend, der in einer Ecke an einem Dreirad hängen blieb, erklärt der Wurstmacher: „Damit fahre ich nur einmal im Jahr, bei einer Charity-Aktion in Winnipeg. Zusammen mit anderen Freiwilligen, sagt der Endfünfziger, „bettle ich auf der Straße Geld zusammen. Bei jeder Sammelaktion habe er bisher mehr als 5.000 Dollar erbeutet. Zum Beweis zeigt Andrew etliche Diplome an der Wandvertäfelung, wo die jeweils erzielten Beträge in fetten Zahlen angegeben sind.

    Anschließend klemmt er sich zwei Boxen mit Wurstmasse unter die Arme und verstaut sie hinten im Pick-up. Ich nehme am Nebensitz Platz. In der Nachbarkolonie Suncrest hätten sie eine Wurstmaschine, „ich darf sie benützen, dort leben zwei Cousins, sagt Andrew. Wenn in Crystal Spring das neue Schlachthaus fertig sei, „werden auch wir eine Wurstmaschine kaufen, eine gebrauchte, Made in Germany, dort machen sie die besten Maschinen. Wir fahren über Schotterstraßen durch die abgeernteten Felder. Der Wurstmann nimmt einen kleinen Umweg, um mir die Stelle zu zeigen, an der wenige Tage vor meiner Ankunft Tim, ein Koloniemitglied, mit dem Auto tödlich verunglückte. „Er ist diese Strecke tausendmal gefahren, aber er machte einen Fehler, sagt Andrew und weist auf eine Piste weiter oben hinter einem rechteckigen Feld, sie verläuft parallel zu jener, über die wir gerade fahren. Während unser Weg vor einem Graben endet, gibt es weiter oben eine Brücke: Im Glauben, vor ihm liege die Brücke, er sei nun praktisch daheim, raste Tim mit 100 Stundenkilometern in den Graben. „Er war ein großer, starker Mann – und doch hat ihn der Tod verschlungen. Wir sollten immer bereit sein, meint Andrew, als er an der Stelle, an der Tim starb, seinen Wagen anhält. Nachdenklich den Kopf hin und her wiegend, fügt er hinzu: „Ob die Welt bald untergehen wird? Überall geschieht Schreckliches! Als die Hutterer im 19. Jahrhundert in Nordamerika einwanderten, sei es um Glaubensfreiheit gegangen. „Heute reden alle von der Freiheit – aber wer glaubt noch an Gott? Nachdem wir Zuggleise überquerten, geht es weiter über eine schnurgerade Hauptstraße, an deren Rändern in großen Abständen einstöckige Häuser stehen. Vor den Eingängen flattert die Nationalflagge Kanadas.

    Als junger Mann, vor mehr als 35 Jahren, sei er in Germany gewesen, „ich wollte die Orte sehen, wo wir herkommen, ich war in München und Hamburg, im Hafen tuteten dort riesige Schiffe und Kräne reckten ihre Hälse, erzählt Andrew – inzwischen sind wir auf einen Feldweg zur Kolonie Suncrest eingebogen. „Feuer fällt vom Himmel, die Menschen lästern Gott. Der Krieg, die unschuldigen Kinder, die sterben müssen – sind das nicht Zeichen?, fragt der Wurstmann. Nach einem Seitenblick auf den Notizblock in meinen Händen erzählt Andrew, dass er damals auf seiner Deutschlandreise ebenfalls geschrieben habe. „Ich führte ein Tagebuch, um mich später an die große Reise zu erinnern. Mit Weibern, antwortet Andrew auf meine diesbezügliche Frage, habe er sich damals übrigens nicht abgegeben. „Die einschlägigen Orte mied ich – ein Weib ist kein Spielzeug!, sagt Andrew. Zurück in der Kolonie war damals sein Fernweh gestillt. Er heiratete und zog mit seiner Frau vier Kinder auf. „Eine brave, bescheidene Frau, es geht uns gut. Sein Konzept der Ehe und Treue fasst mein Begleiter in einem schlichten Satz zusammen: „Bist du mit einem Weib nicht zufrieden, bist du es auch nicht mit 10!

    Mit langen Gebäuden, wie eine Wagenburg in Rechteckform um die Kirche und den Gemeinschaftssaal errichtet, am Rand Hallen und Getreidesilos, ähnelt die Suncrest Hutterite Colony der Crystal Spring Gemeinde. 1969 entstand Suncrest als Tochterkolonie von Crystal Spring. 1992, als es zur Spaltung der Schmiedeleute kam, schlug sich die Suncrest Colony auf die Seite der Abspalter, „Group two genannt, die eine konservativere Haltung als Gruppe 1 einnehmen, zu der Crystal Spring gehört. „Es gab viel Streit und Ärger. Doch mittlerweile arbeiten wir wieder gut zusammen. Bei ihnen sind Handys offiziell verboten – die meisten benutzen sie heimlich, sagt Andrew. Die beiden Cousins stehen schon im Schlachthaus. In gepolsterten Gummistiefeln spritzen sie mit einem Schlauch über den Gussbetonboden, der mit dunklen Flecken übersät ist. Vor ein paar Tagen wurden Schweine geschlachtet. Während zwei Frauen im Hintergrund Speck in Streifen schneiden und anschließend mit einem Vakuumiergerät verpacken, helfen die Cousins Andrew beim Bedienen der Wurstmaschine. Die fertigen Würste werden auf einem Rädergestell in die Räucherkammer geschoben – morgen kann Andrew sie abholen.

    Der Speck, den die Leute in Suncrest gerade herstellten, werde an Chinesen verkauft, „die lieben das Fette, erzählt Andrew auf der Rückfahrt. Während einer Kostprobe beobachtete er vorhin, wie ich nur das Rote abbiss, den Fettanteil heimlich wegwarf. Die Chinesen bringen mich auf die Frage, wie Andrew es mit anderen Religionen hält. Glaubt er, dass ihre Anhänger schlechtere Menschen sind? Werden nur Hutterer vor Gottes Augen Gnade finden? Während er auf die Bremse steigt und mich von der Seite ernst anblickt, erklärt Andrew: „Man muss nach Gottes Weisungen leben. Der Herr ist aber kein Parteivorsitzender. Du musst keinen Mitgliedsausweis besitzen, um seine Gebote zu erfüllen. Gott, ergänzt Andrew, schaue auf das Herz und auf unsere Taten. „Das ist ungefähr wie beim American Football. Sagen wir, in unserer Colony haben wir gute Leute. Aber wenn sie keine Goals schaffen, wird der Herr am Ende ein trübes Gesicht machen. Dann sagt er womöglich: Tut mir leid, den Preis bekommen

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