Julianas Litanei
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Über dieses E-Book
Ein entlegenes Bergtal, wo Suchard Schokolade, Hausierer, die Schneiderin, der heilige Antonius, ausgeschämte deutsche Touristen, eine Ansichtskarte vom Meer und gelegentliche Besuche von Patres zu Highlights werden, die Abwechslung in die Abgeschiedenheit bringen. Die vierjährige Juliana findet alles spannend und genießt dieses Leben, seine Geräusche, Farben, Klänge. Nachdem der Herr Pfarrer die Bildfläche betritt, bewegt sich das Geschehen in eine andere Richtung. Das Mädchen lernt die Hölle kennen, lässliche Sünden, Hauptsünden, Todsünden, Gebote, deren wichtigstes das sechste zu sein scheint. Der Vierzehnjährigen gelingt es aber schließlich doch, sich davon zu befreien.
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Buchvorschau
Julianas Litanei - Reinhilde Feichter
Kapitel 1
Sie hatte nur à und hà gerufen, wie beim Testen eines Mikrophons, als man sie mit zwei Jahren das erste Mal in eine Kirche mitgenommen hatte. Ausschließlich der Schall hatte sie beschäftigt.
Nun saß ich aber zum ersten Mal bewusst und selbständig zwischen dunklen Gestalten und konnte wohl das Gewölbe und den heiligen Sebastian, nicht aber den Pfarrer oder den Altar sehen. Dieser Rosenkranz war das Fadeste, was ich in meinem vierjährigen Dasein erlebt hatte. Als aber die Marienlitanei gebetet wurde, eröffnete sich mir eine andere Welt.
Ob ich vom Kerzengeruch ein bisschen betäubt wurde, von dem der nassgekämmten Frauenzöpfe rings um mich oder vom resignierten Ton der Betenden, aus dem ich gleichzeitig ein Aufbegehren hörte – ich weiß es nicht. Allmählich verschwanden die Dinge um mich, und ich hörte nur mehr:
Du Zuflucht der Sünder
Bitt für uns
Du Heil der Kranken
Bitt für uns
Du Morgenstern
Bitt für uns
Es klang wie eine geheimnisvolle dunkle Melodie. Das „Bitt für uns" verwandelte sich langsam in ein Bitt für ons, je mehr ich es herauszuhören versuchte und schließlich in Bipfrons.
Das s am Schluss schwirrte noch lange durch den Raum, verwandelte sich in z und vibrierte immer weiter zwischen den Statuen der Empore, während der Pfarrer bereits die nächste Fürbitte las. Nie sprachen alle ganz gleichzeitig:
Bipfrons,s,s,s
Du Bundeslade
Bipfrons,s,s,s.
Einige s verirrten sich, flogen noch eine Zeitlang durchs Kirchenschiff, purzelten zwischen dem Jochbein des seitlich geneigten Kopfes von Sebastian und dessen linker Schulter in seine Hand hinab und schwebten von dort sachte in den Weihwasserbrunnen – den ich leider nicht sehen konnte –, in dem sie dann erlöst ertranken.
Bipfrons,s,s,s
Du Trösterin der Betrübten
Bipfrons,s,s,s
Die letzten und langsamsten s waren die meiner Nachbarin, eines, dessen Herkunft ich in der linken hinteren Ecke vermutete, und eines, das von der Empore herunterschoss. Ich versuchte nun das allerletzte s zu wispern, und es gelang mir.
Darauf verwandelte sich das Bittfüruns wieder. Ich hörte nun Blitzfronz heraus und stellte mir darunter einen betrunkenen Mann vor, der mit einem Schweißgerät Funken sprühen lässt. Das Blitzfronz gefiel mir noch besser, denn die Funken sprühten wie in Franzens Werkstätte. Laut und deutlich sagte ich Blitzfronz, immer lauter rief ich das Wort.
Ich war aufgeregt und neugierig, ob es sich in dem Bitt für uns wohl gut genug verstecken ließe. Erregt leierte ich es noch lauter, als ich merkte, dass es mir niemand nehmen konnte. Es ging unter, obwohl es da sein durfte, niemand entdeckte es, niemand schimpfte.
Ich wurde fast übermütig, aber ich wusste, dass man in der Kirche nichts durfte, und ich hielt mich in Grenzen. In den Grenzen des Klanges. Dort tobte ich wild umher. Mein Mut wuchs zusehends. Ich traute mich nun an andere Variationen heran:
Pizziponz
Du ehrwürdiges Gefäß
I bitt di Hons
Du goldene Rose
Brigitte Kunz
Du elfenbeinener Turm
Titti Gons
Du vortreffliches Gefäß der Andacht
Brittl Luns
Du Mutter der Weisheit
Hittn Frons
Du Mutter des guten Rates
Biffi konn´s
Ich wurde überwältigt von einem nie zuvor empfundenen Gefühl von Freiheit. Hier regierten nicht die Erwachsenen, sondern die Klänge, in die sich meine Worte einfügten, die doch ganz anders waren als die der übrigen Menschen, die die Kirche füllten.
Juliana liebte die Litaneien. Sie ahnte nicht, wie bedeutsam diese in einigen Jahren für sie sein würden. Besonders die s, die bis zum Gewölbe hochschossen. Sie hatte Respekt vor denen, den mutigsten Lauten, die sie kannte.
Im Italienischen vernahm sie besonders viele s. Deshalb liebte sie die Sprache, die sie bei Feriengästen oft hörte. Sie roch nach Sommer und schmeckte nach dem größten Leckerbissen ihrer Kindheit, nach einer mit Eis gefüllten Orange, die Tante Burgi an einem Sonntag der Familie spendierte und die sie in winzigen Löffelbissen verspeisten.
Obwohl die Italiener viel dunkler als Juliana waren, klang ihre Sprache heller und bewegter als ihre. Vielleicht mochte das an der hellen Sommerkleidung liegen. Die Wörter aus ihrem Mund, vor allem die s, flatterten wie Schmetterlinge und wurden von Händen und Armen liebkost, die rege Wellen und Kreise beschrieben, sich öffneten und schlossen, auf der Brust einen fingen und einen anderen mit dem Zeigefinger hoch in die Luft tippten.
Si und no kannte sie, die übrigen Wörter erfand sie selbst. Solla cosa santare, si dosso si, santo dillo… Sie merkte, dass sie damit auch Italiener zum Lachen bringen konnte.
Da es Juliana aber um die Sprache ging, fragte sie die Eltern um die Übersetzung einiger Wörter. ER heißt lui, WAS cosa, MUTTER mamma, TAG giorno. Es waren an die zehn Wörter, und nun stellte sie ihre Theorie auf, an der sie, wie es vorauszusehen war, bald scheiterte. Sie nahm Silben her und übersetzte sie: WAS hieß COSA und ER lui, also musste Wass-er COSALUI heißen. NEIN hieß no und ZEHN dieci, also musste NEINZEHN nodieci heißen. TAG hieß giorno, also würde TA ohne G wohl giorn heißen. Je mehr richtige Wörter sie aber lernte, desto mehr verkomplizierte sich alles. Als sie merkte, dass es für ein und dieselbe Silbe mehrere Übersetzungen gab, verlor sie den Überblick und gab die Sache auf. Leider. Ei-der. Ei heißt uovo, der heißt il. Uovo-il. Luovoil.
Später, in der Schule, lehrte uns dann Frau Luna Italienisch. Sie schrie, indem sie sich in die Haare fuhr, sehr schrill: I capelli sono neri! (Die Haare sind schwarz) Dann stellte sie sich vor den schwarzen Karton, auf dem das Buchstabenhaus aufgezeichnet war und brüllte: La carta e´nera, stupidi! (Das Papier ist schwarz, ihr Dummen). E stai zitto, Hans! (Und du, Hans, sei still!) Auch wenn ich etwas wusste, traute ich mich nicht, die Hand aufzuhalten, denn ihre Stimme schnitt wie ein starres Gerstengras in meinen Ohren. Manchmal wünschte ich, sie solle in die Wiere fallen, in den Bach, den ich auf dem Heimweg von der Schule immer überquerte. Sie ist nie hineingefallen, weil sie einen ganz anderen Schulweg hatte. Luovoil.
Doch noch ging sie nicht zur Schule. Und sie besaß ja noch ihre Litaneien, in die sie ab und zu ein italienisch klingendes Bittfüruns einfügte. Zitto-Fronz oder Birra blu(ns), deren Rhythmus ihr aber nicht ganz passend erschien. Der Dialekt eignete sich am besten dafür. Auch die herrische, wie man in ihrer Umgebung die Hochsprache nannte, hüpfte manchmal über den Reim hinaus.
Juliana beschäftigte sich nun eingehender mit den verschiedenartigen Rhythmen. Bittfüruns hatte denselben Takt wie die Wörter Felsenwand oder Weizenfeld, lachend und hüpfend. So versuchte sie es einmal anders: Sie hielt das füüür lange an und ließ den Rest kurz, so als ob sie Lawiiiine spräche oder Beweeegung. Bittfüüüruns, ein eigenartiger Rhythmus! Sie fand, dass er der Litanei einen reizvollen Beiklang gab, fast wie ein Musikinstrument, dessen Namen sie nicht kannte. Nur nicht zu laut werden, dachte sie. Sie spürte, dass sich ihre Fürbitten allzu deutlich von den anderen abhoben.
Während sie bei den Maiandachten so experimentierte und an den Litaneien herumbastelte, entdeckte sie eines Tages die wohlklingenden Laute, die saftig waren, denen die trockenen gegenüberstanden. Batt far ans oder Bett fer ens klang viel schöner als Butt fur uns oder Bott for ons. Butt und Bott, wie hartes Schwarzbrot, das im Hals stecken bleibt.
Juliana ließ Laute durch ihren Kopf schwirren, hörte ihnen zu, sang sie leise vor sich hin und sah sie vor sich fliegen wie kleine, farbige Lichttropfen. Sa sa salee, am besten selee.
Diese Etappe fiel in die Namenssuche für ihren Bruder, der noch nicht geboren war. Zwischen Gartenzaun und Gladiolen teilte es ihr Mutter mit, und Juliana erkundigte sich, ob er schon nicht aus Plastik wäre. Er müsste elebendig sein. Lebendig! meinte Mutter, doch für Juliana drückte nur elebendig etwas wirklich Lebendiges aus. Dem Kind müssen wir einen saftigen Namen geben, sagte sie. Niemand verstand, was sie meinte. Die saftigsten Namen waren Sebastian und Sabine. Erst später, als sie die Buchstaben lernte, konnte sie sich verständlich machen.
Ich sah sie nämlich alle farbig, und hellblaue oder weiße waren für mich saftige Laute, während u, ü, t, v, trocken, schwarz oder braun waren. So wurde mein Bruder dann auch Sebastian genannt.
S war so nass, dass es nasser nicht ging. Folgte ihm ein A, so schäumte das Wort und strahlte weiß wie der Häufler Wasserfall. Kam das S nach dem A, so spritzte es durchsichtig und klar. In jedem Fall aber plätscherten und tropften diese Wörter.
E war himmelblau, die Farbe zwischen Rötspitze und Moosberg an kühlen Herbstmorgen, unendlich blau. A verschwamm vom Hellblauen ins Weiße und war in Verbindung mit G klar wie Glas, mit B zusammen jedoch schwebend und nebelig wie eine helle Wolke. B und D waren wellig und äußerst beweglich.
Kam zum S aber ein U dazu, so wurde das Wort versaut. Es klang dann wie kohlschwarzes Dreckwasser. Arme Susis oder Ruths, sie taten mir leid! Doch leider gefiel mir auch mein eigener Name nicht, der sich so trocken anhörte. Hätte ich selbst einen aussuchen dürfen, wäre es natürlich Sabine gewesen oder einer, den es nicht gab, Saela oder Sabella. Aber wenigstens Sebastian habe ich zu einem saftigen Namen verholfen.
Himmelblau ist noch für lange Zeit Julianas Lieblingsfarbe geblieben. Herbstbäume mit hellblauen Blättern, wie sie sie malte, fanden bei niemandem Anklang, doch weil sie sich mehr mit ihrem saftigen Blau verbunden fühlte als mit dem Rest, störte sie das nicht weiter.
Grasbichl 1960, im Dunst einer Zeit stehengeblieben, die dem vergangenen Jahrhundert näher lag als diesem, zwischen zwei Bergrücken gesichert.
Der Kirchturm verlieh dem Dorf das eigentlich Liebliche, das oft in der Verkleinerungsform Besungene: Ein Kirchlein, ein Dörfchen mit einem Bächlein mittendurch.… Ein Anblick, der Urlaubern ein Ach, wie idyllisch! Ma che paese stupendo! (welch wunderbare Gegend!) entlockte. Jedes Hausdach schien mit den übrigen durch unsichtbare Fäden verbunden zu sein, die sich auf der Kirchturmspitze trafen. Und aus den kleinen Kaminen stieg Rauch zu ihr hoch. Die Urlauber erfreuten sich an der ausgewogenen Optik. Vielleicht hätten sie noch anderes entdeckt, was unter dieser Ebenmäßigkeit schlummerte. Doch sie hatten nicht bezahlt, um dahinter zu schauen. Denn wer sich etwas länger in irgendein Gesicht versenkte, dem flogen aus einem angespannten Lächeln oder einer verkniffenen Nasenwurzel Sehnsüchte und Ängste entgegen, Verzichte und nicht gelebtes Leben. Zehn und hundert Gebote dazu, deren oberste zwei, Anständigkeit und Ordnung, halfen, das Dasein zu fristen. Wirklich leben würden die Grasbichler dann im Jenseits, wohin die Kirchturmspitze zeigte. Einigen dienten die vorgegebenen Regeln als Korsett, das ihnen sicheren Halt gab. Doch was manchem eine Stütze war, wurde manchem eine Last. Eine Enge, die den einen oder anderen ausbrechen ließ, ja sogar