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Vom Sand in deinen Schuhen
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eBook353 Seiten5 Stunden

Vom Sand in deinen Schuhen

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Über dieses E-Book

Harald will sterben.
Anja und Rainer wagen einen Neubeginn.
Für Chrissi brechen unbekannte Zeiten an und Elisabeth unterstützt sie dabei.
Holger erlebte seinen schlimmsten Alptraum und Ruth steckt noch mittendrin.

Sieben Menschen, die sich an der holländischen Nordseeküste kennenlernen und für die sich an diesem Sommertag ihr Leben grundlegend verändert. Jeder Einzelne von ihnen steht an einem Wendepunkt in seinem Leben und teils aus banalen Gründen kommen sie ins Gespräch miteinander. Es geht um spontane Begegnungen, vertane Chancen im Leben und die Frage, warum wir eigentlich immer auf irgendetwas warten. Wir warten, obwohl wir die Zeit und die Möglichkeiten hätten, unser Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen.
Es ist ein emotionaler Roman, der das Leben bejaht und für Leser gedacht ist, die darüber nachdenken, was es bedeutet, am Leben zu sein.

Die Autorin Babett Weyand, geb. 1976, nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Lebensgeschichten ihrer Protagonisten und erlaubt uns einen Blick in die Tiefen der menschlichen Seele. Der kraftvolle und intensive Schreibstil inspiriert nicht nur, er bietet dem Leser auch die Möglichkeit das eigene Leben zu erfahren.

Ganz nach dem Motto: Worauf wartest du noch? Nimm dein Leben verdammt noch mal selbst in die Hand, erst dann kannst du glücklich sein!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Aug. 2014
ISBN9783847689485
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    Buchvorschau

    Vom Sand in deinen Schuhen - Babett Weyand

    Manchmal...

    Manchmal ist das Leben einfach nur magisch!

    Es schenkt uns Momente, die uns erstaunen lassen

    und dann geschehen Dinge,

    die sich mit Logik und Vernunft nicht erklären lassen.

    Das Beste daran: Wir können uns darauf einlassen

    und sind am Ende verzaubert.

    Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

    Harald

    „Das Leben ist ein Traum, verwirkliche ihn." (Mutter Theresa)

    Behutsam bohrte er seinen großen Zeh in den butterweichen, warmen Sand. Die Sandkörner knirschten unter seinen müden Schritten. Zaghaft, ja mühsam, setzte er einen Fuß vor den anderen. Jeder weitere Schritt strengte ihn an, zerrte an seinen Kräften. Er kämpfte mit seinem Körper schon seit Wochen und langsam schwanden seine letzten Kraftreserven. Fröhlich lachende Kinder sprangen an ihm vorbei, riefen aufgeregt nach ihren Eltern, spiegelten die reine Lebenslust wider.

    Diesen Ausblick auf das Meer hatte er nicht nur sehnsüchtig erhofft, nein, er erwartete ihn einfach, setzte all dies hier voraus. Das war seine Erwartung an seinen letzten Tag. So sollte es sein und genauso war es auch.

    Schon als er vor Jahren diesen schimmernden Sandstrand für sich entdeckt hatte, faszinierte ihn diese Freiheit der Elemente. Das Meer rauschte unaufhörlich. Der Wind blies aus Westen, die Dünengräser gaben kleine Inseln frei. Er wusste damals schon instinktiv, dass dies hier sein Fleckchen Erde zum Sterben war. Er konnte locker die karibische Atmosphäre und berauschende Stimmung entbehren, die einen vergessen lässt, in welcher bescheidenen Lage man sich befindet. Er verzichtete gerne auf das sonnenverwöhnte und einladende Ambiente. Was er in diesen, seinen verbleibenden Lebensstunden tatsächlich benötigte, war einfach. Schlicht und simpel. Einen Platz, der ihm seine eigene Endlichkeit vor Augen führte, obwohl sie doch schon so greifbar nah war. Er brauchte einen Ort zum Abschiednehmen, natürlich und rein. Zurück zum Ursprung allen Lebens.

    Angekommen an diesem, seinem letzten Reiseziel spürte er eine berauschende Leichtigkeit.

    Er war zurückgekehrt in diese Verlassenheit und Stille. Nur ein paar Möwen kreisten um ihn herum, pickten die mickrigen Brotkrumen auf und warteten doch vergeblich auf ein Happy End. Er beobachtete sie und freute sich über deren Lebensfreude. Sie zankten und sie stritten sich, auch um den noch so kleinsten Brotkrümel. Bei Gefahr allerdings hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

    Das war es dann also. Alle Lebenskapitel geschrieben, jede Emotion gelebt, die letzten Tränen versiegt und allmählich kam ein Gefühl der Freude auf. Die Hoffnung besiegte die Angst und endlich legte sie ihren warmen Arm um seine Schultern. „Komm, mein Freund", hörte er sie wispern. Mit einem betrübten Abtasten der Natur blieb sein Blick am Leuchtturm von Ouddorp haften. Ein imposanter Zeitzeuge aus den späten 1940er Jahren. Was mag der wohl alles schon gesehen haben, durchleuchtet mit seinem wiederkehrenden Lichtstreifen? 56 Meter soll er hoch sein, hinauf gegangen ist er aber nie. Obwohl er es doch gern einmal getan hätte. Noch so eine vertane Lebenschance auf seinem Weg. Ein letzter bescheidener Wunsch, der allerdings nicht mehr in Erfüllung gehen wird.

    Die Sonne neigte sich allmählich dem Horizont zu und plötzlich leuchtete der Turm in all seiner imposanten Pracht ziegelsteinrot. Jeder einzelne Backstein warf das Licht der Sonne zurück. Beeindruckend und romantisch, obwohl er für kitschige Romantik nie viel übrig hatte. Doch jetzt imponierte ihm dieses Schauspiel der Natur. Er lehnte sich zurück, genoss dieses Farbenspiel, beobachtete und schwieg. Nur das Meer rauschte. Unaufhörlich.

    Deine letzte Vorstellung?, fragte er hinaus auf das Meer. „Du wirst mir fehlen. Du, mit all deinen Facetten, den Möglichkeiten und den Menschen, die ich liebte. Ich hätte wirklich gern mehr Zeit im Hier und Jetzt verbracht, aber hey, das Leben ist schön, mein Leben war schön. Und in Gedanken formulierte er seinen Abschiedsgruß an sein geliebtes und erfülltes Dasein: „So, meine Liebe, nun stehen wir an diesem Ort. Unsere Wege trennen sich. Ich gehe in eine andere Richtung. Aber weißt du, es war herrlich mit dir, wir haben gelacht, gelebt, gesungen und gesoffen, geliebt und getanzt. Und trotz all dem spürtest du keine Skrupel, mich an dieser abscheulichen Krankheit leiden zu lassen. All die sinnlichen Erfahrungen und Erlebnisse, die ich mit dir erleben durfte, möchte ich nicht missen. Wir erlebten Spaß und genossen das tagtägliche Dasein. Nur auf dieses Ende hätte ich gern verzichtet. Aber so bist du nun mal, du altes Haus. Ich bin dir nicht böse, warum auch? Ich hatte ein wunderbares Leben und ich danke dir für die Chancen, die du mir in all den Jahren ermöglicht hast. Ich werde dir das nie vergessen. Du hast mich leben lassen. Mit dir habe ich mich spüren können. Ich war am Leben und das verdanke ich dir. Vielmehr war es nicht. Also nichts für ungut. Da ich nie ein Freund großer, bewegender Abschiedsworte war, lass ich es einfach. Leben kommt, Leben geht. So ist es nun mal. Also, mach´s gut."

    „Ich müsste dies aufschreiben, dachte er so bei sich. Die letzten Worte eines kranken Menschen. Ach, wer will denn so was lesen? Das interessiert doch keinen. „Lass mal gut sein, riet ihm seine Vernunft. „Genieße die restlichen Stunden, die dir bleiben werden, wenn du das hier tatsächlich durchziehen willst." Abermals nahm er einen kräftigen Schluck aus der Flasche Rotwein. Den Besten, den sie anboten, verlangte er im Supermarkt dieses kleinen, beschaulichen Fischerdorfes an der holländischen Nordseeküste. Trotzdem schmeckte er ihm nicht. Ein Merlot, Jahrgang 2007 aus Italien. Na super, die italienischen Weine werden auch überbewertet oder der Verkäufer offenbarte seine mangelnden Kenntnisse. Eine Möglichkeit, die er eher in Betracht zog. Aber egal. Warum sollte er sich aufregen? Gelassenheit ist in den letzten Wochen zu einer seiner größten Stärken geworden. Und doch, wenn er so zurückblickte, befiel Trauer und Schwermut sein müdes Herz. Ganz genau konnte er sich noch an diesen Tag X erinnern. Der Tag, an dem sein bisheriges Leben zu Ende ging.

    Darmkrebs!" Eine knallharte unverblümte Diagnose, die dich besinnungslos nach Luft schnappen lässt. Da stehst du dann in einem sterilen Arztzimmer, du kennst das Ergebnis all dieser anstrengenden Tests längst und doch bleibt dir für Sekunden die Luft weg. Es ist wahr. Verdammt!

    Jeder wahnwitzige Versuch, sich auf diese Schocknachricht vorzubereiten, war zum Scheitern verurteilt. Aus einem vagen Verdacht wurde knallharte Realität.

    Stundenlang, wieder und wieder, hämmerte Harald die Symptome in die Tastatur seines Computers, um dann doch wieder und wieder entsetzt und fassungslos auf das Ergebnis seiner Suche zu starren. Die Antwort der allwissenden Internetgemeinschaft diktierte immer die gleichen fünf Buchstaben: Krebs! Ein simples Wort, das sich in seine Seele einbrannte, bis er entnervt und völlig aufgewühlt aufgab.

    Aber wie nur soll man sich denn auf diese zerstörende Diagnose vorbereiten? Wie kann der Umgang mit den zermürbenden Schmerzen, den Tränen und der eigenen Endlichkeit gelingen? Was tun, wenn das eigene Leben plötzlich aus den Fugen gerät? Oder war das doch nur die Quittung für seinen ausschweifenden Lebensstil?

    Er hockte entsetzt, aber gefasst, in diesem langweiligen, nichtssagenden Besprechungszimmer des Oberarztes der Onkologie und versuchte krampfhaft, aber unauffällig, den fetten Kloß, der sich in seinem Hals festgesetzt hatte, herunterzuschlucken.

    Harald blickte in die verständnisvollen und offenen Augen des Arztes, der seinen zweiten Frühling sicher auch schon etliche Jahre hinter sich hatte. Er schätze ihn auf Ende 50, wobei das krause, grau melierte Haar und die schwarze Hornbrille, diesen Eindruck noch verstärkten. Dieser Mann ruhte in sich, wie ein dicker Buddha im Lotossitz und doch hatte Harald das Gefühl, dass sich sein Gegenüber hinter seinem massiven Schreibtisch aus glänzend rotem Mahagoniholz versteckte. Die Fotos einer jungen lächelnden Frau mit goldblondem Haar waren ihm nicht entgangen. Sie muss wohl seine Frau oder seine Tochter sein, sicher war er sich aber nicht.

    „Ich liebe die Farbe von Klatschmohn. Die ist so lebensbejahend."

    Unwillkürlich richtete der Arzt seinen Blick ebenfalls zu dem großen Bild an der rechten Wand.

    „Es ist von meiner Frau und ich liebe es."

    „Sie hat Talent."

    „Ja, das hatte sie wirklich."

    „Sie hätte mit der Malerei nicht aufhören sollen."

    „Nun, manchmal kann man sich den Lauf des Lebens nicht aussuchen. Aber lassen Sie uns nicht über die Werke meiner Frau sprechen, sondern über ihre Erkrankung."

    Genau dies wollte Harald aber nicht!

    „Ich lege mein Schicksal in Ihre Hände, dann habe ich doch sicherlich ein Recht darauf, Sie zumindest ein wenig kennenlernen zu dürfen." Es sollte gar nicht so schnippisch klingen, wie es Harald herausplatzte.

    „Meine Frau ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Dieses Bild erinnert mich an die letzten gemeinsamen, unbeschwerten Tage mit ihr. Sie malte für ihr Leben gern und dieses Bild stammt aus ihren besseren Zeiten. Die Lebensfreude, die sie versprühte, spürt man auch auf diesem Gemälde."

    „Erzählen Sie diese Geschichte jedem Ihrer Patienten?" Harald glaubte ihm nicht. Skepsis mischte sich in das Gefühl, belogen worden zu sein.

    Und das nur, damit er sich auf das Elend, was ihn erwartete, einstellen sollte?

    „Nein, nur denen, die danach fragen. Mir ist wichtig, dass die Patienten begreifen, dass ich mit ihnen fühle. Ich kann sie verstehen, zumindest ansatzweise."

    „Ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube nicht, dass Sie das im Geringsten nachempfinden können. Die körperlichen Leiden und das Dahinvegetieren, die Symptome der Erkrankung, sind sichtbar und erklärbar, lassen sich in Büchern nachlesen. Aber die menschliche Tragödie, die sich in den Köpfen und in den Familien der Betroffenen abspielt, können Sie nicht nachvollziehen. Beim besten Willen nicht."

    „Vergessen Sie nicht, ich bin Onkologe. Ich habe tagtäglich mit dieser Unheil bringenden Krankheit der Menschen zu tun. Jeder Patient erlebt seinen eigenen Schicksalsschlag völlig verschieden, aber bei Jedem trägt er den gleichen Namen: Krebs!"

    „Aber jeder Mensch ist anders und jedes Leben ist ein anderes. Alle miteinander zu vergleichen, erscheint mir vermessen."

    „Ich will Sie nicht allein durch diesen Kampf schicken. Es wird hart werden, aber ich stehe jederzeit an ihrer Seite und das nicht nur, weil ich um die Schmerzen und das Leid weiß, welches Sie durchleben müssen. Ich sehe es als meine verdammte Pflicht an, jeden einzelnen Tag eine solide Stütze in Ihrem Kampf zu sein. Verlässlich und vertrauensvoll. Ich vergleiche Menschen nicht, ich begleite sie."

    „Menschen kommen, Menschen gehen."

    „Doch der Arzt bleibt." Aufmunternd nickte er zu Harald. Er liebte solche Gespräche, die eben nicht nur zart an der Oberfläche kratzten, sondern auch die Seele erschüttern können.

    „Aber eine Frage habe ich noch."

    „Welche?"

    „Wie viele ihrer Patienten gehen aus diesem Kampf als Gewinner hervor?"

    „Wollen Sie sich tatsächlich mit Zahlen quälen?"

    „Ich brauch nur eine!"

    „Warum? Was versprechen Sie sich von dieser Information? Es bleibt, wie es ist, jeder Krankheitsverlauf ist anders. Pauschalisierungen helfen nicht weiter."

    „Ich will nur wissen, ob mich neben der Gesundheit nun auch das Glück verlässt."

    „Aber selbst wenn dem so ist, bleibt Ihnen immer noch die Freiheit. Freiheit, Ihr Leben selbstbestimmt zu leben, sogar in diesen Stunden, Tagen und Wochen."

    „Ja, bleibt sie wirklich? Ich zweifle daran." Erneut wanderte sein Blick auf den knallig roten Klatschmohn an der Wand. Das Gemälde faszinierte ihn. Es strahlte eine Freude, eine Lebensenergie aus, die hier in diesem Raum kaum zu ertragen war. Aber was wäre denn, wenn ihm tatsächlich nur noch die Freiheit bliebe?

    Plötzlich waren für Harald die Worte des vor ihm sitzenden Arztes keine leeren Worthülsen mehr. Er verstand sehr gut, wie sein Gegenüber für seine Ehefrau gekämpft und gelitten haben musste, um sie am bitteren Ende doch gehen zu lassen. Er war gezwungen, sie los zu lassen und versteht nun, wie es sich anfühlt, zu verlieren.

    Der Buddha schaute ihn wehleidig und bedrückt an. Er fühlte mit ihm und war auf jede Art von Zusammenbruch vorbereitet, hatte sich gründlich auf Schock, Tränen und Geschrei vorbereitet. Doch in diesem Moment passierte nichts. Harald starrte ihn an und wartete. Es herrschte eine gespannte Ruhe zwischen ihnen. Dieser adrette und sensible Arzt amüsierte ihn. Das auf der Krankenakte abgebildete Ergebnis allerdings schockierte beide mehr, als Haralds äußere scheinbare Gelassenheit es erkennen ließ.

    Aber warum auch sollte er in Hysterie und Panik ausbrechen, wenn es an der vernichtenden Realität nichts mehr zu rütteln gab? Nur eine Frage brannte ihm im Kopf und verursachte immer stärker werdende Kopfschmerzen: Wie viel Zeit bleibt mir? Also stellte er sie. Schonungslose Offenheit hatte er sich selbst verordnet.

    „Es bleiben Ihnen drei Monate. Maximal. Sie befinden sich in einem fortgeschrittenen Stadium. Wir werden den Tumor trotzdem in einer Operation entfernen. Danach können wir mit der Chemotherapie noch in dieser Woche beginnen. Vorausgesetzt die Ergebnisse stimmen."

    Das mitfühlende Gesicht seines Arztes erheiterte ihn irgendwie immer noch. Dieser hatte auf die nächste Schockreaktion gewartet, vergeblich. Es stiegen keine Tränen in Haralds Augen auf. Im Gegenteil, er war weiterhin die Ruhe selbst, so gar nicht einem Zusammenbruch nahe. Er kann nicht erklären warum, aber vielleicht wusste er es einfach schon. Geahnt und gespürt. Seine Zeit war begrenzt. Greifbar, am Schlusspunkt des irdischen Seins.

    „Mein kurzes, aber schönes Leben hat auch ein Ende. Hab wohl doch zu viel gesoffen in den letzten Jahren. Gehaltvolles Essen und süffiger Wein, gekrönt von gereiftem Grappa und einer köstlichen Zigarre, das ist wohl doch alles nicht so gesund. Aber lecker." Er bereute nicht eine Minute, nicht einen Bissen und erst recht kein Glas Wein. Das war sein Leben, geprägt von Genuss und Leidenschaft. Nun musste er wohl den Preis dafür bezahlen. Aber muss das nicht jeder einmal?

    „Wie sieht es mit meinen Genesungsaussichten aus?" Innerlich lachte er über diese Frage, denn die Antwort kannte er längst. Er war zwar kein Experte und auch kein Onkologe, aber es war ihm mehr als bewusst, dass Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium nicht wirklich gute Heilungschancen aufweist..

    „In diesem Stadium, in dem Sie sich befinden, ist eine Heilung leider die Ausnahme als die Regel. Es tut mir leid. Ich würde Ihnen gern eine andere Prognose stellen, aber alles andere, als die Wahrheit wäre nur gelogen."

    „Und trotzdem wollen Sie mich noch operieren?", fragte Harald nach.

    „Ja natürlich. Wir werden schauen, ob wir den Tumor komplett entfernen können und auch, ob die Metastasen in der Leber noch operabel sind. Danach werden wir Sie einer Chemotherapie unterziehen. Und selbst wenn Sie dadurch weitere Monate Lebenszeit gewinnen, hat es sich doch schon gelohnt." Sein Arzt versuchte krampfhaft Zuversicht und Hoffnung zu verbreiten, aber es gelang ihm nur bedingt.

    „Aber zu welchem Preis?" Die Frage blieb unbeantwortet im Raum und Harald wollte gar keine Antwort darauf. Denn auch diese kannte er längst.

    Der Arzt ratterte seinen Therapieplan runter, aber Harald hörte nicht mehr zu. Er sah aus dem Fenster, die ersten Krokusse auf der teilweise noch schneebedeckten Wiese läuteten den Frühling ein. Wie herrlich. Alles hat seinen Lauf. Ein Kommen und Gehen. Er spürte, dass er nun in einer Maschinerie gefangen war, aus der es kaum ein Entkommen geben wird. Bis zum letzten Atemzug und er fragte sich unwillkürlich, ob er das überhaupt alles wollte. Sollte so sein Leben zu Ende gehen, fest gekettet an surrenden Maschinen, gefesselt an rollenden Krankenhausbetten? Er saß immer noch in diesem Arztzimmer und sah auf das Bild von rotem Klatschmohn. Die Freiheit würde ihm bleiben. Stimmte das?

    Er wollte doch nur Klartext, keine Gefühlsdudelei. Er wünschte sich jemanden, der ihm knallhart an den Kopf warf, dass drei Monate zu leben, Scheiße ist. Dass läppische drei Monate der mickrige Rest deines Lebens sind. Dass es in drei Monaten eben nicht mehr machbar ist, all seine verbliebenen Wünsche zu erfüllen. Dass diese Zeit noch nicht mal ausreicht, sich angemessen von seinen Lieben zu verabschieden. Es wird so vieles nicht mehr gesagt werden können. Herzliche Umarmungen, tröstliche Abschiedsworte, ein letzter Blick, mehr bleibt nicht.

    Es bleiben ihm drei Monate, obwohl doch noch Jahre geplant waren. Er will noch einmal von Herzen lachen müssen. Lieben, dass sich die Welt um ihn herum dreht. Genießen, mit allen seinen Sinnen. Ein einziges Mal noch in die Welt von „Gandhi" eintauchen, die Welt unter den Füßen verlieren, schwebend durch die Lüfte gleiten.

    Er hatte alles mitgemacht. Die Übelkeit, das Erbrechen, die unerträglichen Schmerzen nach der Operation, die Qualen der Chemotherapie und die Tränen seiner Liebsten. Die Hoffnungslosigkeit und Ungewissheit, die vergeblichen und hilflosen Versuche seiner Freunde, ihn für Stunden aufzumuntern und die Qualen vergessen zu machen. Die ehrlichen und schmerzenden Worte seines Arztes. Die Genesungswünsche und auch tiefgründige Gespräche mit Leidensgenossen über den Sinn und Unsinn dieser Krankheit und des eigenen Lebens überhaupt. Die psychologische Unterstützung, die endlos langen Wartezeiten.

    Das war das Leben, welches er die vergangenen 3 Monate führen musste. Und immer mehr verfestigte sich sein Wunsch auf ein selbstbestimmtes Ende. Einem inneren Drang gleich spürte er instinktiv, dass er nicht hinter diesen Mauern in einem abwaschbaren Krankenhausbett sterben wollte. So nicht!

    Es ging ihm gut. Vielleicht nicht körperlich, aber seelisch ertrug er diesen Wandel. Er war gefestigt. Standhaft in seinen Einstellungen und Entscheidungen. Natürlich hatte er sich in den zahlreichen, endlosen Nächten, in denen er zwischen Badezimmer und Krankenbett pendelte, gefragt, ob er sich nicht selbst belüge. Aber er war sich stets sicher, dass es so in Ordnung sei. Die Krankheit hatte ihn gefunden, beherrscht ihn und es ist okay. Er muss damit klarkommen und er kann es, denn er hat die simple Theorie, dass ihm die Freiheit geblieben ist, verinnerlicht. Sie war sein rettender Strohhalm in diesen düsteren, stürmischen Zeiten. Seine Freundin dagegen zerbrach regelrecht an seinem Glauben und seiner Kraft. Er war mit sich im Reinen und, wenn es nun mal sein Schicksal war, durch diese Hölle zu gehen, dann tat er dies. So ist es nun mal, das Leben.

    Aber er nahm sein Schicksal selbst in die Hand, wollte nicht ferngesteuert durch die restlichen Lebenstage gleiten. Reflexartig strich er erneut über die verbundenen Wunden seiner rechten, zerschnittenen Hand, um die Geschehnisse der vorletzten Nacht in seinem eigenen Film wiederzusehen.

    Schlurfend war er den Flur der Krebsstation entlang geschlichen. Nicht nur, dass er permanent das Gefühl hatte, eingesperrt zu sein und sich den Regeln in diesem Krankenhaus unterwerfen musste, nein, er hatte das Bedürfnis dem ganzen Treiben hier ein Ende zu setzen. Ein einziges Mal wollte er mit Stolz und erhobenen Hauptes diese Station verlassen, bevor seine letzten Kraftreserven aufgebraucht und er nur noch ans Bett gefesselt wäre. Er war sterbenskrank, das wusste er und doch durfte er plötzlich nicht mehr so leben, wie er es sich wünschte. Der sehnliche Wunsch, nach Hause in sein Refugium zurückzukehren, drängte sich stetig in den Vordergrund. Die Freiheit, sie rief ihn.

    Er stand im Badezimmer seiner geräumigen Krankenzelle und betrachtete sich im Spiegel. „Du siehst erbärmlich aus! Kahlköpfig und eklig! Eingefallenes Gesicht, leerer Blick und aschfahle Haut. Abgemagert bist du! Mensch, wo ist denn bloß deine Würde hin, dein Stolz und Mut? Du solltest dich schämen! Zieh die Reißleine, solange du noch kannst! Und wisch dir endlich den Sabber vom Mund! Fünfmal hatte er sich in dieser Nacht bereits übergeben müssen, bis sich sein Lebenswille und Stolz gemeinsam ein letztes Mal aufbäumten. Zusammen schienen sie stark genug zu sein und sprangen ihm regelrecht in seinem Spiegelbild entgegen. „Nein. Nein! Nicht mit mir! Ihr macht keinen Freak aus mir! Ich bin noch immer Herr meiner Selbst. Es ist mein Leben. Und ich bin dafür verantwortlich. Nicht irgendeine Maschine oder Medikamente. Oh nein! Ich bestimme mein Leben und auch mein Ende. Verdammt nochmal. Mit einem wütenden Schlag zerschlug er den Spiegel in tausend Stücke. Sein Abbild zersprang. Die Splitter flogen umher. Erschrocken starrte er auf die kahle Stelle an der Badezimmerwand, die ihm vor Bruchteilen von Sekunden sein verzerrtes und ausgemergeltes Gesicht entgegen gespuckt hatte. Stunden später verließ er die Klinik. Er fühlte sich ein letztes Mal unbesiegbar. Da war sie wieder, diese alte Stärke und Kraft, seine Lebenskraft. Er hatte nur den bescheidenen Wunsch nach seinem eigenen Bett. Er wollte durch das geöffnete Fenster das Zwitschern der Vögel hören, die sich an seinem Dachfirst ein Nest gebaut hatten. Das Verlangen, den leisen Atem seiner Freundin zu spüren, ihren Duft, ihren Körper zu berühren, wurde unbändig stärker. Heimlich wollte er ihr beim Schlafen zusehen. Genügsam war er geworden.

    Doch der Krebs war stärker. Und er schon zu schwach.

    Irgendwann kam auch diese Einsicht.

    Aber er machte sich große Sorgen um seine Liebste. Sie war bei weitem nicht so stark und sicher wie er. Immer wieder hatte er seine Freundin in den Arm nehmen und trösten müssen, weil sie verzweifelt vor ihm zusammengebrochen war. Sie suchte nächtelang im Internet nach Alternativen, recherchierte in Büchern, stellte verzweifelte Fragen und betete doch für ihn. Sie kämpfte, wollte nicht aufgeben. Auch wenn sie das ihm so nie gesagt hatte, wusste er genau, dass sie ihm das vorhielt. Er habe sich aufgegeben, dabei war er nur realistisch und genoss einfach die letzten Stunden und Tage. Klar, die Leichtigkeit seiner Tage war ebenso vergänglich, wie die Fröhlichkeit und Lebensfreude. Aber auf was sollte er sich denn noch freuen? Jede weitere Infusion von diesem Teufelszeug saugte die Energie aus seinen Fasern. Jede Zelle seines Körpers litt Höllenschmerzen und der Wunsch nach einem Ende dieser Qualen setzte sich immer tiefer fest. Der Lebenswille verabschiedete sich allmählich, schien das Bleiben wohl für vergebliche Liebesmüh. Harald sah aber nur diese eine Möglichkeit. Im Krankenhaus dahinvegetieren? Undenkbar!

    Die Gewissheit, dass Liebe ihr durch die schwere Zeit helfen wird, bestärkte ihn. Sie respektiert seinen Weg, irgendwann. Er glaubte an diesen Gedanken, ja er hielt ihn fest und setzte all seine Hoffnung darauf. Alternativen erkannte er nicht an, damit er von seinem eigenen Schmerz nicht durchdrehe. Nein, sie wird seine Entscheidung verstehen. Sie wird seinen Abschied akzeptieren und ein neues, ein besseres Leben beginnen können. Ohne ihn. Aber mit seiner Liebe im Herzen. Das war der Trost, der ihm die nötige Kraft gab.

    Sein Entschluss stand fest und aus diesem Grund saß er auch hier an diesem abgelegenen, versteckten Strandabschnitt von Ouddorp. In diesem Augenblick zählte das alles nicht mehr. Schmerzen, Chemo, Medikamente, Tränen und Abschied, verlorene Tage und ungenutzte Möglichkeiten. Leben, Liebe, Glück und Hoffnung, Zuversicht und Glaube interessierten nicht mehr. Er saß hier, an diesem abgelegenen, weiten Strandabschnitt an der holländischen Nordseeküste, den er so liebte, und verabschiedete sich auf seine Art. Die Flasche Rotwein lugte aus dem warmen Sand, die müden Hände hat er um seine angezogenen Beine geschlungen. Die Wunden an der Hand schmerzten noch, aber es war egal. Seinen kahlen Kopf hat er auf die Arme abgestützt. Sein Blick durchstreifte die Landschaft, verfolgte stoisch die Wellen. Diese Beständigkeit, diese Konstante in seiner Reinheit. Trotz stetem Auf und Ab ist auf das Meer Verlass. Es fragt nicht nach Gründen, hält dir keine Moralvorträge, es nimmt dich auf, ohne Bedingungen, ohne Zögern, ohne Kompromisse. Auf seine letzten Stunden ist er bescheiden geworden. Es reicht ein Blick auf das geliebte Meer und die Zeit wird so unwichtig und nebensächlich. Die Einfachheit der Dinge vor ihm bereicherten sein Lebensglück. Ein vorsichtiges Lächeln verschaffte sich in seinem ausgemergelten Gesicht Platz. Traurig war er, aber glücklich.

    Quietschend rannten die Kinder durch den Sand, spielten Fangen und bauten lustige Sandburgen aus Muscheln und Strandgut. Doch sie tobten weit weg. Nur der auflebende Nordwind blies die vergnügten Schreie zu ihm herüber.

    Er schmiegte sich in den tiefen Dünensand, schloss die Augen und lauschte dem Rauschen des Meeres. Das laute Kreischen der Möwen ließ ihn dennoch erschauern.

    Friede, das ist es, was er jetzt fühlte in diesen weichen Wellen der Dünen. Frieden mit sich und der Welt. „Ich bin da. Ich bin angekommen. Meine Reise ist zu Ende. Welch wohliges, befreiendes Gefühl!" Er zog die steife Lederjacke ein wenig fester um seinen geschundenen Körper. Der Wind frischte auf. Obwohl es noch immer sommerlich warm war, fror er fürchterlich.

    Anja und Rainer

    „Wir drehen uns im Kreis, merkst du das denn nicht? Wütend sah Anja ihren Freund Rainer an. „Ja, was willst du? Was muss ich sagen, dass du endlich begreifst? gab dieser grimmig zurück.

    „Sei doch ehrlich, was soll das mit uns noch werden? Ganz ehrlich, ich sehe kaum noch Chancen für eine gemeinsame Zukunft! Du nimmst mich nicht ernst. Ich versteh das nicht." Anja schaute aufs Meer hinaus. Diese Monotonie des Rauschens soll ja beruhigend wirken, bei ihr schlug das Geklatsche des Wasser zu ihren Füßen ins Gegenteil um.

    „Hast du eine Vorstellung, wie ich mich fühle? Du knallst mir deine Vorwürfe an den Kopf, aber wie es mir geht, interessiert dich gar nicht." Rainer versuchte Boden wieder gut zu machen und nicht kampflos nachzugeben.

    „Ich habe das Gefühl, dass wir nur noch aus reiner Bequemlichkeit zusammen sind. Wir entscheiden nicht mehr als Paar, wir leben nicht mehr als Paar. Wir existieren nebeneinander her. Du lebst dein Leben und deine Rücksicht auf meine Gefühle und Belange, hält sich ja auch mehr und mehr in Grenzen." Da waren sie wieder, ihre wiederkehrenden Vorwürfe. Rainer schwieg.

    „Ja, jetzt sagst du wieder nichts. Ich habe Recht, oder?" Anja reizte Rainer weiter und machte sich nicht die geringste Mühe, sich in seine Lage zu versetzen. Doch Rainer schwieg immer noch.

    Anja unternahm einen weiteren Versuch: „Wann waren nur wir zwei das letzte Mal gemütlich essen? Kannst du dich daran erinnern? Wann hast du mir das letzte Mal eine Überraschung mitgebracht? Es müssen ja nicht immer Blumen sein, die kauf ich mir selbst. Versteh mich nicht falsch, du brauchst mir nicht jeden Tag etwas aus der Stadt mitzubringen. Das meine ich nicht. Ich wünsche mir gelegentlich Aufmerksamkeiten, die mir zeigen, dass du überhaupt noch an mich denkst. Das vermisse ich nämlich sehr."

    „Das stimmt, ich vergesse das ständig.", gab Rainer kleinlaut zu.

    „Und warum?"

    „Ich weiß es nicht." Rainer war nie ein Mann vieler Worte, aber im Moment fehlten selbst die.

    „Ich kann es dir sagen. Es ist alles zur Gewohnheit geworden und wir setzen alles, so wie es ist, als Selbstverständlichkeit voraus. Aber weißt du, das ist es nicht. Nichts ist sicher, nur weil wir es seit Jahren hinnehmen und akzeptiert haben."

    „Ich soll dir also Geschenke mitbringen und dann ist alles wieder gut? Ist es das, was du willst?"

    „Nein! Anja versuchte krampfhaft nicht hysterisch zu klingen und stieß laut schnaubend Luft aus. „Ich wünsche mir, dass du mich wieder siehst. Es braucht dazu nicht unbedingt Geschenke, dies können auch Berührungen oder Umarmungen sein. Ja, nimm mich doch einfach mal wieder in den Arm. Küss mich! Wann hast du mich das letzte Mal geküsst, ohne dass ich darum bitten musste? Anja war noch nicht fertig.

    „Um mich zu sehen, solltest du nur die Augen öffnen und erkennen, dass ich noch da bin. Ich lebe mit dir, bei dir und ich stehe zu dir. Und in meiner kleinen Bescheidenheit, erwarte ich das auch von dir. Wenn du mit deinen Kollegen weggehst,

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