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Die schönsten Märchen aus Kasachstan
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eBook296 Seiten4 Stunden

Die schönsten Märchen aus Kasachstan

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Über dieses E-Book

In diesem Buch finden Sie die schönsten Märchen aus Kasachstan. Sie spiegeln die Vielfalt und Vitalität der dort ansässigen Menschen wieder und vermitteln uns einen Eindruck von der Faszination dieses uns so fremden Landes.
Kasachstan ist ein Binnenstaat zwischen dem Kaspischen Meer im Westen und dem Altai-Gebirge im Osten. Gemessen an der Fläche ist Kasachstan der neuntgrößte Staat der Erde.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte sich das Land am 16. Dezember 1991 als Republik Kasachstan unabhängig.
Seine Landschaft ist sehr vielfältig, wobei allerdings der größte Teil des Territoriums aus Ebenen, niedrigen Bergen und Hügeln besteht. Wegen seiner Größe und der Ausdehnung über viele Naturzonen besitzt Kasachstan eine ausgesprochen reiche Palette von Flora und Fauna. Die vielfältigen Naturschätze werden in 16 kasachischen Nationalparks und Naturschutzgebieten geschützt. Im Norden, wo die Steppen und Waldsteppenvorherrschen, die zusammen 28,5 % der Fläche Kasachstans ausmachen, wachsen viele Getreidepflanzen und Gräser. Über 14 % des Territoriums erstrecken sich Halbwüsten. Hier trifft man auf deutlich geringeren Artenreichtum als in den Steppen. Als Naturraum am weitesten verbreitet sind in Kasachstan die Wüsten. Hier wachsen nur trockene, kleinwüchsige Pflanzen mit langen Wurzeln.
In Kasachstan leben Angehörige von mehr als 50 ethnischen Gruppen mit heute jeweils mehr als 1.000 Angehörigen. Die größte Ethnie bilden laut Zensus 2009 mit 63 % der Bevölkerung die turksprachigen Kasachen. Die größte Minderheit bilden die Russen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Jan. 2019
ISBN9783742708021
Die schönsten Märchen aus Kasachstan

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    Buchvorschau

    Die schönsten Märchen aus Kasachstan - Andreas Model

    Vorbemerkung

    Märchen sind Prosatexte, die von wundersamen Begebenheiten erzählen und in allen Kulturkreisen auftreten. Seit jeher sind sie eine wichtige und sehr alte Textgattung in der mündlichen Überlieferung überall auf der Welt. Fast jeder von uns ist mit dieser Erzähltradition aufgewachsen und sie ist ein Teil unserer Menschwerdung.

    In diesem Buch finden Sie die schönsten Märchen aus Kasachstan. Sie spiegeln die Vielfalt und Vitalität der dort ansässigen Menschen wieder und vermitteln uns einen Eindruck von der Faszination dieses uns so fremden Landes.

    Und jetzt wünsche ich Ihnen, ob jung oder alt, eine unterhaltsame und zuweilen vielleicht auch lehrreiche Lektüre dieser so verschiedenen Märchen aus Kasachstan, die uns auch in besonderer Weise die Eigenheiten dieses Landes und seiner Menschen aufzeigen.

    Das Pferd des Khans Shanibek

    Der Khan Shanibek hatte einen Rassehengst - ein richtiger Wirbelwind. Er war der ganze Stolz des Khans und ihm das Liebste auf der ganzen Welt.

    Eines Tages wurde der Hengst krank. Der Khan wusste nicht ein noch aus vor Kummer. Er ließ alle Staatsgeschäfte ruhen, trank nicht, aß nicht und schlief nicht.

    An alle erging eine furchtbare Drohung: »Wenn es einer zu sagen wagt, mein Lieblingspferd sei tot, jage ich ihm einen Pfahl durch die Kehle.« Schrecken verbreitete sich unter den Hofleuten. Die Diener des Khans wagten kaum zu atmen. Die Pferdeknechte ließen das Pferd keine Minute aus den Augen. Das Pferd aber starb schon bald.

    Jetzt gab es keine Hoffnung mehr.

    Alle erwarteten den Tod. Die Männer sagten ihren Frauen, die Eltern ihren Kindern Lebewohl.

    Da begab sich der weise Shirensche-Scheschen zum Khan. Dieser starrte ihn mit erloschenen Augen an. »Du willst von meinem Pferd sprechen?«

    »Ja, großer Khan.«

    »Was ist mit meinem Pferd? Antworte!«

    »Oh, mein Gebieter! Sei ruhig. Mit dem Pferd ist nichts geschehen. Es hat sich nicht verändert, nur will es kein Futter, schlägt die Augen nicht auf, bewegt die Beine nicht und wedelt nicht mit dem Schwanz.«

    »Also, ist mein Pferd tot?« rief der Khan. »Ja, so ist es, mein Gebieter! Doch bedenke, dass das verbotene Wort, für das allen eine grausame Strafe drohte, nicht aus meinem, sondern aus deinem Mund kam. Ich glaube nicht, dass du dir selbst den Tod wünschst.«

    So wendete der weise Shirensche-Scheschen mit seinen klugen Worten den Zorn des Khans von sich und von den anderen ab.

    Der Esel als Sänger

    Groß ist die Welt, Menschen gibt es solche und solche, was Wunder, dass irgendwann einmal in einem Aul sorglos der alte Schwätzer Shaksybai lebte. Er besaß einen Esel. Äußerlich unterschied er sich in nichts von anderen Eseln, doch hatte er eine solche Kehle, dass sich sogar die Leute in den Nachbaraulen die Ohren zuhielten, wenn er in seinem Verschlag den Rachen aufriss.

    Eines Tages kam Shaksybai in die alte Stadt Turkestan und eilte geradewegs zum Basarplatz. Hier band er seinen Esel an einen Baum und huschte, sein Gewand hochgerafft, in eine Teestube. In einer guten Teestube sind immer viele Leute, und wo viele Leute sind, wird gesprochen, und wo gesprochen wird, wird gestritten, und wo gestritten und gesprochen wird, ist Shaksybai unübertrefflich. Es heißt ja: »Ein Schwätzer hat keinen Verschluss vor dem Mund.«

    Lange wartete der Esel vor der Teestube auf seinen Herrn. Die Sonne brannte, die Fliegen summten, die Bremsen stachen schmerzhaft. Der Esel bekam Hunger und Durst. Was tun? Er tat das, was an seiner Stelle jeder aus seiner Sippe getan hätte: Er hob den Schwanz, stellte die Ohren auf, blähte die Nüstern, riss das Maul auf und schrie. Die Leute, die sich in Geschäften und auch einfach müßig auf dem Basar tummelten, erzitterten und drehten sich zu dem Schreihals um. »Na, der hat ja 'ne Stimme!« raunte der ganze Basar. »So eine haben wir in ganz Turkestan noch nie gehört!«

    »Das ist mir neu!« freute sich der Esel. »So viele Jahre ziehe ich durch die Welt und erfahre erst jetzt, was ich wirklich wert bin. Ganz Turkestan hat mein Talent anerkannt!«

    Fortan glaubte der Esel, er sei tatsächlich als großer Sänger geboren und er überlegte: »Shaksybai will ich nun nicht mehr dienen! Ruhm und Ehre harren meiner. Werden aber dem Ruhm und Ehre zuteil, der auf seinem Rücken Holz schleppt?« In Hitze geraten, zerrte er aus Leibeskräften am Zügel und lief im Galopp aus der Stadt. Ade, alter Schwätzer Shaksybai! Ade, alte Stadt Turkestan!

    Der Esel wanderte nun durch die Wüste - die Sonne brannte noch heißer, die Mücken summten noch aufdringlicher, die Bremsen stachen noch schmerzhafter. Der Ausreißer wurde müde, vor Hunger und Durst ganz matt. Weit und breit kein Schatten, kein Grashalm, keine Pfütze. »Schwer ist der Weg zum Ruhm«, seufzte der Esel, »aber Allah hält die schützende Hand über seine Auserwählten.« Und er wanderte weiter.

    Plötzlich sah er - zu seinem Glück oder zu seinem Unglück - einen großen eingezäunten Garten. An einer Stelle war die Umzäunung nicht dicht, und durch die Lücke waren schattige Bäume, einladende, mit jungem Gras bedeckte Wiesen und blinkende Wassergräben zu sehen. Die Verlockung war groß, und der Esel zwängte sich in den fremden Garten. Alles auf der Welt vergessend, aß und trank er gierig. Ziemlich lange stampfte er über Wiesen und Blumenbeetebis er endlich bis zum Rülpsen satt war. Dann blieb er stehen, um zu verschnaufen, hob den Kopf und taumelte vor Überraschung.

    Aus dem Gebüsch trat eine junge Steppenantilope auf ihn zu, schön wie eine paradiesische Gurija. Auch die Antilope war heimlich in den Garten gedrungen. Seit dem Morgen tummelte sie sich in der Steppe und war bei ihrem ausgelassenen Treiben bis zu der Umzäunung gelangt, hatte sie übersprungen und labte sich nun an dem üppigen Gras. Als sie auf den Esel stieß, wurde sie ebenfalls starr vor Schreck und setzte schon zur Flucht an.

    Als der Esel die Antilope sah, verliebte er sich über seine langen Ohren in sie. Sein Herz hüpfte wie eine erschrockene Springmaus. Mit aufgerissenen Augen schaute er die Schöne an und dachte triumphierend: Wahrhaftig, das Schicksal meint es gut mit mir; schenkte mir eine seltene Stimme, rührte mich in den herrlichen Garten und jetzt schickt es mir eine Braut schöner als alle Bräute unter der Sonne! Er wackelte mit den Ohren und knüpfte ein Gespräch an: »Holde Dame! Mit deiner überirdischen Schönheit hast du mich bezaubert, erlaube, dass ich dir ein Lied singe. Wenn du meine süße Stimme hörst, wirst du die Liebe eines großen Sängers gewiss nicht abweisen.« Die Antilope schaute sich nach allen Seiten um und antwortete leise: »Glaubst du nicht, dass es klüger wäre zu schweigen, Esel? Gib Acht, dass uns wegen deiner Dreistigkeit nicht das gleiche Schicksal blüht wie den sieben sorglosen Dieben.«

    Und sie erzählte folgende Fabel: »Eines Nachts drangen sieben Diebe in das Haus eines Reichen ein. Sie versteckten sich im Keller zwischen riesigen Fässern mit altem Wein und warteten, bis im Hause alles still wurde, um dann ihrem Diebeshandwerk nachzugehen. Der Weinduft stieg ihnen jedoch in den Kopf, und sie schöpften mit der Hand die edlen Getränke in den Mund. Das endete damit, dass die Diebe in ihrem Rausch vergaßen, wo sie waren, und lauthals lustige Lieder anstimmten. Im Haus hörte man ihr Gegröle, die Wache des Reichen eilte in den Keller und setzte den ungebetenen Gästen arg zu. Wir beide sind doch auch nicht auf Einladung des Herrn in diesen Garten gekommen und laben uns nicht an diesen köstlichen Gräsern, weil er so großzügig ist!« endete die Antilope. »Oh, Antilope, du bist wunderschön«, entgegnete der Esel darauf, »doch bist du in der wilden Steppe aufgewachsen und hast anscheinend wenig schöne Lieder gehört. Ich verbrachte mein ganzes Leben unter Menschen, weilte sogar in Turkestan und darf wohl sagen, dass ich den Gipfel der Kunst erklommen habe. Wenn ich erst einmal mein Lied anstimme, wirst du mich bitten es niemals abzubrechen.«

    Die Antilope aber gab zur Antwort: »Wäre es nicht klüger sich in acht zu nehmen und keinen Lärm zu machen? Wer die Vorsicht vergisst, dem ist das Unglück Gewiss so wie jenem unbedachten Holzfäller.« Und die Antilope erzählte diese Fabel: »Ein Holzfäller verspätete sich im Wald, die Nacht brach herein. Plötzlich vernahm er in der Nähe laute Stimmen. Der Holzfäller kletterte hurtig auf einen Baum und versteckte sich in den dichten Ästen. Da kamen drei Dschinnen. Sie setzten sich unter den Baum, stellten ein kostbares Gefäß vor sich und begannen den Schmaus. Als ein Dschinn das Gefäß mit der Hand berührte, füllte es sich bis zum Rand mit wohlriechendem Kumys, den wahrscheinlich niemand außer den Dschinnen je getrunken hat.

    Der Morgen dämmerte herauf, die Dschinnen versteckten das Zaubergefäß unter dem Baum und verschwanden in verschiedenen Richtungen. Der Holzfäller kletterte rasch herunter, nahm das Gefäß und rannte aus dem Wald. Zu Hause lud er alle Verwandten und Nachbarn ein und brüstete sich mit dem erbeuteten Schatz. Er berührte das Gefäß mit der Hand, und der duftende Kumys ergoss sich in Strömen in die hingehaltenen Schalen. Der Holzfäller war vor Freude so toll, dass er sich das Gefäß auf den Kopf stellte und mit Gekreisch in der Jurte herumdrehte. Er stolperte, das Zaubergefäß fiel herunter und zerbrach. Pass auf, Esel, dass uns wegen deiner Unvernunft nicht dieses süße Gras entgeht.«

    Der Esel seufzte und sagte verdrießlich: »Oh, Antilope, die Natur hat dich über alle Maßen mit Schönheit beschenkt, in deine Brust aber ein hartes Herz gelegt. Aber ich bin sicher, die herrlichen Klänge meines Gesangs erweichen dein grobes Wesen und wecken in dir edle Gefühle.« Die Antilope überredete den Esel weiterhin: »Esel, besinne dich, bevor es zu spät ist, und schone deine Stimme für den Basar in Turkestan. Denn oftmals bringt uns ein einziger Ton, der zu ungelegener Zeit von den Lippen kommt, unwiderrufliches Unheil. Das vergaß der junge Kaufmann, und er musste es bitter bereuen.«

    Und die Antilope erzählte noch eine Fabel: »Ein junger Kaufmann, der auf einem Fest gezecht hatte, kehrte um Mitternacht durch die dunklen Straßen einer großen Stadt heim. Seine Taschen waren voller Gold. Was, wenn mich Diebe anfallen und meinen Reichtum rauben? überlegte der Kaufmann erschrocken. Um sich Mut zu machen, begann er laut mit sich selbst zu reden: ›Sollen mir die gemeinen Räuber nur unter die Augen kommen! Ich werde schnell mit ihnen fertig. Fürchte selbst den Teufel nicht!‹ Eine Landstreicherbande lauerte den Nachtschwärmern auf einer Straße nebenan auf. Die Kerle hörten die Worte des Kaufmanns, überfielen ihn, raubten ihm Geld und Gewand und ließen ihn splitternackt durch die Stadt laufen. Esel, es wird nun höchste Zeit, dass wir, wenn wir kein Unglück heraufbeschwören wollen, diese sinnlosen Gespräche beenden und uns vorsichtig aus dem fremden Garten stehlen.«

    Da rief der Esel: »Oh, Antilope, grausame Schöne! Wie kannst du fordern, dass ich schweige, wo sich doch das Lied für die Liebste aus der Brust ringt und schon in die Kehle steigt?!« Mit diesen Worten schloss er die Augen, wie es berühmte Sänger tun, riss das Maul auf, wie alle Esel zu einer bestimmten Stunde, und ihm entfuhr ein wilder Schrei. Die Antilope schreckte zurück, war mit einem Satz über dem Zaun und eilte mit dem Wind im Wettlauf in die Steppe. Der Esel, der nichts merkte, schrie weiter. Der Herr des Gartens lief mit einem dicken Knüppel in der Hand herbei und schlug den Esel windelweich, so dass der noch verzweifelter brüllte und halbtot über den Zaun setzte. Langsamen Schritts und mit hängendem Kopf trottete der Esel davon.

    Die Nacht brach herein. Der Vollmond stand am Himmel. Da warfen alle Steppenwölfe die Köpfe in den Nacken und heulten, nach dem Brauch ihrer Väter und Urväter, in allen Tonarten. Der Esel hatte nie in seinem Leben Wölfe gesehen und nie ihr Geheul gehört. Er blieb stehen, lauschte und sprach kennerhaft: »Das wollen Sänger sein! Mit meiner Stimme übertöne ich diesen jämmerlichen Chor.« Mit furchtbarem Pfeifen und Quietschen ließ er so viel Luft in die Lungen, wie es nur ging, und brüllte so laut, dass es in seinem eigenen Kopf dröhnte. Die Wölfe wurden vor Staunen sofort still: Woher kam mitten in der Nacht in der Steppe ein Esel? Wie auf ein Zeichen stürzten sie los und entdeckten sofort die Beute und damit endete die Geschichte des Esels.

    Wenn ihr unbedingt noch eine Geschichte von Shaksybai hören möchtet, dann lauft, so schnell ihr könnt, in die alte Stadt Turkestan, sucht dort eilends den großen Basar und auf dem Basar die belebteste Teestube und tretet ohne Zögern ein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Shaksybai, der seinen Esel vergessen hat, dort noch immer auf einer weichen Filzmatte sitzt, eine Schale Tee nach der anderen trinkt und allerlei glaubwürdige und unglaubwürdige Geschichten schwatzt. Der kann euch allerlei von sich selbst erzählen, ihr braucht nur zuzuhören.

    Der gekaufte Traum

    Sarsembai wuchs als Waisenjunge auf. Er hatte weder Vater noch Mutter. Sein Leben war hart. Er verdingte sich bei einem reichen Bei als Schafhirte. Dafür versprach ihm der Bei im Herbst ein lahmes Schaf. Sogar darüber freute sich der Hirte. So hütete er die Herde, aß die Reste vom Tisch des Beis und wartete auf den Herbst. Wenn der Herbst kommt, erhalte ich das lahme Schaf und werde endlich wissen, wie ein Stück Fleisch schmeckt.

    Eines Tages trieb Sarsembai die Schafe auf eine frische Weide. Da sprang auf einmal ein Wolf aus dem Busch und sprach: »Her mit einem Hammel! Tust du es nicht, zerreiße ich zehn von deinen Schafen.«

    »Wie kann ich dir einen Hammel geben, die Herde gehört doch nicht mir. Der Bei erschlägt mich dafür.« Der Wolf überlegte eine Weile und sprach: »Ich bin sehr hungrig. Geh zum Bei und bitte bei ihm um einen Hammel für mich.«

    Sarsembai ging zu seinem Herren und erzählte alles. Der Bei überlegte: Zehn sind mehr als einer; ein Hammel ist billiger als zehn. Zum Hirten sagte er: »Soll der Wolf einen Hammel haben. Aber er darf ihn nicht aussuchen. Verbinde ihm die Augen. Welchen er greift, der soll ihm gehören.«

    Sarsembai tat, wie ihm geheißen. Der Wolf stürzte sich mit verbundenen Augen auf die Hammelherde und biss einem Schaf die Gurgel durch. Es gibt ein Sprichwort: »Ein Stock in der Steppe dringt dem Unglücklichen in die Stirn.« Es kam nämlich so, dass der Wolf jenes lahme Schaf zerriss, das der Herr Sarsembai versprochen hatte. Sarsembai weinte bitterlich. Der Wolf bekam Mitleid. »Nichts zu machen, Hirte«, sagte er. »Das Schicksal will es so. Ich lasse dir das Fell. Vielleicht verkaufst du es günstig.« Sarsembai warf sich das Schaffell über die Schulter und trieb die Herde weiter.

    Da kam ihm der Bei auf dem roten Fuchs entgegen. Er stellte sich auf die Steigbügel und zählte die Schafe und die Hammel. Die Herde war vollzählig, nur fehlte das lahme Schaf Sarsembais. Da war auch schon Sarsembai in Sicht. Er lief hinter der Herde her, in der Hand den Hirtenstab, auf der Schulter das Schaffell, Tränen im Gesicht. Da lachte der Bei so laut, dass sogar das Pferd unter ihm zitterte. »Das ist mir ein schöner Hirte! Konnte sein eigenes Schaf nicht hüten. Und er wird auch auf meine nicht aufpassen... Fort aus meinen Augen! Wir sind quitt.«

    Nun trottete Sarsembai durch die Steppe, immer dem Schatten seines Hirtenstabes nach. Er geriet in eine ferne Stadt und begab sich auf den Basar. Lange drückte er sich in dem Menschengewimmel herum, doch niemand fragte nach dem Preis des Schaffells. Erst gegen Abend verkaufte er es für drei kleine Münzen. »Für drei Münzen kann ich mir drei Brotfladen kaufen, von drei Brotfladen drei Tage leben. Komme, was da wolle!« Er lief zu den Brotläden, unterwegs begegnete ihm ein kranker Alter, der um ein Almosen bat. Sarsembai gab ihm eine Münze und behielt die zwei übrigen für sich. Der Alte nickte mit dem Kopf, bückte sich und hob eine Handvoll Sand auf, die er dem Jungen hinhielt. »Nimm das als Dank für deine Güte«, sagte er. Sarsembai glaubte, der Bettler hätte den Verstand verloren, wollte den alten Mann aber nicht kränken, nahm deshalb den Sand und schüttete ihn in die Tasche.

    Die Nacht brach an. Es wurde dunkel. Wo sollte der heimatlose Hirte sich zur Ruhe legen? In einer Karawanserei bat er um ein Nachtlager. Der Besitzer ließ ihn ein, forderte aber Bezahlung, und Sarsembai gab ihm eine Münze. Alle anderen Mieter ließ der Wirt auf Teppichen und Filzmatten schlafen, nur Sarsembai musste sich auf den blanken Fußboden legen. Der hungrige Bursche schlief schlecht, auf dem kalten harten Boden hatte er schlimme Träume.

    Am frühen Morgen wurde es laut in der Karawanserei, im Hof eilten Leute geschäftig hin und her. Fremde Kaufleute, die sich zum Weg rüsteten, bepackten die Kamele. Dabei unterhielten sie sich. Einer sagte: »Ich hatte in dieser Nacht einen wunderschönen Traum: Wie ein Khan lag ich auf einem prunkvollen Ruhebett, die helle Sonne neigte sich über mich, auf meiner Brust aber spielte der klare Mond...« Sarsembai trat an den Kaufmann heran und sprach: »Noch nie habe ich einen schönen Traum gehabt, Onkelchen, verkaufe mir deinen Traum! Es soll mein Traum sein.«

    »Den Traum verkaufen?« fragte der Kaufmann spöttisch. »Was gibst du mir dafür?«

    »Ich habe nur eine Münze - eine einzige.«

    »Her damit!« rief der Kaufmann. »Die Sache ist abgemacht. Nun gehört der Traum dir, mein Junge.« Der Kaufmann lachte noch lauter, und alle anderen fielen in sein Lachen ein. Der Hirte aber, mit seinem Kauf sehr zufrieden, lief hopsend vom Hof.

    Viele Wege ging Sarsembai, kam durch viele Aule, aber nirgends fand sich Arbeit für ihn, keiner reichte ihm eine Schale Airan. Es war Winter geworden. In dunkler Nacht irrte Sarsembai durch die Steppe und hauchte sich die Finger warm. Der böse Wind stieß ihn hin und her, der Wirbelsturm drehte ihn im Kreis. Sarsembai weinte und die Tränen froren ihm am Gesicht an. Kraftlos sank er in den Schnee und stammelte verzweifelt: »Weshalb diese Pein, hätten mich doch nur die Wölfe zerfleischt!« Kaum hatte er das gesagt, da stand ein riesiger Wolf vor ihm: das Fell gesträubt, die Augen runkelten! »Endlich Beute!« heulte der Wolf. »Da werden sich meine Kleinen freuen.«

    »Töte mich, Wolf«, sagte der Junge still. »Sollen sich deine Kinder freuen. Der Tod ist für mich schöner als das Leben.« Der Wolf rührte sich aber nicht von der Stelle und schaute den Jungen unverwandt an. Endlich stieß er aus: »Bist du nicht Sarsembai, der mir das lahme Schaf gegeben hat? Guten Tag, ich habe dich erkannt. Fürchte dich nicht, ich tue dir nichts zuleide, ich will dir sogar dein Leben retten. Setze dich auf mich und halte dich fest!«

    Sarsembai setzte sich auf den Wolf, und der trug ihn durch hohen Schnee bis zum Rand eines tiefen Waldes und sprach: »Siehst du das Lichtlein dort in der Feme? Dort brennt ein Lagerfeuer. Da haben Räuber Rast gemacht. Jetzt sind sie weiter geritten und kommen nicht so bald zurück. Gehe hin und wärme dich an dem Feuer. Am Morgen wird es vielleicht wärmer. Lebe wohl!«

    Der Wolf verschwand, und Sarsembai eilte zum Feuer. Er wärmte sich und fand zur Stärkung ein paar Knochen, die die Räuber ins Feuer geworfen hatten.

    Vor Glück hätte er am liebsten ein Lied angestimmt. Was braucht ein Armer mehr zum fröhlich sein?

    Der Morgen graute, das Feuer brannte nieder und verlosch. Als das Holz verkohlt war, steckte der Junge die Hände in die warme Asche. Das war eine Wohltat! Er grub sie immer tiefer hinein und stieß plötzlich mit den Fingern an etwas Hartes.

    Sarsembai zog es aus der Asche, und ein Schrei der Verwunderung kam von seinen Lippen. Ein goldenes Kästchen! Das Herz schlug dem Jungen höher. Was mochte darin sein?

    Sarsembai klappte den Deckel auf. Sogleich zeigte sich der Rand der Sonne über der Erde, und der erste Strahl fiel auf das Kästchen. Sarsembai schrie auf und kniff die Augen zu, weil es so glänzte. Das Kästchen war über und über voll mit Edelsteinen. Der Hirte drückte das Kästchen an sich und lief außer sich vor Freude in den Wald. Wenn ich nur bald an ein Haus käme, dachte er. Vorbei die Not! Mein Schatz reicht für hundert Leute.

    Der Wald aber wurde immer dichter und dichter. Sarsembai bekam Angst, er bereute schon, dass er so tief ins Dickicht des Waldes gelaufen war. Was fange ich hier mit dem Schatz an?

    Da schimmerte zwischen den Baumstämmen Licht, und der Junge trat auf eine große Wiese. In der Mitte stand an einem fließenden Bach eine große weiße Filzjurte. Wer mag hier wohnen, überlegte Sarsembai. Werden sie einem hilflosen armen Teufel nichts zuleide tun? Sarsembai versteckte das goldene Kästchen in der Höhle einer alten Eiche und betrat die Jurte. »Guten Tag!« sagte er.

    In der Jurte brannte das Herdfeuer, davor kauerte, den Kopf gesenkt und in Gedanken versunken ein Mädchen. Als es den Fremdling sah, sprang es auf und starrte ihn überrascht und erschrocken an. »Wer bist du Bursche, wo kommst du her?« fragte es schließlich. Sarsembai verschlug es die Sprache. Nie zuvor hatte er ein so schönes Mädchen gesehen, nur in den Liedern der Akynen wird von solchen gesungen. Es musste wohl großen Kummer haben, denn ihr Blick war traurig und das Gesicht schneeweiß.

    Sarsembai fasste sich und sprach: »Ich bin der Waisenjunge Sarsembai. Irre durch die Welt und suche Arbeit, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, habe mich verirrt und bin auf deine Jurte gestoßen. Und wer bist du, Mädchen?« Das Mädchen trat auf ihn zu und sprach, vor Erregung bebend: »Ich heiße Altyn-kys, ich bin das unglücklichste Mädchen unter der Sonne. Aber was kümmert dich mein Los, Sarsembai? Du schwebst selbst in furchtbarer Gefahr. Lauf, so schnell dich deine Beine tragen, fort von hier, wenn du den Weg aus diesem verwunschenen Ort findest. Weißt du, wohin dich deine

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