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Trägerin des Lichts - Vererben
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Trägerin des Lichts - Vererben
eBook1.053 Seiten15 Stunden

Trägerin des Lichts - Vererben

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Über dieses E-Book

Viele Jahre sind seit der großen Schlacht von Gilda vergangen. Die Völker in und um Morann
leben in Frieden und Wohlstand.
Das von König Currann regierte Reich ist mächtiger denn je, Phelan ist sein treuer und
gerissener Herold und Althea in Saran fördert den Entdecker- und Eroberungsgeist ihres
Volkes nach Kräften. Mit ihnen wächst eine neue Generation Königskinder heran und blickt
voller Tatendrang in eine hoffnungsvolle Zukunft.
Doch der Schein trügt, denn die Schatten der Vergangenheit reichen bis in die Gegenwart.
Längst tot oder besiegt geglaubte Feinde erstarken wieder, lauern im Verborgenen und sinnen
auf Rache. Lange haben sie darauf gewartet, ihre Pläne endlich in die Tat umsetzen zu können.
Nun ist die Zeit dafür gekommen.
Plötzlich bekommt die scheinbar so heile Welt tiefe Risse, plötzlich sind die Macht und das
Ansehen, ja sogar das Leben der Königsfamilie bedroht.
Dies wird die Prüfung all der Lehren, welche Currann, Phelan und Althea aus der
Vergangenheit gezogen haben. Werden sie es schaffen, ihre Familie zu beschützen und
gemeinsam die Feinde ein für alle Mal zu besiegen?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Juli 2014
ISBN9783737501125
Trägerin des Lichts - Vererben
Autor

Lydie Man

Autorin seit 2005 In meinem ersten Leben habe ich Betriebswirtschaft studiert und viele Jahre als Analystin und Referentin in einem Hamburger Industrieunternehmen gearbeitet. Dann entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Schreiben. Die Saga um die Königskinder von Morann und ein begonnenes neues Projekt sind die Folge und das Vergnügen daraus. Mögen es viele Leser teilen :)

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    Buchvorschau

    Trägerin des Lichts - Vererben - Lydie Man

    Inhalt

    Viele Jahre sind seit der großen Schlacht von Gilda vergangen.

    Die Völker in und um Morann leben in Frieden und Wohlstand. Das von König Currann regierte Reich ist mächtiger denn je, Phelan ist sein treuer und gerissener Herold, und Althea in Saran fördert den Entdecker- und Eroberungsgeist ihres Volkes nach Kräften. Mit ihnen wächst eine neue Generation Königskinder heran und blickt voller Tatendrang in eine hoffnungsvolle Zukunft.

    Doch der Schein trügt, denn die Schatten der Vergangenheit reichen bis in die Gegenwart. Längst tot oder besiegt geglaubte Feinde erstarken wieder, lauern im Verborgenen und sinnen auf Rache. Lange haben sie darauf gewartet, ihre Pläne endlich in die Tat umsetzen zu können. Nun ist für sie die Zeit der Rache gekommen.

    Plötzlich bekommt die scheinbar so heile Welt tiefe Risse, plötzlich sind das Leben, die Macht und das Ansehen der Königsfamilie bedroht, und es droht eine erneute Spaltung wie einst.

    Es ist eine Prüfung, welche Lehren Currann, Phelan und Althea aus der Vergangenheit gezogen haben. Werden sie es schaffen, ihre Familie wieder zu einen und gemeinsam die Feinde ein für alle Mal zu besiegen?

    --------------------

    Kapitelübersicht

    Kapitel 1: Saran – 7 Jahre nach der großen Schlacht von Gilda

    Kapitel 2: Der Angriff

    Kapitel 3: Hilflos

    Kapitel 4: In der Schwebe

    Kapitel 5: Anderwelt

    Kapitel 6: Rückkehr

    Kapitel 7: Heilung und Neuanfang

    Kapitel 8: Eine neue alte Welt

    Kapitel 9: Die Geister der Vergangenheit

    Kapitel 10: Seelenhälfte

    Kapitel 11: Bröckelnde Mauern

    Kapitel 12: Lockruf

    Kapitel 13: Auf Kriegszug

    Kapitel 14: Triumph der Sieger

    Kapitel 15: Fürstenversammlung

    Kapitel 16: Rache

    Epilog

    --------------------

    Personen der Handlung

    In Saran

    Althea, Heilerin Sarans

    Jeldrik, ihr Mann und Sohn von Clansführer Roar

    Kjell, ihr ältester Sohn

    Bjarne, ihr zweitältester Sohn

    Faye, ihre Tochter

    Rike, Altheas Ziehtochter

    Merte und Ona, Altheas Schülerinnen

    Regnar, Altheas Großvater, der Seeräuber

    Roar, Clansführer von Saran

    Sylja, Roars Frau

    Sedat, Gesetzeshüter von Saran

    Oren, Kamerad Jeldriks und Kommandant Sarans

    Harcon, ein Clansführer

    Gudrid, seine intrigante Tochter

    Eryk, Rikes Vater

    In Temora:

    Aislinn, Altheas Großmutter und Priesterin im Rat Temoras

    Galvin, unabhängiger Priester Temoras

    Gayle, seine Zwillingsschwester, Priesterin und Auserwählte

    Arnor, Priester und Auserwählter

    Maret, Altheas Freundin, eine Heilerin

    Mahin, Siedlungsvorsteher und Marets Bruder

    Verna, seine Frau

    Livie, ihre Tochter

    Bryn, der saranische Schmied

    Rana, seine Frau

    Phelana, ihre Tochter

    Niune, eine Priesterin

    In Branndar:

    Kiral, Fürst von Branndar, ein Cerinn

    Jorid, seine saranische Frau

    Janida (Nida), ihre Tochter

    Jamal (Jami), ihr Sohn

    Karya, die Heilerin und Siris Tante

    Strahan, Schulmeister und Siris Vater

    Yassin und Ramon, Curranns Zöglinge

    In Gilda: Königsfamilie und Hofstaat

    Currann, König von Morann

    Sirial (Siri), seine Frau, die Königin

    Nathan (Nat), ihr Ziehsohn, der Älteste der Königskinder

    Farlan (Fal), ihr Erstgeborener und Thronfolger des Reiches

    Iovan (Iovi), ihr Zweitgeborener

    Amaya (Maya), ihre älteste Tochter

    Leyla, ihre ungeliebte Nichte

    Phelan, Curranns jüngerer Bruder

    Noemi, Phelans taubstumme Frau

    Tabitha (Tibbi), ihre älteste Tochter

    Thorald, gelehrter Ratsherr und Altheas Vater

    Naluri, Königinmutter und Thoralds Frau

    Lusela, ihre Magd

    Nuria, Siris Zofe und Vertraute

    Orban der Jüngere, Nurias jüngster Sohn

    Meda, die ehrwürdige Mutter der Heilerinnen

    Ioanna (Ioni), ihre verheimlichte Tochter, Freundin der Königskinder

    Lara, eine Waise, Novizin und Freundin der Königskinder

    Sinan, engster Vertrauter Curranns

    Daria, seine Frau

    Bayram, Halbbruder von Curranns Ziehvater Bajan

    Tabea, seine Frau

    Brendan (Bren), ihr Zwillingsbruder

    Derkan, Heerführer des Reiches

    Peadar, Heiliger Vater des Reiches

    Weitere Personen in Morann:

    Tamas, Sohn von Tanaar, des Fürsten von Nador

    Nelana (Nel), seine Frau

    Nadim, ein Kundschafter

    Rhiba, seine Frau

    Orban der Ältere, Siedlungsvorsteher, Großvater d. jüngeren Orban

    Leviad, ein Gutsherr

    Belan, Nurias ältester Sohn, Kommandant des Heeres im Osten

    Rike, seine saranische Frau

    Milan, ein Mönch

    Irmela, eine Heilerin

    Solena, eine ehemalige Hure

    Lani, eine ehemalige Hure

    Yemon, Sohn von Yenkal, des Fürsten von Mukanir

    Meno, Schulmeister von Mukanir

    Yola, Vertraute Naluris und seine Frau

    Im Osten:

    Shaun, Fürst des Volkes der Shouh

    Shoona, seine Schwester

    Kaleem, Anführer eines Hirtenvolkes

    Irun, seine älteste Tochter

    Naja, seine jüngere Tochter

    Yanuk, Stammesführer der Cerinn und Kirals Onkel

    Kemal, sein ältester Sohn und Nachfolger

    Tariq, sein jüngerer Sohn

    Duncal, der Schamane der Cerinn

    Ragai, ein Priesterkrieger

    Tote, die Erwähnung finden:

    Lelia, Schwester von Currann und Phelan

    Leanna, Zwillingsschwester von Lelia

    Tavar, ihr Geliebter und Bruder von Tamas

    Bajan, ehemaliger Heerführer Moranns

    Goran, Siris Cousin

    Jamal, Kirals Vater

    Aietan, ehemaliger König Moranns

    Alia, die ehemalige Hurenkönigin

    Nusair, ehemaliger Heiliger Vater Moranns

    Nestan, Sinans Bruder und Parteigänger Nusairs

    --------------------

    Karte von Morann

    --------------------

    Prolog

    Der Wind trieb sie stetig nach Osten. Ein kleines Boot, einer Nussschale gleich und mehr vom finsteren Willen seiner beiden Insassen auf dem Wasser gehalten denn von seiner Festigkeit. Der Gedanke an Rache ließ es vorwärtsgleiten, hin zu jenem Ort, den sie einst als ihre Heimat kannten.

    Niemand würde in den beiden Gestalten die Jungen von einst erkennen. Grausam entstellt, verhärmt vom harten Leben in der Wildnis, waren sie kaum noch als menschlich zu bezeichnen. Ihr Innerstes war es schon lange nicht mehr.

    Unerkannt landete das Schiff an heimatlichen Gestaden. Unerkannt verschwanden die beiden in einer anderen Wildnis, nicht weniger hart und grausam als die, aus der sie kamen. Dort lauerten sie. Beobachteten. Warteten. Sie hatten alle Zeit der Welt.

    Da war sie. Wieder ritt sie durch die Sümpfe wie schon so oft. Dieses Mal hatte sie das Ungeheuer dabei. Die beiden Schatten duckten sich tiefer zwischen das mannshohe Schilf. Das Ungeheuer hatte übernatürliche Kräfte, genauso wie sie...

    Sie..

    Zuerst gehalten für einen Sklavenbastard, dann entdeckt mit zwei Welpen, die ihm so ähnlich waren, ihrem Feind...

    Wüste Gedanken jagten durch die zwei Wahnsinnigen. Eines Tages würden sie sie bekommen, allein oder mit den Kleinen. Und mit ihren Mädchen. Bei dem Gedanken fletschte der eine der beiden lüstern die Zähne. Allein diese Vorstellung hielt sie am Leben, hier in den feuchten, von Krankheit und Fäulnis verseuchten Sümpfen.

    Sie waren nicht allein. Weit im Süden gab es jene, die sich mit der fremden Herrschaft nicht abfinden konnten, die nur auf die Gelegenheit warteten, eine solche Geisel in die Hand zu bekommen. Unermessliche Reichtümer würden die beiden erwarten, so stellten sie es sich in ihrem Wahn vor. Ein großes Haus, warm, genug zu essen und jede Menge Sklavinnen, die ihnen zu Diensten sein mussten. Jederzeit.

    Aber nicht jetzt. Nicht mit dem Ungeheuer an ihrer Seite. Sie hatten Zeit, sie konnten warten.

    --------------------

    Kapitel 1

    Saran – 7 Jahre nach der großen Schlacht von Gilda

    <=

    »Diesmal hat ein Sedatschüler sie gesehen. Es sind wirklich zwei, und einer von ihnen ist verkrüppelt.«

    »Ich wusste es! Der ganze Unsinn von den Wiedergängern war reines Seemannsgarn! Sie sind es, ganz sicher!«

    Althea wechselte einen raschen Blick mit ihrer Ziehtochter Rike, bedeutete ihr mit einem Nicken, den schweren Rührlöffel zu übernehmen, und trat aus ihrer Küche in den Wohnraum, sich Hände und die verschwitzte Stirn in ihrer Schürze abwischend. Es war ein brütend heißer Sommerabend und Kochen trotz ihrer komfortablen, luftigen Küche kein Vergnügen.

    Die Männer sahen bei ihrem Eintreten auf. »Es ist also wirklich wahr?«, fragte sie und setzte sich zu ihrem Mann Jeldrik. Ihr Freund Oren, Kommandant der Kämpfer Sarans, war zu Besuch und mit ihm zwei Hauptleute der Festung Sarans. Draußen hörten sie die Jungen kreischen. Sie hatten mit ihren Freunden die Pferdetränke erobert, doch die Fröhlichkeit der Kinder vermochten die Männer nicht zu teilen.

    Dankbar nahm Althea einen Becher Wasser von Jeldrik entgegen. Er nickte knapp. »Scheint so, als hätten die beiden Bastarde einen Weg von der Insel herunter gefunden. Du wirst nicht mehr allein in die Sümpfe reiten, verstanden?«

    Bei seinem besitzergreifenden Ton funkelte sie ihn warnend an. Sicherlich war es nur die Sorge, die ihn derart knurrig werden ließ, aber vor Dritten brauchte sie sich das nicht gefallen zu lassen. »Ich bin noch nie allein in die Sümpfe geritten, und ich weiß mich sehr wohl zu wehren!«, zischte sie und stellte ihren Becher lauter als nötig auf der Schlafbank ab.

    »Du weißt genau, was ich meine! Deine Mädchen sind kein Schutz und Regnar... der wird langsam alt.«

    »Und wehren kannst du dich derzeit auch nicht«, fügte Oren grinsend hinzu, was ihm einen bösen Blick von sowohl Althea als auch Jeldrik einbrachte. Die Streitereien der beiden waren in ganz Saran legendär. Wie sagte jemand so schön: ›Die Luft ist voller höllisch scharfer, fliegender Messer, und man meint, gleich fließt Blut. Dabei necken sie sich nur.‹

    Sie mussten denn auch lachen. »Ich weiß«, grinste Althea und streckte ihr schmerzendes Kreuz. Nur noch wenige Wochen bis zur Geburt ihrer Tochter. Diese Schwangerschaft kam ihr länger vor als die beiden vorhergehenden. Ihre Tochter war ein richtiges Temperamentbündel und hielt sie Tag und Nacht in Atem.

    Ein lauter Schrei und gleich darauf das durchdringende ansteigende Geheul eines kleinen Kindes erinnerte sie daran, dass ihr übriger Nachwuchs auch nicht gerade harmlos zu nennen war. »Herrje!« Althea hievte sich hoch und eilte nach draußen. Die Art des Geheuls sagte ihr, dass es schmerzhaft war.

    »Was ist hier los?«, rief sie in den Garten und stemmte die Arme in die Hüften. Ein Haufen Kinder sprengte auseinander und gab den Blick auf ihren Jüngsten frei. Die ‚Ich-war’s-nicht-Mienen’ der anderen sagten ihr genug. »Bjarne! Was ist passiert? Was habt ihr nun schon wieder angestellt?« Sie eilte zu ihm.

    Bjarne rappelte sich gerade wieder auf. Blut schoss aus seiner Nase. »Kjell hat mich gesuuhuuubst!«, heulte er.

    »Stimmt doch gar nicht!«, protestierte sein älterer Bruder, und die anderen Kinder nickten eilfertig. »Bani ist auf den Rand geklettert und ausgerutscht. Ich hab’ ihm gesagt, dass er das nicht...«

    Althea brachte ihm mit einem Blick zum Schweigen. »Ihr geht jetzt besser nach Hause, es ist eh gleich Zeit zum Essen«, sagte sie und half ihrem Jüngsten auf. »Zieh dir trockene Sachen an, Kjell, und dann hilfst du Rike, verstanden?« Mit hängenden Schultern trollten sich die anderen, und Althea konnte sich in Ruhe Bjarne widmen. »Warum machst du auch immer wieder solche Sachen? Kopf runter!«, befahl sie und legte ihm ein kühles Tuch auf den Nacken. Innerlich seufzte sie. Ihren Jüngsten konnte sie kaum aus den Augen lassen. Seit er laufen konnte, kletterte er auf alles rauf, riss alles herunter, machte Dinge kaputt, einfach so. Ein Übermaß an Kraft hatte er und wollte mit aller Macht beweisen, dass auch er besondere Dinge konnte wie sein wortgewandter, blitzgescheiter älterer Bruder.

    »Siehst du, es hat schon aufgehört zu bluten«, tröstete Althea und drückte ihn an sich, auch wenn sie damit höchst wahrscheinlich ihr Hemd voller blutiger Flecken machte. Er schlang seine kleinen Arme um sie und kuschelte sich an sie. Noch suchte er die Nähe seiner Mutter, aber damit wäre es wohl schnell vorbei, das ahnte sie. Während der sechsjährige Kjell das Ebenbild seines Vaters war, glich der vierjährige Bjarne, den alle bis auf seine Eltern nur Bani nannten, mit Altheas langen Zügen und Augen und Jeldriks blonden Haaren eher seinem Urgroßvater Regnar, dem alten Seeräuber. Sein Temperament hatte er auf jeden Fall geerbt, dachte sie, drückte ihm noch einen dicken Kuss auf die Stirn und schickte ihn mit einem Klaps nach drinnen. Sie selbst aber setzte sich auf die Bank neben der Stalltür und gönnte sich einen ungestörten Augenblick in ihrem schönen üppigen Garten.

    Heerführer Bajans ehemalige Hütte war mittlerweile ein richtiger Hof geworden. Auf einem angrenzenden Stück Land hatten Althea und Rike einen Gemüsegarten angelegt, etwas weiter fort hielten sie Kühe, Ziegen und Schafe. Es gab neben dem Küchenanbau einen für ihre Sklaven – das Wort mied Althea und nannte sie lieber Diener -, Lagerräume und einen Anbau, wo sie ihre Patienten empfing. Ein eher bescheidenes Haus sei es immer noch, hörte sie die Saraner hinter vorgehaltener Hand flüstern, gemessen an dem sagenhaften Reichtum, den sie Jeldrik und ihr zuschrieben. Nun, sagenhaft war er nicht, aber sie konnten gut davon leben. Das meiste von Jeldriks Vermögen steckte in Schiffen und Lagerhäusern, in seinem stetig größer werdenden Handelshaus, wie es ein Gildaer bezeichnet hätte. Allein von ihrer Heilerinnentätigkeit und den Pachteinnahmen des florierenden Hurenviertels konnte sie ihre Familie gut ernähren, und Jeldrik war nicht zu stolz, sich auf seine Frau zu stützen. Es verschaffte ihm Spielraum für riskantere Unternehmungen, so wie die Expedition, die der alte Seeräuber Regnar und Schiffsführer Ohin, Orens Vater, gerade in den hohen Norden unternahmen, wo sie nachforschen wollten, ob dort Völker SEINEM Ansturm entkommen waren. Mehrere von Jeldriks Schiffen begleiteten sie, und sollte auch nur eines verloren gehen, wäre ein Vermögen fort. Umgekehrt aber auch gewonnen, wenn sie mit kostbaren Pelzen und Fellen oder auch nur mit neuen Erkenntnissen für ihre stetig größer werdende Karte der Welt jenseits des Meeres heimkehrten. Sie erwarteten sie frühestens im Herbst zurück, vielleicht würden sie aber auch gleich weiter nach Westen segeln und erst im nächsten Frühjahr zurückkehren.

    Auch wenn Jeldrik die Erbfolge der Clansführerschaft abgelehnt hatte, so war doch allen klar, dass er eines fernen Tages zum Clansoberhaupt gewählt werden würde. Er war es, der die Grenzen sicherte, der den Nachwuchs der saranischen Wächter mit Oren ausbildete und sie einsetzte. Keiner konnte dies so geschickt wie er, und dies war auch nötig. Es liefen Gerüchte, dass sich in Ethenien eine Gruppe Rebellen mit den Goi verbündet hatte. Die unruhigen Grenzen bereiteten Jeldrik zunehmend Sorge. Gerade deswegen wollte er dieses Jahr nach Gilda reisen. Er erwog mit seinem alten Freund und Kampfgefährten Phelan, der auch Altheas Halbbruder war, und seinem Schwager Kiral, der seine Schwester Jorid geheiratet hatte und ein Fürstentum auf der anderen Seite der Berge innehatte, einen Feldzug ins Goi-Land und wollte diesen Plan auf seiner Reise den Gildaern näher bringen.

    Aus ihrem Plan, sich alle fünf Jahre zur Fürstenversammlung zu treffen, war aus verschiedenen Gründen nichts geworden. Currann, mittlerweile geachteter und verehrter König von Morann, hatte sie in der ersten, sehr turbulenten Zeit nach dem Fall Gildas jährlich stattfinden lassen, und sie selbst hatten in den ersten Jahren auch keine Zeit für die weite Reise gefunden. Aber nun war es endlich soweit, wenn nicht...

    Bei dem Gedanken daran runzelte Althea die Stirn. Bisher weigerte sich Jeldrik, sie mitzunehmen, denn ihr Kind würde irgendwann um den Beginn der Reise zur Welt kommen. Althea jedoch war fest entschlossen, nach Gilda zu gehen. Ihr Licht würde ihr helfen, die Strapazen von Geburt und Reise zu überstehen, wie es das auch schon die letzten Male getan hatte. Sie sehnte sich nach ihren Freunden und Verwandten. Die Leute in Saran waren kein Ersatz – immer noch nicht - und die zwar regelmäßig, aber in großen Abständen geschickten Briefe erst recht nicht. Sie wollte mit eigenen Augen sehen, wie Currann den Ausbau Gildas vorantrieb, den Palast, die neue Mauer. Unbekannte Nichten und Neffen warteten auf ihre Tante. Currann und Siri hatten noch zwei Töchter bekommen, Phelan und Noemi ebenso und Kiral und Jorid nach einer Tochter endlich den lang ersehnten Erben. Es zog sie mit Macht dorthin.

    Ihre Freunde in Temora sah sie dagegen zwei- oder dreimal im Jahr, und auch Maret war mit ihrem Bruder bereits bei ihnen zu Besuch gewesen. Durch sie war Althea über die Ereignisse in der Gemeinschaft bestens im Bilde. Die Zwillinge Galvin und Gayle hielten an ihren Treffen mit Maret in der kleinen Höhle unterhalb Temoras fest, wie schwierig es auch für Gayle als Auserwählte war, den festen Mauern ihrer abgeschiedenen Wohnstatt zu entkommen. Seit einem Jahr gehörte sie nun zu ihnen, ihre rebellische Haltung beim Fall Temoras hatte ihrem Aufstieg nicht wirklich etwas anhaben können, dafür war sie einfach zu gescheit. Und ihr Bruder... Althea grinste. Wohl kaum ein Ereignis hatte die Gemeinschaft mehr erschüttert als Meister Anwylls Testament. Er hatte Galvin sein Gemach und all seine Besitztümer vermacht, was diesen endgültig aus den Reihen der Priester katapultierte. Durch sein überraschendes Erbe war er unabhängig geworden. Althea mochte es immer noch nicht glauben: Der ewige Rebell Galvin studierte mit einer Verbissenheit, die nicht nur Jeldrik manches Mal mit Neid erfüllte, denn er hielt sie regelmäßig über seine neuesten Erkenntnisse in temorischer und saranischer Geschichte auf dem Laufenden. Durch seinen Eifer war auch Archivar Bendiks auf ihn aufmerksam und so etwas wie sein Mentor geworden, und man munkelte, dass Galvin eines Tages seine Nachfolge antreten würde. Altheas Grinsen wurde breiter. Ein Stubenhocker wie ihr Vater würde er trotzdem nicht werden. Er nutzte jede Gelegenheit, aus Temora fortzukommen. Botengänge, Reisen der Ratsmitglieder, Galvin war fast überall dabei, als Helfer und Beschützer zugleich, konnte er doch als so ziemlich einziger Priester mit Waffen umgehen. Nur mit den Auserwählten hatte er noch nicht reisen dürfen, aber Althea hoffte, dass er es eines Tages schaffen würde.

    »Thea!« Althea kehrte aus ihren tiefen Gedanken zurück. Rike stand in der Stalltür. »Ona und Merte sind zurück. Wir können essen.«

    Althea lächelte ihr zu und erhob sich. Rike war eine kleine Schönheit geworden, und an Bewerbern um ihre Hand mangelte es nicht. Sie schlug sie regelmäßig aus, sehr zum Leidwesen ihres Vaters Eryk. Sie wartete darauf, dass ein gewisser Jemand endlich die Offiziersausbildung in der Heerschule in Gilda beenden und einen Posten bekommen würde, der es ihm ermöglichte, eine Familie zu gründen: ihr Freund aus Kindheitstagen, Belan, der sie mit wahren Bergen von Briefen bedachte, so wie sie ihn. Althea hoffte für sie beide, dass es nicht in einer großen Enttäuschung enden würde. Sehr viel Zeit war vergangen und Menschen änderten sich, das wusste sie selbst nur allzu gut. Es konnte aber auch gut gehen, wie man an Phelan und Noemi sah. Rike jedenfalls fieberte der Reise nach Gilda entgegen. Sie wollte unbedingt mitreiten.

    Die Lage an den Grenzen war auch beim Nachtmahl bestimmendes Thema. Anders als in Gilda hielten sich die Männer hier nicht zurück, in Gegenwart der Frauen und Kinder offen zu sprechen.

    »Ich würde lieber jetzt als in ein paar Wochen nach Gilda reisen«, sagte Jeldrik. Althea sah bei diesen Worten auf. »Vergiss es!«, knurrte er sofort. »Ich werde dich nicht mitnehmen in deinem Zustand.«

    »Auf jeden Fall solltet ihr mir für die Bergwache zusätzliche Männer mitgeben«, sagte Oren rasch und unterband damit Altheas Protest.

    So wog es während der Mahlzeit hin und her. Selbst die Jungen waren ungewöhnlich still, sie spürten wohl den Ernst der Lage und ließen sich im Anschluss ohne Widerstand ins Bett bringen. Auch ihre Gäste empfahlen sich bald in die nächste Schenke und Jeldrik mit ihnen. Althea war es nur recht. Sie hoffte auf ein paar ungestörte Augenblicke mit ihren Mädchen.

    Schließlich saßen sie in der Küche und stockten ihre Vorräte für den nächsten Tag auf. »Pack noch ein wenig mehr von der Salbe ein, Harcons Mutter wird sie brauchen«, sagte Althea.

    »Ach je, Harcon!«, entfuhr es Rike verächtlich. »Glaubst du, er wird dir wieder seine Tochter Sigurd aufdrängen, diese hochnäsige Ziege? Ich mag sie nicht.«

    »Und ich will sie nicht«, nickte Althea. Das Mädchen war so wenig zur Heilerin geeignet wie ein Felsbrocken, und das hatte sie Clansführer Harcon bereits das letzte Mal deutlich zu verstehen gegeben. Aber ob es was genutzt hatte? Jetzt hielt er ihr bestimmt wieder vor, dass sie das Mädchen wegen ihrer Clansfeindschaft abgelehnt hatte. Wie sie das hasste! Dabei war Sigurd vom ersten Augenblick an ungeeignet gewesen. Sie war ein verwöhntes, hochnäsiges Ding und hatte Altheas Helferinnen Ona und Merte der Tür verwiesen, Clanlose und Sklavin. Damit war für Althea der Fall eindeutig gewesen.

    »Ach Thea, lass dich doch nicht von dem Alten ärgern!«, sagte Merte.

    »Recht hast du!« Althea lächelte ihr zu. »Ein kleines Vögelchen flüsterte mir, dass die Auserwählten an der Grenze gesichtet wurden. Mit ihren langsamen Wagen werden sie vermutlich übermorgen hier sein.«

    »Ach?« Rike begann zu grinsen, als Merte zutiefst errötete. Merte hatte mit ihren gerade einmal sechzehn Jahren Gefallen an einem von Orens Wächtern gefunden und er an ihr. Sein Vater war zwar über die Clanlosigkeit des Mädchens nicht begeistert, aber ihr Heilerwissen machte das in Altheas Augen allemal wett. Aber auch in denen seines Vaters? Althea war sich da nicht so sicher. Er hatte die Einweisung als Bedingung für ihren Bund gestellt, eine schwierige Hürde, denn normalerweise wurden Clanlose nicht vorgestellt. Nun war es soweit.

    »Du hast gut reden!«, schnappte Merte.

    Für Rike stand außer Frage, dass sie sich als künftige Frau eines Gildaers diesem Ritus entzog. Althea hegte den leisen Verdacht, dass da immer noch ihre Erziehung in Branndar nachwirkte. Darüber sprechen tat Rike nicht, aber ihre Weigerung sagte Althea auch so genug. Eryk konnte einem leidtun, er würde sein einziges Kind erneut an den Osten verlieren.

    Erbost über Rikes spöttisches Grinsen warf Merte ein Büschel getrocknetes Kraut zurück auf den Tisch. »Ich finde es unnötig, dass man sich derart öffnen lässt. Da hätte ich auch gleich bei den Huren bleiben können!«, rief sie, sprang auf und rannte hinaus. Ihre Nerven gingen mit ihr durch, wer konnte ihr das verdenken? Sie musste vor aller Augen kämpfen, und der Spott war ihr sicher, egal, wie gut sie war. ›Seht, das ist die Clanlose, die Hure... will sich in einen Clan vögeln...‹ So hatte Althea es vor nicht allzu langer Zeit gehört. Was half es da, dass Jeldrik mit den beiden Mädchen regelmäßig Schwertkampf übte? Merte und Rike waren gut, sogar sehr gut gemessen an den anderen. Die Saraner würden ein Schauspiel geboten bekommen, so viel war sicher.

    Das sagte Althea Merte auch später, als sie das Mädchen im Stall tröstete. Sie hatte einfach Angst, zu viel hatte sie in ihrer Kindheit miterleben müssen, als dass sie dem Ritual gelassen entgegensehen konnte.

    »Oh, wenn es doch nur einen anderen Weg gäbe, ihn zu bekommen!«, schluchzte Merte.

    »Schscht, wer weiß, vielleicht bekommst du ja jemanden, der gut zu dir ist. So wie meine Freundin Maret. Es hat ihr sehr gefallen. Sie hat den Trank abgelehnt.«

    »Pah!«, schniefte Merte. »Ich sollte einen doppelten Becher trinken, dann merke ich nichts mehr.«

    »Sie will sich einfach nicht beruhigen«, sagte Althea spät in der Nacht zu Jeldrik.

    »Nein, und du bist die Letzte, die ihr weise Ratschläge erteilen sollte, hast du doch diesen Ritus immer abgelehnt«, erwiderte Jeldrik gedehnt und rückte ein Stück dichter an sie heran. Seine Hand, es war die versehrte, fand gleich den Weg unter die Decke auf ihren gewölbten Leib, ertastete Formen und Bewegungen seines ungeborenen Kindes. Es war, als musste er sich stets versichern, dass es noch da war, er wollte jede Einzelheit erleben, die er bei Kjell verpasst hatte.

    Bei Bjarnes Geburt war er nicht einen Moment von ihrer Seite gewichen, trotz aller Proteste der Frauen. Die Männer Sarans taten so etwas nicht, es gehörte sich nicht... so hatten sie protestiert, bis Jeldrik drohte, sie allesamt hinauszuwerfen, sollten sie ihn nicht gewähren lassen. Er hatte es auch leicht. Die Erkenntnis, dass Althea dabei keine Schmerzen litt, hatte ihn die Geburt wie ein Wunder erleben lassen. Er hatte Bjarne mit eigenen Händen auf die Welt geholfen und wollte es auch bei seinem Mädchen tun.

    Althea seufzte leise. »Aber was soll ich stattdessen tun? Vielleicht sollte ich Gayle um Rat fragen... ja, das werde ich tun. Sie weiß bestimmt einen Weg.«

    »Was auch immer du tust, es wird gut sein«, sagte Jeldrik und schloss die Augen. Das war es wirklich. Was auch immer sie tat, er stand hinter ihr. Schließlich hatte sie im Volke Sarans eine ganze eigene Stellung, die beinahe der des Sedats glich. Und, von allen offen bespottet und mit heimlichen, sehnsüchtigen Seufzern bedacht, sie war die Liebe seines Lebens. Ohne sie war er nur ein halber Mensch.

    Althea hatte gut geschätzt. Am Morgen des übernächsten Tages wurden die Wagen der Priester angekündigt. Zur Mittagsstunde versammelten sich die Bewohner Sarans auf der Festwiese. Sylja hatte dort bereits alles vorbereiten lassen, nicht so viel wie zu den großen Festen im Frühjahr und im Herbst, aber genug, dass es der Begrüßung der Priester einen würdigen Rahmen verlieh.

    Bei solchen Anlässen hätte sich Althea am liebsten abseits gehalten, nur machten ihre Jungen diese Absicht jedes Mal zunichte. Kjell liebte und verehrte seinen Großvater Roar über alles, so wie Bjarne mit unabdingbarer Freude an seiner Großmutter Sylja hing. Was blieb Althea anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Sie wechselte mit Roar kaum ein Wort, und wenn Jeldrik und sein Vater miteinander sprachen, klang das wie das Geknurre zweier bissiger Hunde. Der Riss in der Familie war tief. Nur zu Sylja pflegte Althea eine herzliche, unkomplizierte Freundschaft, der dies alles nichts anhaben konnte.

    Auch diesmal stürmten ihre lebhaften Jungen quer über die Festwiese und scherten sich keinen Deut um den respektvollen Abstand, den alle anderen zu den Priestern wahrten.

    »Großvater!«

    »Großmutter!«

    Sie stürmten einfach mitten durch die Priester hindurch zu den Clansführern. Althea und Jeldrik lachten leise, als sie die Priester herumfahren sahen. »Also wirklich!«, empörten sich diese. Alle anwesenden Saraner brachen in Gelächter aus, und selbst Roar fiel es schwer, eine würdevolle Miene zu bewahren. Die beiden Jungen kümmerte die Empörung der Priester nicht. Sie hatten von ihren Eltern allen Mangel an Respekt geerbt.

    Während die Begrüßungszeremonie ihren Lauf nahm, Grüße ausgetauscht und Tribut gezahlt wurde, beobachtete Althea die Auserwählten, die in einer Gruppe etwas abseits standen. Sie vermochte Gayle nicht zu erkennen.

    Deshalb empfahl sich Althea bald. Es war heiß und schwül, und sie sehnte sich nach der Kühle ihres Heims. Rike und Merte brachten sie zurück, auch sie wollten nicht in der Nähe der Priester bleiben. Gemeinsam verbrachten sie einen stillen Nachmittag, und ein heftiges Gewitter am Abend machte dem Fest ein vorzeitiges Ende. Bis die aufgeregten Jungen endlich schliefen, war es dunkel geworden.

    »Puh!« Althea drückte ihr schmerzendes Kreuz durch. »Geht ins Bett, Mädchen, ich bleibe noch ein wenig auf.« Sie wartete, zunehmend ungeduldiger, und wie die Mädchen wollte sie selbst gerade schlafen gehen, als es an der Tür klopfte. »Endlich!« Althea riss die Tür auf und zuckte im selben Moment zurück, als sie statt der erwarteten einen Gestalt zwei erblickte.

    »Thea!« Gayle fiel ihr um den Hals.

    »Aber...« Althea erwiderte ihre Umarmung verwirrt und sah gleichzeitig hinter sie. Langsam kam die zweite Gestalt ins Licht, mit einem breiten Grinsen im bärtigen Gesicht. »Galvin! Aber... was tust du denn hier?!«, rief Althea entgeistert.

    Die Zwillinge brachen in Gelächter aus. »Ein Wagenführer ist krank geworden, da bin ich eingesprungen.« Er umarmte Althea untypisch sanft.

    Sie erwiderte es voller Freude und konnte es ohne Vorbehalte tun. Seit sie Ehefrau und Mutter und er Priester war, hatten sie zu einer sehr unkomplizierten Freundschaft gefunden, die frei von jeglichen Anwandlungen seinerseits war und ihr peinliche Momente ersparte. »Oh, kommt rein, schnell, bevor euch jemand sieht.« Sie zog ihre Freunde ins Innere des Hauses. Am anderen Ende des Raumes äugten die Mädchen neugierig und ein wenig ängstlich aus einer Tür. Althea winkte sie heran und stellte sie vor.

    Gayle schlug lächelnd ihren Schleier zurück. »Ich habe schon viel von euch gehört. Thea schrieb uns, dass ihr morgen vorgestellt werden sollt.« Im Handumdrehen schafften es die Zwillinge, den Mädchen ihre Scheu zu nehmen, und schließlich gaben sich Rike und Merte einen Ruck und sprachen offen ihre Befürchtungen für den morgigen Tag an.

    »Du bist mutig«, sagte Galvin anerkennend zu Rike, die prompt ängstlich zusammenzuckte. »Nein, wirklich. Ich glaube nicht, dass dich jemand wegen dieser Weigerung angehen wird, solange du ehrlich bist.« Er schenkte ihr ein breites, warmherziges Lächeln, und dies verfehlte seine Wirkung auf Rike nicht. Sie errötete zutiefst.

    So langsam begann Althea zu ahnen, wie seine Wirkung insbesondere auf die jungen Novizinnen war. »Galvin, hör auf! Du bringst Rike völlig in Verlegenheit!«, schimpfte sie.

    Er lachte und sog an seiner Pfeife. »Aber immer gerne doch!«

    Nur Merte mochte sich der Heiterkeit auf seine Worte nicht anschließen. »Ich verstehe nicht, wie du es erträgst, dich von wildfremden Männern anfassen zu lassen«, gestand sie Gayle leise.

    »Ich glaube, ich sehe mal nach den Jungen«, sagte Althea, stand auf und streckte Galvin auffordernd die Hand hin. Er verstand, und auch Rike folgte ihnen hinaus, sodass die beiden allein waren.

    »Nun, das ist auch nicht leicht...«, hörten sie Gayle noch sagen, bevor die Tür zu ging.

    Althea führte ihren Gast in die Küche. Sie setzten sich an den großen Tisch. »Sie sieht müde aus«, sagte sie zu Galvin.

    Sein Gesicht verfinsterte sich. »Sie wird nicht geschont. Alle anderen haben auch einmal einen Tag ohne Verpflichtungen, sie jedoch als Jüngste... es ist ein Dienst bis zur Selbstaufgabe, was es auch sein soll.«

    »Bin ich daran schuld?« Althea musste diese Frage einfach stellen. »Wird sie wegen unseres Handelns bei SEINEM Überfall gestraft? Immer noch?«

    Er nickte und nahm dankend etwas zu trinken von ihr entgegen. »Sicherlich. Sie ahnen, dass wir uns außerhalb der Gemeinschaft bewegen, und versuchen, sie mit Strenge klein zu bekommen. Schade, dass dein Licht im Moment fort ist. Sie könnte es wahrlich gebrauchen.« Für einen Augenblick ruhte sein Blick auf ihrem üppig gerundeten Leib.

    Er kam Althea seltsam an, dieser Blick. Irgendwie wurde sie unruhig darunter. Rasch sagte sie: »Wenn wir nach Gilda reisen, ist es vielleicht wieder da. Ist es wirklich so schlimm?«

    »Oh ja. Nach manchen Ritualen schafft sie es nicht einmal die Treppen hinunter in mein Gemach. Stell dir vor, ich musste ziemlich schnell sehr viel über die Gegengifte der heiligen Tränke lernen.«

    »Was dir auch gelungen ist, da bin ich sicher«, lächelte Althea, doch sie wurde gleich wieder ernst. »Hasst du sie dafür?«

    Rike riss die Augen auf ob ihrer Worte, doch Galvin schnaubte verächtlich. »Hass ist verschwendet an sie. Nichts hat sich seit dem Fall Temoras geändert, du weißt es! Sicherlich, Begabte kommen jetzt Kraft ihres eigenen Willens durch den Ring und können den Kelch halten, aber die Abgrenzung, die Prüfungen, sie sind immer noch dieselben. Nichts haben sie gelernt, gar nichts! Wie viele Kinder werden sich der Prüfung stellen? Drei?«

    »Vier«, erwiderte Althea. »Ich weiß, eigentlich wären es weit über dreißig. Sie wollen ihre Kinder nicht aus der Heimat fortgeben, wer kann es ihnen verdenken.«

    »Dafür kannst du dich vor Bewerberinnen kaum retten, wie man hört«, neckte Galvin sie und zwinkerte Rike zu.

    »Hör auf, mit meinen Mädchen zu schäkern! Fast sollte man meinen, du willst einen Teil der Einweisung selbst übernehmen. In Temora bist du ja sehr fleißig, wie man hört. Wie viele Kinder werden dir zugerechnet, na?« Althea und Rike lachten los, als Galvin sich verschluckte und doch ein wenig rote Ohren bekam. Allerdings nicht aus dem Grund, den Althea dachte.

    »Du wirst es nicht glauben!«, keuchte er und hustete noch einmal. Er grinste Rike zu.

    Sie senkte so hastig den Blick, dass Althea ihm unter dem Tisch einen warnenden Tritt verpasste. »Was meinst du damit? Sag schon!«

    Er bekam vor Lachen kaum noch Luft. »Es gibt tatsächlich einige, die ich eingewiesen habe. Sie haben sich mir förmlich an den Hals geworfen.«

    »Ach!«, entfuhr es Althea. »Wollten sie nicht zu den Priestern?«

    »Hmm...«

    »Och du! Und du hast dir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, was?« Althea verschränkte empört die Arme.

    »Hmm...«

    »Vielleicht wäre das die Lösung für Merte«, wagte sich Rike hervor.

    Sie kicherten in sich hinein, aber Althea wurde mit einem Mal ernst. »Nein, auf keinen Fall. Für sie gibt es nur einen, und das ist ihr Liebster. Gerade du solltest das verstehen, Rike.«

    »Entschuldigung«, murmelte sie betreten.

    »Macht doch nichts, Mädchen«, sagte Galvin. »Du willst also wirklich nicht?«

    »Nein.« Rikes Blick floh zur Tischplatte.

    »Warum nicht?« Altheas warnendes Funkeln ignorierte er.

    »Es... es wäre meinem Zukünftigen nicht recht.«

    »Hat er dir das geschrieben, ja? Dein angehender gildaischer Offizier?« Ohne dass er es bewusst gewollt hätte, war seine Stimme eine Spur schärfer geworden.

    »Nein... nein... ich... ich glaube nur, dass es so ist.«

    »Galvin, lass sie!«, mahnte Althea.

    »Warum? Sie muss sich damit auseinandersetzen, so wie du einst auch. Du hast ihn also gar nicht gefragt, sondern hast nur Angst, dass es so ist? Hast du Angst, ihn zu verlieren, wenn er es erfährt oder in eurer Hochzeitsnacht merkt, dass du nicht mehr unberührt bist?«

    »Ich... ich...«

    Am liebsten wäre Rike geflüchtet, Althea sah es wohl. Sie staunte nur. Woher hatte Galvin plötzlich dieses Gespür? So viel hatte sie aus Rike noch nicht herausgebracht. Lag es an seiner Autorität als Priester, während sie für Rike mehr eine Mischung aus Ziehmutter und älterer Schwester war? So etwas musste es sein, und Althea versperrte sich einem kleinen Anflug der Eifersucht. Er hatte ja recht, dachte sie und beschloss einzugreifen. »Wenn Belan dich wirklich als die Frau liebt, die du bist, wird er die Bräuche deines Volkes akzeptieren. Nicht gutheißen, aber akzeptieren.«

    »Kopf hoch, Mädchen, du hast noch ein wenig Zeit, darüber nachzudenken. Wenn du dich dagegen entscheidest, helfe ich dir aus den Zelten heraus, versprochen.«

    Rike riss die Augen auf. »Das wirst du tun? Und was ist mit Merte?«

    »Ooch...« Galvin grinste und zwinkerte ihr zu. »Ich glaube, da habe ich schon eine Idee...«

    Sie redeten die ganze Nacht. Es waren Monate nachzuholen, Monate, welche die Briefe nicht ersetzen konnten. Irgendwann gesellte sich auch Jeldrik zu ihnen, und sie sprachen in trauter Runde über alle Ereignisse. Und so ganz nebenbei entwickelten sie einen Plan, wie sie Merte und ihrem Liebsten helfen konnten.

    Als sich zwei verschlafende Jungen auf die Suche nach ihnen machten, saßen sie gerade beim Frühmahl. »Ah, kommt mal her, Söhne«, befahl Jeldrik. »Begrüßt unsere Freunde Gayle und Galvin. Sie sind aus Temora. Das sind Kjell und Bjarne«, sagte er zu den Zwillingen.

    Die beiden Jungen waren sofort hellwach. Kjell blieb misstrauisch in der Tür stehen, Bjarne jedoch trat neugierig näher und stopfte sich den Daumen in den Mund, wie immer, wenn er sich nicht ganz sicher war. Er drückte sich an Althea, und sie hob ihn auf ihren Schoß.

    »Ja, du bist wirklich Regnars Ahne«, meinte Galvin beeindruckt.

    Da nahm der Junge seinen Daumen aus dem Mund und grinste ihn an. »Jahh, Uropa!« Er streckte die Hand aus und befühlte neugierig die blauen Male auf Galvins Stirn. »Geht nicht ab«, stellte er fest.

    »Nein, das sind Tätowierungen. Die bleiben für immer.« Jetzt wagte sich auch Kjell heran und setzte sich auf seinen Platz.

    »Und du siehst aus wie dein Vater«, lächelte Gayle.

    »Tut das weh?«, fragte Bjarne.

    »Nein«, sagte Galvin und wuselte ihm durch das vom Schlaf verwirrte Haar. »Sie füllen dich vorher ab, ganz bestimmt. Habt ihr Hunger, ihr zwei? Wir haben euch etwas übrig gelassen.« Und schon saß Bjarne auf Galvins Schoß und ließ sich von ihm mit Scherzen und Geschichten das Frühmahl verabreichen.

    ›Er kann gut mit Kindern umgehen‹, dachte Althea erstaunt. ›Und mit Mädchen.‹ Wo war nur der launenhafte, mürrische Galvin von früher geblieben? Das war ihr noch nie aufgefallen, wie denn auch? Sonst trafen sie sich nur in ihrer Höhle, wenn sie in Temora war. Innerlich schüttelte sie verwundert den Kopf und sah Gayle wissend lächeln.

    Ihre fröhliche Runde wurde je von einem harten Klopfen an der Vordertür unterbrochen. Rike kam gleich darauf herein, das Gesicht bleich und angespannt. »Da ist ein Priester, der verlangt nach euch...«

    »Oh!« Gayle sprang auf, und Galvin hob etwas langsamer den Jungen von seinem Schoß.

    Althea tauschte einen ernsten Blick mit Jeldrik. »Ich gehe besser mit ihnen.«

    In ihrem Wohnraum wartete ein Auserwählter mit verschränkten Armen. Selbst unter dem Schleier konnten sie seine empörte Miene erahnen. »Ich frage gar nicht erst, was ihr hier macht. Wir sind nicht hier, um unsere Verwandten zu besuchen. Ihr kommt besser mit, bevor man eure Abwesenheit bemerkt.«

    »Unsere Verwandten wären von unserem Besuch kaum begeistert«, erwiderte Galvin. Ganz ruhig, ganz gefasst.

    Der Priester ignorierte seinen Einwand, winkte die beiden mit sich und wollte hinaus, doch das ließ Althea nicht zu. Sie war unbemerkt eingetreten. »Wollt ihr uns nicht miteinander bekannt machen?«, fragte sie in ihrem klarsten Temorisch.

    Bei ihrer Aussprache fuhr der Priester herum. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, wunderte sich Althea. Hatte er die Zwillinge überwacht, wusste aber nicht, wessen Haus er betreten hatte? Zeit, das zu ändern. Rasch öffnete sie die Außentür und Fensterläden, sodass der Raum taghell wurde.

    »Thea, dies ist Arnor. Er ist derjenige, der Maret seinerzeit geholfen hatte.« Mehr brauchte Gayle nicht zu sagen.

    Althea erinnerte sich. »Ah ja«, nickte sie kühl.

    Der Priester hatte sich noch immer nicht von seiner Überraschung erholt. »Althea Thoraldsfarlan! Ich... ich grüße Euch!«, sagte er und neigte den Kopf.

    »Nehmt doch den Schleier ab, wir sind hier unter uns«, bat sie. »Ich habe meine Freunde heute Nacht das erste Mal seit Langem wiedergesehen. Seid ihnen nicht gram, dass wir die Zeit vergessen haben. Warum seid Ihr so überrascht, mich hier vorzufinden?«

    »Nun«, er räusperte sich und schlug den Schleier zurück, »ich nahm an, dass Ihr... dass du...« Verwirrt brach er ab. Er konnte sie nicht einordnen, das war offensichtlich.

    Sie beschloss, ihm zu helfen. »Lassen wir doch die formelle Anrede sein. Mein Mann und ich leben hier, nicht auf dem Sitz des Clansführers.«

    »Du weißt, dass Thea diejenige ist, die alle von der dunklen Macht Befallenen geheilt hat?«, fühlte sich Gayle genötigt, ihrer Freundin hilfreich beizuspringen.

    »Sicher... sicher«, nickte er hastig. Seinen Gesichtsausdruck wusste Althea nur allzu gut zu deuten. Neugier, Verunsicherung und ein wenig Angst. »Ich frage mich...«, er gab sich einen Ruck und straffte sich, »...ob du uns wohl einen Gefallen erweisen würdest?«

    »Einen Gefallen?« Nanu?, dachte Althea und wechselte einen schnellen Blick mit Gayle. Diese hob unmerklich die Schultern. »Wenn es denn in meiner Macht steht, euch zu helfen... nur zu. Worum geht es?«

    »Einer unserer Auserwählten ist regelmäßig unwohl. Wir fragen uns, ob sie ernsthaft erkrankt ist oder ob sie... nun, empfangen hat. Es heißt, du kannst so etwas spüren.«

    »Oh«, machte Althea, wurde aber von Gayle unterbrochen: »Deshalb ist sie vom Dienst befreit und stattdessen nehmt ihr ständig mich? Warum habt ihr nichts gesagt?!«

    »Das zu beurteilen steht dir nicht zu!«, fuhr Arnor sie an.

    »Rege dich nicht auf, Gayle.« Althea sah kurz nach nebenan, um ihrer Dienerin Ona ein Zeichen zu machen, ihren Heilerkorb zu holen. »Ich werde mir eure Schwester ansehen, aber lass dir gesagt sein, dass mein Licht mich schon vor langer Zeit verlassen hat. Geblieben ist mir lediglich ein gewisses Gespür. Ihr tut gut daran, sie zu schonen, denn euer Trank schädigt in jedem Fall die Leibesfrucht. Hätten sie es dir gesagt, Gayle, dann würden sie zugeben, dass er schädlich ist, verstehst du? Zumal du die Jüngste von ihnen bist und als solche nun mal die unliebsamen Arbeiten zu machen hast. Ich war auch mal Novizin, musst du wissen«, erklärte sie dem zunächst empörten und dann höchst verblüfften Priester und geleitete ihn hinaus. Die Zwillinge mussten sich das Lachen verbeißen, ein Anblick, der den mit großen Augen lauschenden Mädchen Mut machte.

    Zu ihrer Überraschung kannte Althea die Priesterin. Es war Niune, die ehemalige Dienerin ihrer Großmutter. »Ich habe gehofft, dass du kommst«, begrüßte sie Althea mit einem etwas verlegenen Lächeln und fügte etwas leiser hinzu: »Ich wünsche mir so sehr, dass es wahr ist.«

    Der Dienst bei Altheas Großmutter Aislinn hatte Niune zu einer Auserwählten gemacht. Segen oder Fluch oder Schmach?, dachte Althea so bei sich, während sie die anderen Priester mit ein paar knappen Sätzen hinaus befahl und Niune bedeutete, sich hinzulegen. »Ich fühle Leben in dir«, flüsterte sie bald, sich der langen Ohren jenseits der dünnen Zeltbahnen wohl bewusst. »Aber es ist noch ganz schwach. Kaum mehr ein kleines flackerndes Licht.«

    »Dann... dann lebt es?«, flüsterte Niune zurück und hob den Kopf.

    Althea nahm ihre Hand fort und nickte. »Ja, noch. Du solltest ruhen, und keine heiligen Tränke mehr einnehmen. Dann wird es vielleicht überleben. Nein«, sie hob die Hand, als Niune zu einer weiteren Frage ansetzte, »ich kann nicht spüren, ob es gesund ist und ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, und ich kann dir auch nicht helfen. Mein Licht ist schon lange fort, also hilf dir selbst und tue, was ich dir sage.« Althea erhob sich und sah im Hinausgehen, wie die junge Priesterin die Hände vor das Gesicht schlug und ihre Schultern zu zucken begannen. Althea war nicht überrascht, vor dem Zelt eine große Anzahl Priester vorzufinden. Alle sahen ihr in gespannter Erwartung entgegen. Sie suchte sich Arnor und winkte ihn mit sich.

    »Sprich, was ist mit ihr?« Er klang nicht so herrisch wie vorher, sondern ehrlich besorgt.

    »Eure Vermutung war richtig, sie ist guter Hoffnung«, antwortete Althea leise. »Aber ich fürchte um sie und um ihr Kind. Sie sollte ruhen, nicht reisen.« Bei diesen Worten runzelte er die tätowierte Stirn. »Ihr habt doch nur noch wenige Siedlungen nach. Warum lasst ihr sie nicht mit dem Schiff nach Temora zurückkehren? Noch ist kein Sturm in Sicht.«

    »Eine Auserwählte auf einem saranischen Schiff?« Das gefiel ihm gar nicht.

    Althea lächelte spöttisch. »Wenn sogar Gildaer mehrwöchige Seereisen unternehmen und temorische Priester nach Gilda reiten können, dann wird sie wohl die paar Tage überstehen. Ihr müsst wissen, was ihr wollt, gesunden Nachwuchs oder wieder eine Enttäuschung. Nicht umsonst war mein Vater das letzte Kind von einer Auserwählten, und er ist ein Druidai. Ihm machen diese Gifte nichts aus.« Und damit ließ sie ihn stehen. Galvin hatte recht, es hatte sich wirklich nichts geändert, dachte sie kopfschüttelnd ob so viel Dummheit.

    Später am Tag stand Althea inmitten ihrer Familie und beobachtete stolz, wie sich ihre Mädchen tapfer auf dem Schlachtfeld schlugen.

    »Sie sind gut«, brummte Roar ausnahmsweise einmal anerkennend.

    »Das will ich meinen, schließlich habe ich sie unterrichtet«, knurrte Jeldrik zurück und packte Bjarnes Füße, weil der ihn vor lauter Aufregung ständig in die Brust trat. Wo ließ sich das Spektakel schließlich besser beobachten als auf den Schultern seines großen Vaters?

    Tosender Jubel begleitete das Ende ihrer Darbietung. Merte hatte Rike ganz knapp besiegt. Nur einer stand mit versteinerter Miene zwischen den Zuschauern. Dem Vater von Mertes Zukünftigen passte es gar nicht, was er da sah, hatte er doch heimlich gehofft, dass Merte an der Hürde der Vorstellung scheitern würde. Wo hatte es das schon einmal gegeben, dass eine Clanlose vorgestellt wurde?

    Rike Eryksfalan und Merte, die Heilerin, verabschiedeten sich mit einer spöttischen Verneigung, in der nur Althea ihre Nervosität sah. Sie seufzte. »Wie gerne wäre ich bei Jeldrik und Phelan dabei gewesen«, sagte sie zu Sylja.

    Die große Frau lachte. »Oh ja, das war ein Spektakel. Besonders, als Bajan ihn zurückrief. Sein Gesicht hättest du sehen sollen! Als hätte ihn jemand in einen Gletschersee geworfen.«

    Jeldrik knurrte unwillig, und die beiden Jungen wollten natürlich sofort wissen, was damals gewesen war. »Später, ihr beiden«, sagte Althea und beobachtete, wie Rike ihr einen hilflosen Blick über die Schulter zuwarf. Sie wurde von den Priestern einfach mitgezerrt. »Ihr entschuldigt mich...« Althea wollte hinter den Mädchen her, aber Jeldrik hielt sie zurück.

    »Lass sie. Sie müssen lernen, für sich selbst einzustehen. Es ist eh zu spät.« Die Zeltbahnen fielen hinter ihnen zu.

    Die beiden Mädchen fanden sich unversehens in einem Zelt mit zwei Badezubern wieder. »Reinigt euch und macht euch bereit«, wies eine verschleierte Priesterin sie knapp an, und schon waren sie allein.

    Merte war blass. »Und nun?«, zischte sie, sich hilflos umsehend.

    Rike packte es von der praktischen Seite an. »Vielleicht solltest du dich wirklich waschen, so verschwitzt, wie du bist.«

    »Und du? Wenn du in deiner normalen Kleidung draußen erscheinst, fällt das doch auf«, zischte Merte erbost zurück.

    »Na gut!« Zögernd entkleideten sich die beiden und begaben sich in die Zuber. Schnell den Schweiß heruntergewaschen und wieder rausgesprungen, die langen Gewänder übergestreift und ihre dreckige Kleidung zu einem Bündel zusammengeschnürt.

    »Wer sind die Nächsten zu empfangen den Segen der Götter?«, erklang draußen eine tiefe Stimme. Merte packte Rikes Hand. Vorsichtig schoben sie die Zeltbahnen am anderen Ende beiseite, doch dahinter wartete nur ein schmaler, leerer Raum.

    »Wohin?«, wollte Rike flüstern, aber da teilten sich neben ihnen die Zeltbahnen und zwei Paar kräftige Männerhände packten sie, hielten ihnen die Münder zu und zerrten sie fort. Es ging so schnell, dass den beiden nicht einmal Zeit für einen Aufschrei blieb.

    Vor ihnen erschienen zwei verschleierte Gestalten, und gleich darauf fand sich Merte ihrem breit grinsenden Liebsten gegenüber. Sie fiel ihm um den Hals. »Danke!«, flüsterte sie Galvin zu, der immer noch verschleiert war.

    »Gern geschehen«, lachte er leise. »Komm, Rike, lassen wir sie allein.«

    Vor lauter Erleichterung fiel es Rike gar nicht auf, dass er sie nicht nach draußen führte, sondern in ein ganz ähnliches Zeltabteil wie das vorherige. »Wir müssen dir beide danken und ich...« Rike verstummte. Sie stand vor einem Schlafplatz. »Was... wessen Lager ist das?«

    »Meines.« Galvin schloss mit seiner freien Hand sorgfältig die Zeltbahnen hinter sich.

    Rikes Herz schlug ihr bis zum Halse. »Ich wollte nicht...«

    »Ganz ruhig.« Auf einmal wurde sie sich bewusst, dass er immer noch ihre Hand hielt, warm und stark. Wie nahe er ihr plötzlich war! Sie wagte kaum zu atmen, als er den Schleier zurückschlug. »Sieh mich an, Rike.« Ganz vorsichtig tat sie es. »Wenn dein künftiger Gemahl – so er es denn noch sein sollte – eine Saranerin ehelichen will, muss er sich auch mit den Bräuchen ihres Volkes abfinden«, flüsterte er, malte ihr mit seiner freien Hand heilige Symbole auf die Stirn und sprach den Segen dazu. Dann tat er nichts mehr, sah sie nur an. Noch nie hatte er ein Mädchen gezwungen. Sie sollte selbst entscheiden.

    Seine Augen wurden dunkler, durchdringender, wie zwei Seen in der Nacht. Sie meinte, darin zu versinken. Ein belustigter Schimmer erschien in ihnen, er wusste, dass er gewonnen hatte und dass sie fiel, hier und jetzt. Rikes Knie wurden weich. ›Du Schuft, das hast du geplant!‹, dachte sie hilflos. Ohne dass sie bewusst eine Entscheidung gefällt hätte, hob sie ihm ihr Gesicht entgegen.

    Althea mochte es sich nicht eingestehen, aber sie war nervös um ihre beiden Mädchen. Sie hatten sich hervorragend geschlagen, doch jetzt war es Abend und sie immer noch nicht zurück.

    »Beruhige dich«, brummte Jeldrik an ihrer Seite und zog sie an sich. Althea legte ihren Kopf an seine Schulter und spürte eine leichte Berührung an der Schläfe, Jeldriks innigstes Zeichen, dass er sich um sie sorgte. »Wenn man sie erwischt hätte, dann hätte es längst jede Menge Geschrei gegeben.«

    »Um Merte sorge ich mich nicht, sondern um Rike«, erwiderte Althea leise und strich über seine versehrte Hand. Ihre Finger verschlangen sich wie von selbst ineinander, doch dann hob sie verwundert den Kopf, als Jeldrik leise in sich hineingluckste.

    »Um die hat sich, so scheint’s, Galvin gekümmert.«

    Althea stemmte sich hoch. »Waas?! Du meinst...?«

    »Hast du die Blicke nicht gesehen, mit denen er sie bedacht hat? Sie hing wahrscheinlich schon an seinem Haken, da war er kaum ein paar Augenblicke hier. Nein, reg dich nicht auf! Lass es, Thea! Für Rike ist es höchste Zeit, dass sie mal auf den Boden der Tatsachen zurückkommt. Ihr Belan wird sie frühestens nächstes Jahr zur Frau nehmen können, und ob das gut geht?«

    »Nein. Es wird nicht gut gehen«, seufzte Althea und legte sich wieder zurück. »Deswegen möchte ich ja unbedingt nach Gilda. Damit sie sieht, ob ihr Traum der Wirklichkeit entspricht.«

    »Thea, ich möchte nicht...«

    »Ich werde nach Gilda reiten, mit dem Kind in mir drin oder im Arm. Mein Licht wird mir helfen. Das hat es bisher immer, verstanden?«

    »Sturer kleiner Kobold!«, knurrte Jeldrik und gab sich damit endlich, endlich geschlagen. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie in seinen Armen ein.

    Am nächsten Morgen hockte Rike mit abwesendem Blick auf der Bank neben der Stalltür und starrte ins Nichts. Von Zeit zu Zeit nahm sie einen Schluck Kaffee aus ihrem Becher. Sie sah nicht auf, als sich Althea neben sie setzte. Aus dem Innern des Hauses drangen die fröhlichen Stimmen der Jungen und Jeldriks Gebrumm. Althea wollte die kurze Zeit der Ungestörtheit nutzen und mit ihr reden. »Und? Wann bist du zurückgekehrt?«

    Rike zuckte zusammen. Sie hatte Althea tatsächlich nicht bemerkt. »Eben. Gerade eben«, antwortete sie und wurde zutiefst rot.

    Jeldrik hatte recht, dachte Althea verblüfft. »Hast du ein schlechtes Gewissen?«

    Das Mädchen senkte den Kopf. »Hm. Wegen letzter Nacht?« Sie seufzte mit einem leisen, sehnsüchtigen Unterton. »Nein, habe ich nicht. Es war... oh Thea! Ich sollte eines haben und kann es nicht, und das macht mir ein schlechtes Gewissen, verstehst du? Es war wunderschön, wie Magie.« Wieder seufzte sie.

    »Ja, ja, unser Galvin hat so seinen Ruf«, spöttelte Althea und lauschte verwundert auf den plötzlichen eifersüchtigen Stich, der sie durchfuhr. War sie denn verrückt? Was war nur mit ihr los? Konnte es ihr nicht gleich sein, mit wem sich Galvin zusammentat? Froh sollte sie sein, doch stattdessen störte es sie. Rasch schob sie den Gedanken beiseite, denn Rike sah auf.

    »Ja, er hat mir gesagt, dass er gerne Mädchen einweist und ich es nicht persönlich nehmen soll. Nur, was soll ich bloß Belan sagen?«

    Althea lachte leise. »Schreib es ihm. Ich finde, dass er es ist, der sich deiner als würdig erweisen muss. Du bist eine begehrte junge Frau, Rike, einzige Erbin deines Vaters, und er nur der Sohn einer einfachen Frau, einer Magd. Wenn ich all deine Verehrer aneinanderreihen würde, könnte ich Saran mit einer neuen Palisade umgeben. Schreibe ihm das, mache ihn eifersüchtig. Er soll sich entscheiden, was er will. Oder sag es ihm gleich selbst, wenn wir in Gilda sind.«

    »In Gilda?!« Rike riss die Augen auf. »Du meinst...«

    »Ich werde reiten, und du kommst mit mir.« Althea zwinkerte ihr zu und stemmte sich hoch. »Lass uns reingehen. Ich habe Hunger, du nicht?«

    »Oh ja, und wie! Kannst du mir zeigen, wie man das Öl gegen Wundheit zubereitet? Und den Tee der Huren, der verhindert, dass man ein Kind empfängt?«

    Althea lachte auf. »Jetzt ja. Du bist soweit und Merte auch.« Gemeinsam gingen die beiden Frauen hinein.

    Der Abschied von den Zwillingen fiel Althea diesmal nicht schwer, würde sie ihre Freunde doch in Kürze wiedersehen. Die bevorstehende Reise versetzte alle in Aufregung. Die beiden kleinen Jungen sprachen von nichts anderem mehr, und Rike schwebte in seligen Höhen, so sehr, dass Althea sie manches Mal ermahnen musste, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, nur nicht bei ihrer Heilerinnentätigkeit. Für Althea war es Anlass für Freude und Traurigkeit zugleich. Ihre Mädchen würden sie verlassen, Merte schon bald, und Rike würde vielleicht sogar in Gilda bleiben. Es wurde Zeit, dass sie sich nach einem neuen Mädchen umsah. Nur mit der taubstummen Ona würde sie die viele Arbeit nicht schaffen.

    »Aber nicht Harcons Jüngste!«, schimpfte sie, als er sie schon wieder damit bedrängte.

    »Das Mädchen ist einige richtige kleine Hexe«, stimmte Sylja ihr zu, die gerade zu Besuch war und mit ihrem Enkelsohn herumscherzte. »Sie würde deinem Ruf schaden.«

    »Warum sieht er das nicht ein?«

    »Weil in seinem verqueren Dickschädel nichts anderes Platz hat als die Feindschaft unserer Clans. Dabei schuldet er dir eine Menge. Ohne dich wäre sein Clan längst von anderen einverleibt worden. Geh spielen, Kind.« Sie schob Bjarne von ihrem Schoß, und er rannte hinaus. »Du hast dich entschlossen, mit nach Gilda zu reisen?«, fragte sie, ernst auf einmal.

    Verwundert merkte Althea auf. »Warum?«

    »Roar spielt mit dem Gedanken mitzureiten.«

    »Roar?! Warum das?«

    »Ihm geht es mit dem Handelsabkommen bei Weitem nicht schnell genug. Er fürchtet, dass dein Bruder den Vertrag nicht erfüllt.«

    Bei diesen Worten stieß Althea ein ärgerliches Zischen aus. »Sein Land wurde ja auch nicht zerstört! Currann braucht alle Mittel, Morann wieder zu dem werden zu lassen, das es einmal war. Und ich will nichts davon hören, dass er sein Heer aus den Ferrium Vorkommen in Branndar versorgt! Dafür sind sie bei Weitem noch nicht gut genug, und die Mine gibt zu wenig her. Nein, Sylja! Rede ihm noch einmal ins Gewissen. Wenn er in derartiger Absicht nach Gilda reist, wird er mehr kaputt machen als gewinnen, zumal meine Familie nach wie vor nicht gut auf ihn zu sprechen ist, weil er mich geschlagen und Kjells Leben gefährdet hat. Das ist meine ganz persönliche Einschätzung.«

    Sie wollte einfach nicht mit dem Clansführer reisen, denn das hätte ihr die gesamte Reise verdorben. Glücklicherweise gelang es Jeldrik und Sylja, Roar davon zu überzeugen, dass sein Mitkommen absolut überflüssig war. Jeldrik würde seine Interessen vertreten, besser als jeder andere, denn er hatte ein Pfund, mit dem er wuchern konnte: mit seiner Freundschaft zu Phelan und Currann. Das musste dann auch Roar einsehen, und er gab klein bei, sehr zur Erleichterung aller. Unbeschwert konnten sie sich nun an die Vorbereitungen zur Reise machen.

    Je näher die Reise rückte und je runder und schwerfälliger Althea wurde, desto besorgter wurde Jeldrik. Er bereute, dass er sein Einverständnis gegeben hatte, doch nun konnte er nicht mehr zurück. »Bis Galeac reisen wir ja mit dem Schiff«, tröstete Althea ihn eines Abends, vielleicht eine Woche vor der Abreise. »Nun mach doch nicht so ein finsteres Gesicht. Wir haben genügend Zeit eingeplant, falls unser Mädchen unterwegs kommen sollte.« Heimlich hoffte sie jedoch, dass es in Temora soweit sein würde, im Kreis ihrer Freundinnen. Sie seufzte. »Harcon hat mich gebeten, vor der Abreise noch einmal nach seiner Mutter zu sehen. Ich glaube, ich reite morgen einfach hin und spreche ein ernstes Wort mit seiner Tochter.«

    »Aber nicht allein!«, sagte er sofort. »Ich gebe dir zwei Wächter mit. Mir gefallen die Gerüchte nicht, die unter den Sumpfbewohnern umgehen.«

    »Also gut«, lenkte sie ein, »wenn es dich beruhigt...«

    »Ja, tut es«, erwiderte er knapp und blies das Licht aus.

    Anderntags machte sich Althea mit ihrer Dienerin Ona und zwei Wächtern auf den Weg. Eigentlich war es albern, dachte Althea. Der Weg war kurz, langsam geritten kaum eine Stunde durch die Sümpfe. Sie mochte Harcons Siedlung nicht, die feuchten, muffigen Hütten, die stets von allen Seiten vom Wasser bedrängt waren. Nichts Gutes kam von dort, hatte sie Sylja mehr als einmal sagen hören, und sie musste es wissen, denn sie war mit dem Clan teilweise verwandt. Was Altheas Familie und Freunde betraf, stimmte es sogar. Phelans erster Zusammenstoß, beim dem er zusammen mit Jeldrik und Jorid gegen die Jungen der Siedlung gekämpft hatte. Clansherr Widars Tat gegen Jorid und sein Tod, Seekos Verrat auf der Insel. Und doch war Harcon Altheas Kompagnon bei der Errichtung des Hurenviertels, zumindest in diesem Jahr noch. Dann war sie schuldenfrei. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, nach seiner Mutter zu sehen, einer alten, schmerzgeplagten Frau, die Dank Altheas Hilfe wieder die Herrschaft über ihr Haus übernommen hatte.

    Ona mochte es gar nicht, dieses Haus, wurden dort Sklaven doch noch schlechter behandelt als anderswo in Saran. Deshalb schwiegen Onas Hände, und sie lenkte mit bleichem Gesicht ihr Pony über die sumpfigen Pfade. Auch wenn Althea sie nicht wie eine Sklavin behandelte und sie wusste, dass sie über ihr Leben selbst entscheiden konnte, in den Augen der Saraner blieb sie eine Sklavin und war dadurch den Grausamkeiten und Nachstellungen ausgesetzt. Kaum jemals konnte sie sich allein bewegen, brauchte immer Begleitung, selbst in der Umgebung ihres Hofes. Je älter Ona wurde, desto weniger wusste sie, wohin sie gehörte. Von den Etheniern hatte sie sich durch Altheas Unterricht mehr denn je entfernt, sie konnte lesen, schreiben und rechnen, und das in zwei Sprachen. Allein in Saran bleiben konnte sie auch nicht. Manchmal dachte Althea, dass Ona im Orden der Hl. Asklepia am besten aufgehoben wäre. Deswegen würde auch sie mit nach Gilda reisen, für einen Ausblick in eine andere Zukunft.

    Bei Harcon angekommen, begann das alte Lied von vorne. Könnte nicht doch seine Tochter Sigurd... Althea hatte weder die Zeit noch die Geduld, sich noch einmal damit auseinanderzusetzen. Sie tat das, was sie für gewöhnlich vermied: Sie wusch Harcon in wahrhaft saranischer Manier den Kopf. Zum Schluss drohte sie ihm damit, ihre Vereinbarung aufzukündigen, wenn er nicht endlich aufhörte, sie zu drängen. Das war das einzige Mittel, das bei Harcon wirkte. Chronisch klamm konnte er auf die Münzen aus dem florierenden Hurenviertel nicht verzichten.

    »Ich hasse das!«, schimpfte Althea laut, kaum waren sie aus der Siedlung heraus.

    »Regnar hätte es nicht besser gekonnt«, brummten ihre Wächter und lachten. Die beiden waren zwei junge Männer aus Roars Clan und hatten sich an der Demütigung des verfeindeten Clansführers förmlich geweidet. »Jaahh, wenn du nicht... schscht, was ist denn?« Das Pferd ihres zuvorderst reitenden Wächters scheute plötzlich und stieg. Althea und Ona hielten an. »Ruhig, verdammt!«, knurrte der junge Mann und bekam das Tier endlich wieder auf den Boden.

    Plötzlich war es still, geradezu unnatürlich still. Kein Vogel, keine Grillen, keine Frösche. Selbst das Meer schien zu schweigen. Gefahr... Althea spürte es mit allen Fasern. Sie legte ihre Hand langsam auf ihre Waffe. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Ona sich ängstlich duckte.

    »Steigt besser ab«, zischte der Wächter hinter ihnen und schwang sich von seinem Tier. Er trat zu Althea heran und half ihr herunter, da ließ er sie plötzlich abrupt los und schlug sich an den Hals.

    Althea kam ziemlich hart auf. »Vorsicht! Was...?«

    Ihr Wächter starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. »Wir... wir werden angegriffen«, gelang es ihm noch zu stammeln, dann brach er zusammen. Hinter ihm fiel Ona mit einem dumpfen Laut zu Boden und vor ihr der andere Wächter. Die nervösen Pferde kannten kein Halten mehr, sie rissen sich los. Plötzlich stand Althea allein. Kein Laut war zu hören, nur das schwere Keuchen ihrer Begleiter auf dem Boden. Der ersten Erleichterung, dass sie nicht tot waren, folgte Furcht. Langsam wandte Althea den Kopf, mit allen Sinnen lauschend. Nichts. Sie wusste, es war zwecklos, in Deckung zu gehen. Sie war eh nicht schnell genug.

    »Zeigt euch, ihr Feiglinge!«, rief sie. Da erhob sich heiseres Gelächter. Es klang nicht menschlich, dieses Lachen, und jagte ihr einen Schauder über den Rücken. »Kommt schon!«, schrie sie, doch statt einer Antwort sauste ein schwarzer Schatten heran, traf sie, und sie spürte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben.

    »Herr! Herr! Herr Jeldrik!« Das aufgeregte Rufen des Sklaven ging in dem Lärm des Hafens beinahe unter. Jeldrik überwachte gerade das Beladen eines seiner Schiffe, das in Kürze zur Insel aufbrechen würde. Die Winde drehten, bald würden sie stetig gen Westen wehen. Die eine Hälfte des saranischen Inselteils gehörte mittlerweile ihm, die andere seinem Vater. Auch wenn er den anderen eines Tages erben würde, achtete er doch stets darauf, alles streng getrennt zu halten. Männer, Verpflegung, Sklaven, die Schiffe und der Handel. Niemand sollte sagen, er würde mithilfe Roars reicher.

    »Herr! Herr!«

    Endlich hatte Jeldrik den kleinen Sklaven entdeckt, der sich durch das Gewühl im Hafen zu ihm durchschlug. »Was ist?«, knurrte er, knapp, aber nicht unfreundlich. Manch anderer hätte dem Sklaven für die Störung seine Faust spüren lassen. Nicht jedoch Jeldrik. Er schlug seine Sklaven niemals.

    »Herr, das Pferd deiner Frau ist reiterlos zurückgekehrt!«

    Jeldrik richtete sich mit einem Ruck auf. Um ihn herum wurde es totenstill, und wer die Worte des Sklaven nicht gehört hatte, hielt verwundert inne, weil es plötzlich so still war.

    ›Thea...‹, hämmerte es in seinem Kopf.

    »Es... es stand plötzlich vor der Weide mit Schaum vor dem...« Weiter kam der Sklave nicht. Jeldrik stieß ihn grob beiseite und rannte.

    Die ersten Spuren fanden sie sehr schnell. Die beiden Wächter lagen tot auf dem Weg zu Harcons Siedlung. Man hatte ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Furcht schoss wie flüssiges Eis durch Jeldriks Adern. Er brüllte die Männer an, ja keine Spuren zu zertrampeln, und näherte sich allein der Stätte. Er fand mehrere Pfeilspitzen und eine rote Haarsträhne, wie zufällig zurückgelassen. Beides betrachtete Jeldrik lange in seiner Hand, scheinbar regungslos, doch in seinem Innern tobte ein Sturm. Er hätte aufheulen mögen aus Angst um Althea, es nahm ihm fast den Atem. Diese Pfeilspitzen kannte er. Sie stammten vom Jägervolk auf der Insel. Er sah auf die Pfeilspitzen, auf die Haarsträhne und machte einen fast zögerlichen Schritt vorwärts auf das Schilf zu. Was, wenn er sie fand, gleich dort?

    Doch stattdessen fand er Schleifspuren, sie war gezerrt worden. Der Anschub eines Flachbootes. »Sie sind in die Sümpfe... holt die Männer des Sedats! Alarmiert Oren! Sie sollen eine Wachpostenkette um die Sümpfe bilden, ein paar Schiffe auf der Seeseite!« Seine Stimme war heiser, er brachte die Worte kaum hervor.

    Stunden später waren sämtliche verfügbaren Männer Sarans auf der Jagd. Jeldrik verdrängte die Furcht, die verängstigten Mienen seiner Söhne, die sich immer wieder in ihm hoch drängten, und ging allen grimmig voran. Ein Sedatschüler steuerte ihr Flachboot. Sie folgten einer Spur, die Althea ihnen gelegt hatte. Blutige Haarsträhnen, Fetzen ihres Umhanges – unverwechselbar die wasserfeste Wolle. Jeldrik wusste, sie waren nicht schnell genug, sie verschwendeten kostbare Zeit, die vielen Kanäle nach dem nächsten Hinweis abzusuchen. Bis spät in den Abend hinein folgten sie so ihrer Spur, und Jeldrik wurde mit jedem Haar und jedem Fetzen verzweifelter und wütender. Zum ersten Mal wünschte er sich, sie hätten ausprobiert, ob ihre Söhne

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