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Afghanistan Dragon: Mohnanbau und Opiumschmuggel im Nordosten Afghanistans
Afghanistan Dragon: Mohnanbau und Opiumschmuggel im Nordosten Afghanistans
Afghanistan Dragon: Mohnanbau und Opiumschmuggel im Nordosten Afghanistans
eBook436 Seiten6 Stunden

Afghanistan Dragon: Mohnanbau und Opiumschmuggel im Nordosten Afghanistans

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Über dieses E-Book

Der Schweizer UN-Drogenbeauftragte Professor Beat Hodler reist im UN-Auftrag an den Hindukusch, um den missbräuchlichen Mohnbau und Opiumabsatz in Afghanistan zu erforschen. Schon am Ausgangspunkt seiner Eruierungen in Kabul trifft er auf extreme Widersprüche, die zu entschlüsseln den Mediziner reizt, da die Behauptungen eines reichen Teppichseidenfabrikanten sinnfällig und bitter, doch dabei zugleich höchst seltsam klingen. Der Prof entschließt sich zu einem riskanten Unternehmen, gegen erhebliche Widerstände: Er zieht ins Hochgebirge nahe der Grenze zu Tadschikistan. Dort oben im äußersten Nordosten in einem kleinen Dorf lernt Hodler die Faktoren für den Mohnanbau sowie den Opiumabsatz in diesen Gebieten kennen, derweil der Dorfälteste gleichzeitig in einem Kabuler Gefängnis darüber grübelt, wer in der Hauptstadt ausgerechnet an seiner Verhaftung interessiert sein könnte. Der Prof trifft den kreativen, innovationsfreudigen Agraringenieur Khaled und dessen uneigennützige Geliebte Sanaubar, die ihren Lebensunterhalt mit dem Ritzen der Mohnkapseln verdient und sich um Shanzai kümmert, eine jugendliche Versehrte, die aufgrund eines Selbstmordattentats ihre Arme und ein Bein verloren hat, jedoch nicht ihren heiteren Lebensmut und unersättlichen Wissensdurst. Wiederholt gerät der Prof in Lebensgefahr und überlebt knapp einen Anschlag, da er argen Dunkelmännern verschiedenster Couleur begegnet, so Marodeuren, Söldnertrupps, al-Qaida-Terroristen, War Lords, Drogenbaronen, aber auch in Opiumgeschäfte verwickelten Diplomaten und Geheimdienstlern wie dem berüchtigten, sagenhaften US-Agent, der als der "weiße Ibrahim" bekannt ist. Ein Drogenthriller erster Güte. Leseprobe: romane-im-internet.de
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Nov. 2011
ISBN9783844211894
Afghanistan Dragon: Mohnanbau und Opiumschmuggel im Nordosten Afghanistans

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    Buchvorschau

    Afghanistan Dragon - Norbert F. Schaaf

    Norbert F. Schaaf

    AFGHANISTAN DRAGON

    Mohnanbau und Opiumschmuggel

    im Nordosten Afghanistans

    Roman

    Afghanistan Dragon - Opiumthriller

    Norbert F. Schaaf

    Copyright 2011 Norbert F. Schaaf

    published at epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Titelillustration: nailiaschwarz / photocase.com

    ISBN 978-3-8442-1189-4

    Vorwort / Warnsatz:

    Dieses Buch ist geeignet, dass sich in ihren Gefühlen gewisse Leute verletzt fühlen könnten: Drogenhändler, Geheimagenten, Militärs, Manager, Politiker sowie Fundamentalisten unterschiedlicher Religionen. Gleichwohl sind alle handelnden Figuren rein fiktiv und Ähnlichkeiten mit Realpersonen rein zufällig. Das Nachwort indes ist kein unwichtiger Bestandteil des vorliegenden Buches.

    Vorspann

    Sanaubar richtete sich auf.

    Sie biss die Zähne zusammen, die linke Faust in die Hüfte gestemmt. Schmerzvolle Stiche bohrten sich ihr wie mit rasiermesserscharfem Krummdolch ins Rückgrat. Diese Qualen waren ihr alltägliche Erfahrung, doch an sie gewöhnen würde sie sich nie. Den dritten Tag schon war sie auf dem Mohnfeld. Größer gewachsen als die meisten anderen Frauen musste sie in stark gebückter Haltung arbeiten. Nur so vermochte sie mit dem kleinen, gekrümmten Messer jene haarfeinen Schnitte in die Kapseln zu ritzen, aus denen ganz allmählich, im Verlauf etlicher Stunden, die weiße, sämige Milch herausquoll.

    Sanaubar war geschickt im Anritzen der Mohnkapseln. Doch bekam man klebrige Finger dabei, die Sonne versengte einem das Gesicht und den Nacken wie ein Brandeisen. Selbst mit einem grobmaschigen Gitternetz als Sehschlitz einer Burka wäre die Arbeit nicht zu vollbringen. Das mandeläugige Mädchen in gelber hijab, dem Kopfschleier, hatte sich daher mit einer Mischung aus Hühnerblut und Erde eingerieben, doch auch das hielt die weißglühend vom Himmel herab stechenden Lichtstrahlen nicht völlig ab, die ihr die Augäpfel zu verschmoren drohten. Und doch war diese Arbeit noch die weniger unbequeme; jene Frauen, die einen Tag nach dem Anritzen den geronnenen Saft von den Kapseln abschabten und in kleine Blechdosen sammelten, waren weitaus schlechter dran. Die schwarzoxidierte Masse war widerspenstig, ab und zu fiel ein solches Klümpchen auf die Erde, wenn man schon glaubte, es an der Klinge zu haben. Dann war die Mühe umsonst gewesen. Es nützte nichts, das Klümpchen aufzuheben, denn daran klebten Erde und Pflanzenteilchen, die die Masse verunreinigten und im Wert minderten. Andernteils murrten die Männer, wenn die Frauen am Abend ihre Büchsen nicht gefüllt hatten.

    Das Feld, auf dem die Frauen arbeiteten, lag eine gute Stunde von Karambar entfernt, auf einer schwer zugänglichen Hochfläche, die sich schroff, steil bis abschüssig, zwischen felsigen Hängen der kälteblauen Berge wie ein am Hang ausgerollter bemalter Filzteppich erstreckte. Es hatte zwar genügend Wasser, doch nur karges Erdreich. Hier in der Bergregion des nordöstlichen Afghanistan gab es nicht viel bebaubaren Boden. Ein Feld wurde bestellt, solange es eine Ernte versprach, ehe man es brachliegen ließ, bis es wieder eine niedere Vegetation zeigte. Hatte diese eine gewisse Dichte erreicht, drosch man sie zusammen und grub Gezweig, Laubwerk und Binsengras unter. Dadurch gewann der Boden gerade so viel Kraft, dass er erneut bestellt werden konnte, freilich nur für eine kürzere Periode als zuvor.

    Vorwiegend wurde Mohn angebaut, seit unerdenklichen Zeiten schon. Die rosa oder malvenfarbigen Blüten bedeckten beinahe jedes Stück verwertbaren Bodens im Gebirge, im Bergwind wogende Blumenmeere. Der Mohn vertrug die Sonne, aber auch die Kälte der Nächte und kam mit wenig Feuchtigkeit aus. Und er war seit unzähligen Generationen das einzig gewinnbringende Tauschobjekt der Gebirgsbewohner. Sicher könnte man Trockenreis ziehen, man tat es auch in bescheidenem Umfang in unmittelbarer Nähe der Ansiedlungen, doch man brauchte zum Leben auch Öl und Salz, Geschirr und Werkzeug, Seife und elektrische Geräte, Brennstoff für die Lampen und Öfen sowie Kattun, um sich zu kleiden, und vieles mehr. Dies alles konnte man in den Tälern eintauschen gegen Opium. Ein einziger Sack voll brachte Salz und Öl für ein ganzes Jahr. Das klebrige, bräunliche Rohopium war deshalb für die Bergbewohner von jeher das Gold unter allen Erzeugnissen.

    Die Menschen aus den Bergen interessierten sich nicht dafür, ob ihre Ware für medizinische Zwecke verarbeitet wurde oder als illegal hergestelltes Heroin in die Hände von Süchtigen geriet. Sie hatten die Mägen ihrer Kinder zu füllen. Niemand sonst tat das. Jede Regierung in Kabul hatte zwar schon vor einigen Jahren und wiederholt den Handel mit Opium verboten, doch das war eine Anordnung, um die sich in den Bergen niemand scherte. Wovon sollte man leben, wenn nicht vom Opium? Die Regierung gab keinen Reis. Sie ließ auch kaum Straßen bauen, die in die Berge führten, damit die Bewohner andere Produkte in die Täler transportieren könnten. Die wenigen, die es nun gab, waren zwar asphaltiert, jedoch viel zu unsicher, um sie regelmäßig zu benutzen. Der Regierung war es gleichgültig, ob in Karambar die Kinder hungerten oder nicht. Die Staatsmacht bestand nur aus Stammesfürsten und Kriegsherren, die an dem Handel mit dem Rohopium zumeist beteiligt waren.

    1

    Sanaubar dehnte und reckte und streckte sich. Die Gebirgswelt in der Weite um sie herum wirkte überwältigend, wenn sie aber auf den Erdboden herabschaute, herrschten Kargheit und Härte vor, die Natur und Klima der felsigen, zerklüfteten Landschaft eingeprägt hatten. Freilich sollte niemand sich täuschen: Das Gebirge gab sich einmal sonnig-heiter, ein andermal eisig-schroff.

    Seufzend machte sich Sanaubar wieder an die beschwerliche Arbeit, ohne ihre grübelnden Gedanken verbannen zu können. In Karambar machte sich niemand Illusionen über die Regierung. Wer sich auf sie verließ, war verloren. Der Präsident, eine vom Ausland eingesetzte Marionette in der albernen Mischkleidung aus verschiedenen Trachten einiger Landesstämme, redete ab und zu von der Notwendigkeit, etwas für die arme Bergbevölkerung zu tun, doch alles sah danach aus, als könnte er seine Herrschaften von dieser Notwendigkeit nicht überzeugen – falls er es überhaupt versuchte. So blieb alles beim Alten. Vor einiger Zeit war manches geändert worden, nachdem die ersten Flugzeuge der Briten und der Deutschen, vor allem jedoch der US-Amerikaner über den Bergen erschienen waren. Zunächst waren sie verschwunden, doch bald wiedergekehrt. Vielfach mit Hubschraubern, die keine Landebahn benötigten. Rasch war eine Militärinvasion daraus geworden. Mit ihr war eine neue Händlerschaft erstarkt, die nach allmählicher Verdrängung der bisherigen Aufkäufer in den Tälern wohnte und meist für die Kabuler War Lords und Kriegsgewinnler oder andere Schieber arbeitete. Diese neuen Händler sprachen englisch und trugen saubere, frisch gebügelte Uniformen. Sie brachten in ihren Flugmaschinen Säcke und Kisten mit erstaunlichen Dingen noch in den letzten Winkel des Landes: von der Taschenlampe mit eingebauter Wasserwaage über den Zimmerspringbrunnen bis zum Modell eines Hexenhäuschens, und die Bergbewohner fanden es günstig, dass sie ihr Rohopium nicht mehr mühsam über die halsbrecherischen Pfade in die Täler transportieren mussten.

    Es hatte den Anschein, als sei der Wohlstand in die Berge eingezogen. In den Lehmhäusern brannten am Abend helle Benzinlampen, die Kinder aßen Fleisch aus Dosen und tranken Milch, die als Pulver geliefert wurde. Sie naschten von dem Zuckerwerk, das die Fremden verteilten, und die Frauen trugen bunte Kattunkleider. Hier und da spielte ein Radio, flimmerte ein Fernsehgerät. Die Männer hatten Feuerzeuge und Digitalarmbanduhren. Das war jedoch nur eine Weile so gegangen. Heute luden die Fremden kaum anderes aus als Waffen, und die waren für die Leute in den Bergdörfern nutzlos. Zwar verfügten die Männer in Karambar wohl über Jagdflinten, meist sehr alte Exemplare, und sie freuten sich, wenn sie sie gegen neuere Modelle tauschen konnten. Wozu jedoch sollten sie Maschinengewehre oder Granatwerfer brauchen?

    Das Problem löste sich vorerst dadurch, dass bunt zusammengewürfelte Haufen von dozds aus dem nordwestlichen Pakistan über die Grenze kamen. Angehörige der Taliban, die seit ihrem Machtverlust wieder Kleinkriege gegen die eigene Staatsmacht im Lande führten. Für sie waren Maschinengewehre und Granatwerfer nützlich. Sie bezahlten mit Opium dafür. In Karambar lagerten in den Erdgruben unter den Lehmhäusern wochenlang Plastiksäcke, gefüllt mit der braunen Opiummasse, bis die Fremden sie holten und wieder Maschinengewehre dafür brachten sowie Handgranaten, Panzerfäuste und Munition. Nahrungsmittel gab es nur noch selten, die waren angeblich knapp geworden. Nach und nach war Karambar, wie viele andere kleine Gebirgsdörfer, zu einer Umschlagstelle geworden: Waffen gegen Opium. Was die Kinder von Karambar essen sollten, kümmerte die Fremden nicht. Dennoch würde es bald im Dorf eine Besserung geben. Mir Khaibar, der qariadar, der Dorfälteste, war zusammen mit Jalaluddin, dem Onkel des Mädchens Sanaubar, nach Faïzabad gezogen, vor mehr als zwei Wochen schon. Die beiden Männer hatten alle verfügbaren Kamele mit Rohopium beladen, um es in Faïzabad, der ersten großen Stadt im westlichen Tal, gegen Geld einzutauschen. Dafür würden sie alles kaufen, was das Dorf benötigte: Salz, Mehl, Dörrfisch, geräuchertes Geflügel, Speiseöl, Tee, Zucker, Seife und Zahnpasta.

    Vor dem Aufbruch der Karawane waren lange Debatten darüber geführt worden, ob man sie bewaffnen sollte oder nicht. Eine Anzahl junger Männer war bereit gewesen, zum Schutz mitzugehen. Schließlich hatten sie sich entschieden, lieber unbewaffnet aufzubrechen. Gewiss, sie könnten einer der in den Bergen vagabundierenden Horden von al-Qaida-dozds in die Hände fallen. Die Banditen würden die Männer töten und das Opium rauben, um es selber den Fremden zu verkaufen, mit denen sie auf gutem Fuß zu stehen wussten. Doch Mir Khaibar hatte gemeint, mit einigem Geschick ließe sich eine solche Begegnung vermeiden. Ebenso wie Jalaluddin kannte er jeden Steg in den Bergen, und die Karawane würde auf einer Route marschieren, die so gut wie sicher war.

    Die Männer müssten indes längst zurück sein. Sanaubar war ein wenig beunruhigt. Sie lebte seit ihrer Kindheit bei ihrem Onkel. Kaka Jalaluddin hatte versprochen, ihr aus Faïzabad eine Haarspange mitzubringen und noquls, die leckeren Konfektstücke in Form von Maulbeeren. Nun war sie neugierig, ob er das auch nicht vergessen hatte. Sanaubars Haar fiel weit über ihre Hüften herab, geflochten in einen dicken Zopf. Wer sie auf dem Mohnfeld sah, das Gesicht voll von verkrustetem Hühnerblut und von Erde, konnte dennoch feststellen, dass sie ein außerordentlich schönes Mädchen war. Sie hatte ein zierliches Kinn, hohe Wangenknochen, ausdrucksstarke rehbraune Augen, dichte, wunderschöne geschwungene Brauen, eine glatte Stirn und in der Mitte gescheiteltes Haar, das wie ein kostbarer Schal ihre Hüften umspielte. Sie bewegte sich mit einer fließenden Grazie, die Blicke auf sich zog. Als der ausländische Pilot der ersten Maschine, die bei Karambar gelandet war, sie angesehen hatte, war er überrascht gewesen. „Was machst du hier in den Bergen? Du gehörst nach Kabul! Dort könntest du mit deinem Aussehen eine Million machen!"

    Sanaubar hatte nur lachen können. Der Pilot war von ihrem Lächeln auf den Lippen und von ihren großen dunklen Augäpfeln mit den sanft geschwungenen Lidern so beeindruckt gewesen, dass er ihr mehrmals Geschenke aus Kabul mitgebracht hatte, ein Kleid, ein Stück duftender Seife oder Schokolade. Er hatte lange um sie geworben, und das Mädchen war ihm ausgewichen. Warum hatte er sich so töricht angestellt? Hatte er nicht gemerkt, dass sie nicht mit ihm allein sein wollte? Es ihm offen zu sagen, wäre unhöflich gewesen. Also hatte sich ihr Onkel Jalaluddin eines Tages entschlossen, dem Amerikaner mitzuteilen, dass Sanaubar einem jungen Mann versprochen sei, der Vollwaise war und wie das Mädchen seit seiner Kindheit in Jalaluddins Haus lebte und nach seiner Rückkehr vom Studium in Kabul auch wieder leben würde. Jalaluddin hatte ihre Eltern gekannt. Sie waren kurz hintereinander gestorben am Berghusten, jener tückischen Krankheit, die es seit jeher in den Bergen gab.

    Der allein stehende Jalaluddin hatte den Jungen wie einen Sohn aufgezogen. Als er entdeckt hatte, dass Khaled ein außergewöhnlich kluger, begabter Junge war, hatte er durch Vermittlung der Tante Sanaubars, die in Kabul lebte, einen Studienplatz für ihn gekauft. Damals war ihm das noch aus dem Ertrag des Opiumhandels möglich gewesen. Heute war er froh, wenn Khaled in diesem Sommer das Studium beendete, sein Examen machte und nach Karambar heimkehren würde.

    Für jeden im Dorf war klar, dass Sanaubar und der Student dann heiraten würden. Und Khaled würde dem Dorf raten können, wie aus der Lage herauszukommen war, in die es die Fremden gebracht hatten.

    Auch Sanaubar wartete mit Ungeduld darauf, dass Khaled kam. Sie befürchtete zwar nicht, dass er sich in Kabul ein anderes Mädchen gesucht hatte, denn sie wusste, dass er sich in der großen Stadt nicht wohl fühlte und über manche Lebensgewohnheiten der Leute dort den Kopf schüttelte. Er ging auch Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg, bei einer Demonstration war ihm das Nasenbein eingeschlagen worden. Und Sanaubar sah, dass in Karambar möglichst bald etwas verändert werden musste, wenn das Dorf nicht zugrundegehen sollte. Das Unternehmen, das Mir Khaibar und Jalaluddin begonnen hatte, der heimliche Verkauf von Opium in Faïzabad, würde ein wenig helfen, wenn auch nicht auf die Dauer.

    Wie oft sagte Khaled zu ihr: „Dostet darum. Und sie bestätigte: „Ich liebe dich auch. Er nannte sie: „Meine malika, meine gul. Und sie fühlte sich wie eine Königin, wie eine Blume. Und er sagte: „Du bist maghbool wie der Mond. Khaled sah sie ehrlich als eine ausgesprochene Schönheit, sie selbst sich allenfalls als apart. Sie habe einen kleinen melancholischen Zug um die zart geschwungenen Lippen, sagte ihr Khaled, und ein heiteres Lächeln in den Augen. Dieser Ausdruck aber könne wechseln, dann sehe er Melancholie in ihren Augäpfeln und das Lächeln um ihren Mund und wieder umgekehrt – je nach ihrer Stimmung und ihrem Befinden. Selten einmal lächelten Augen und Lippen zugleich. Und stets nur, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

    Sanaubar schätzte freilich am meisten an Khaled, dass er sie teilhaben ließ an seinen wissenschaftlichen Forschungen und politischen Ansichten, an seinen Gedanken und Plänen, an seinen Befürchtungen und Hoffnungen. Khaled und Sanaubar gingen liebevoll miteinander um und voller Zärtlichkeit, doch nicht dies, sondern ihre Diskussionen ritzten das Bewusstsein.

    2

    Versonnen, mit lächelnden Augen und Lippen, ritzte das Mädchen geschickt eine Mohnkapsel nach der anderen. Ab und zu streckte es sich und schaute nach der Sonne, die nur noch knapp über den Berggipfeln im Westen stand. In einer Stunde würde das Licht fahl werden. Das bedeutete jedoch nichts weiter, als dass die Sonne hinter den Felszacken entschwand, danach dauerte es noch zwei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit, und Sanaubar wollte zur Nacht ins Dorf zurück. Sie blieb nicht in einer der aus Zweigen und Lehm errichteten Hütten am Rand des Felsens, wie die meisten anderen Frauen, die sogar ihre Kinder mit hierher genommen hatten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Jalaluddin und Mir Khaibar heute noch zurückkehren würden, da wollte sie zu Hause sein.

    Sie wunderte sich, als sie einen Mann aus der Schlucht herauskommen sah. Die Männer arbeiteten jenseits des Berges, auf einem Steilhang, an dem das Ernten noch schwerer war als auf dem leicht aufsteigenden Feld. Es war noch zu früh, dass die Männer sich einstellten, um gleich ihren Frauen den Abend zu Hause zu verbringen. Doch der Mann rief schon von weitem ihren Namen.

    Sanaubar steckte das Messer weg und trat vorsichtig, so dass sie möglichst keine der Mohnpflanzen knickte, vom Feld auf den schmalen Pfad, der zur Schlucht führte, und lief dem Mann entgegen. Als sie vor ihm stand, sagte er ein wenig betreten: „Geh ins Dorf zurück, hamshira jo!"

    „Dann ist die Karawane gekommen, ja?"

    „Jalaluddin ist da." Er drehte sich um und ging.

    Sanaubar wunderte sich zwar, dass er so bedrückt erschien, doch lief sie los, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Auf dem Weg summte sie eine alte Hazara-Weise über Tulpenfelder vor sich hin, eine afghanische Melodie, die immer dann in ihrem inneren Ohr aufklang, wenn sie an ihre Liebsten dachte – Khaled und Shanzai.

    Drei Dutzend Häuser, an den Rändern eines kleinen Plateaus verteilt, bildeten das Dorf Karambar. Ein wenig niedriger Wald stand ringsum, ein paar Flächen waren mit Büschen und Gestrüpp bewachsen, und dazu gehörten die liebevoll angelegten kleinen Felder mit Trockenreis, Gemüse, Erdnüssen, Minze und Kartoffeln, auf deren Gedeih und Ernte so wenig Verlass war wie auf ausreichend Wasser. Die Häuser verdienten ihren Namen kaum, es waren meist recht primitive Hütten aus gebrannten Ziegeln, mit einem Lehm- und Strohgemenge beworfen. Die Lehmhütte, in der Sanaubar geboren war und ihr ganzes Leben gewohnt hatte, war spärlich eingerichtet, aber sauber, beleuchtet von zwei Petroleumlampen. Es gab ein unteres Stockwerk für die Männer, ein oberes für die Frauen. Matratzen oder Matten lagen an allen Seiten der Räume, dazwischen abgetretene Herati-Teppiche mit ausgefransten Rändern, in je zwei gegenüberliegenden Ecken standen dreibeinige Stühle und kleine Holztische. Die Wände waren nackt bis auf ein angenageltes Regalbrett und einen Wandteppich. Der im Frauenstockwerk hatte eingenähte Perlen, die die Worte Allah-u-akbar formten, ein saughat, ein Souvenir von einer Auslandsreise des Hausherrn. Ein paar Töpfe und Pfannen hingen oben an Pfosten, ein Bild des Präsidenten, es fanden sich gewebte Matten und allerlei selbstgefertigte Gebrauchsgegenstände. Sogar ein batteriebetriebener chinesischer Schwarzweißfernseher war vorhanden, noch aus der Zeit, als die Fremden brauchbare Dinge gebracht hatten, oder aus Cola-Büchsen gefertigte Trinkgefäße, und Salzbehälter, die ursprünglich Konservendosen gewesen waren. In dieser kleinen Hütte war Sanaubar an einem feuchtkalten Wintertag Ende der Neunzehnhundertachtziger Jahre zur Welt gekommen und ihre Mutter kurz nach der Geburt verblutet.

    Verfolgte man die Geschichte Karambars bis zu ihrem Anfang zurück, fand man den Namen dieser Ortschaft schon um jene Zeit erwähnt, da es weit im Norden, in den Tälern jenseits des Oxus, den Mongolenheeren des Dschingis Khan gelang, neue Reiche zu erobern. Das war an die achthundert Jahre her. Von da an waren die Völker aus den von den Mongolen eroberten Gebieten südwestwärts geströmt, und sie zogen auch über die Berge durch das Gebiet um Karambar. Viele von denen, die heute in den großen Städten des Landes wohnten, die Staat und Wirtschaft verwalteten, waren Abkömmlinge dieser Zugewanderten.

    Jene, die immer in den Bergen gewohnt hatten, waren dort geblieben. Die Gründung des Reiches der Paschtunen hatten sie aus der Entfernung verfolgt. Gewiss, sie begrüßten es, dass Afghanistan, das „Land der Tartaren", erstarkte und dass es sich seiner Nachbarn erwehren konnte. Doch im Grunde veränderte das nicht ihr Leben. Zuweilen gab es Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen, die ebenfalls in den Bergen angesiedelt waren, den Shinwari etwa. Doch man einigte sich immer wieder. Es gab Zeiten, da leistete man sich sogar Beistand, wenn die Steuereintreiber aus dem Süden in die Berge kamen und allzuviel badraga, den erpressten Binnenzoll, forderten oder auch bei den Einmärschen fremder Truppen, gleich ob aus Großbritannien, Russland, den USA oder der EU.

    Für die Bewohner der großen Städte im Süden und Westen war die Hochgebirgsbevölkerung immer eine unbekannte Größe gewesen. Man war daran gewöhnt, dass aus ihrem Gebiet das Opium kam, jene aus dem Mohn gewonnene Droge, die in der Geschichte Asiens schon oft eine Rolle gespielt hatte. Die Bergbewohner selbst genossen sie bislang nur sparsam, sie kannten ihre Wirkung. Meist nahmen sie sie gegen Schmerzen, oder sie kauten die zähe, braune Masse gegen den Hunger. Die modernen Dealer, die Drogenbarone, hatten sich gemäß der ihnen eigenen Geschäftstüchtigkeit nach und nach in den Tälern der Berge angesiedelt und traten als Zwischenhändler auf. Hin und wieder gab es Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den lokalen Machthabern, den Großgrundbesitzern und den Kriegsherren oder War Lords, die selbst das Geschäft machen wollten. Der Mohn blühte dessen ungeachtet weiterhin in den Bergregionen, und der kalte Wind wog die Blumen wie sanfte Ozeane, während in den Kapseln der weiße Saft heranreifte, bis die farbigen Blütenblätter schließlich abfielen und die Dorfleute mit ihren kleinen Messern kamen. Es gab in Afghanistan Millionäre, die ihren Reichtum einzig dem Opium verdankten. Von den Bergbewohnern indes wurde niemand reich. Selbst ein bescheidener Wohlstand blieb aus. Man fristete sein Leben, das war alles.

    Nun hatten die Fremden, voran die US-Amerikaner, die Kabuls Marionettenregierung ins Land gerufen hatten, den Drogengeschäften freien Lauf gelassen. Uniformierte, die mit Flugzeugen kamen, verdrängten die afghanischen Aufkäufer auf die Balkan- und die Russlandroute, teils mit Gewalt, teils mit besseren Preisen. Sie wollten nicht nur ein bisschen von der braunen Substanz kaufen, die durch komplizierte Destillationsprozesse in Heroin verwandelt werden konnte – sie wollten möglichst ganze Ernten. Und sie wandteen seltsame Mittel an, um ans Ziel zu gelangen. Sie bestachen, sie täuschten, sie überredeten, sie zwangen. Afghanistans Regierung, die auf ihrem Territorium ein halbes Dutzend Luftstützpunkte der Vereinigten Staaten hatte errichten lassen, duldete sie stillschweigend. In vielen Fällen machte sie sich zum Helfer der US-Amerikaner. Der Unmut darüber wuchs. Doch Amerikas Abgesandte verfügten in diesem Lande über so viel Macht, dass sie den Unmut nicht zu fürchten brauchten, jedenfalls nicht im Augenblick.

    3

    Jalaluddin, der alte Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und dem eisgrauen, borstigen Haar, hockte auf dem Eisenholzstamm vor seiner Behausung in Karambar. Er war müde von dem langen Weg durch die Berge. Viele Tage war er, von zwei Männern begleitet, mit den Tragtieren hierher unterwegs gewesen. Er hatte in Faïzabad so lange gewartet, bis er eingesehen hatte, dass sich nichts mehr hatte ändern lassen. Nun grübelte er, wie das zu erklären sei, was sich da abgespielt hatte. Über dem Dorfplatz lag bereits Schatten. Der Sonnenball war hinter den Bergkuppen untergetaucht. Im Dorf herrschte Stille. Nur ein paar Hühner gackerten schläfrig, und aus dem Sträucherstreifen, der das Dorf säumte, kamen vereinzelte Vogelrufe. Kein Rauch von Kochfeuern lag in der Luft und nicht der Duft des Tabaks, den der Nachbar rauchte. Nur ein paar alte oder kranke Leute waren zuhause geblieben, die anderen waren auf den Feldern. Das Geplärr der Kinder fehlte.

    Sanaubar winkte Jalaluddin, der in Gedanken versunken auf dem Baumstamm saß, schon von weitem zu. Sie war außer Atem, denn fast den ganzen Weg vom Feld ins Dorf war sie gelaufen, nun ließ sie sich mit hart klopfendem Herzen neben dem Alten auf den Stamm sinken.

    „Jalaluddin, was ist denn?" fragte sie besorgt.

    Er sah sie an und blickte dann über sie hinweg auf die Berge. Es dauerte lange, bis er das erste Wort sprach.

    „Sie haben Mir Khaibar verhaftet."

    „Verhaftet? Wer? Und warum?"

    Immer noch über den Sinn der Vorgänge sinnierend, berichtete er: „Mir Khaibar hat mit dem Händler gesprochen und ist dann zurückgekommen. Damit wir mit den Packtieren nicht durch die Stadt mussten, hat uns der Händler eins von den kleinen japanischen Dreiradautos geschickt. Wir haben alles aufgeladen, und Mir Khaibar war mitgefahren, um den Handel abzuwickeln. Ich habe mir ein wenig Faïzabad angesehen. Ich war lange nicht in der Stadt. Am späten Abend war Mir Khaibar immer noch nicht zurück. Da bin ich zu dem Händler in Chakir gegangen. Der hat es mir erzählt. Die Polizei ist gekommen, als Mir Khaibar dabei war, die Säcke abzuladen. Polizisten aus Faïzabad. Sie haben ihn mitgenommen und die Fracht."

    Das Mädchen starrte ihn an. Jalaluddin nickte müde. „Und sie haben nichts weiter gesagt, qariadar?"

    „Gesagt haben sie, dass sie ihn wegen unerlaubtem Verkauf von Rohopium mitnehmen."

    „Dem Händler haben sie nichts getan?"

    „Nein. Er hat noch erwähnt, dass es das erste Mal war seit langer Zeit, dass so etwas geschah. Überall wird gelegentlich Opium angeboten, meistens kleinere Mengen, aber die Polizei hat sich sonst nie darum gekümmert."

    „Weißt du, wohin sie ihn gebracht haben?"

    „Ins Stadtgefängnis. Ich war dort, aber man ließ mich nicht zu ihm. Ich bin auch zu einem Anwalt gegangen. Der Händler hat es mir geraten. Der Anwalt hat mit den Beamten im Gefängnis gesprochen. Und die haben ihm gesagt, er soll sich die Mühe sparen. Mir Khaibar wurde zur weiteren Untersuchung des Falles nach Kabul gebracht. Wenn er einen Beistand braucht, wird er ihn dort bekommen."

    Jalaluddin hob die Hände und drehte die Handflächen nach oben, raue, rissige Handflächen. Eindringlich sah er Sanaubar an und schloss bedrückt: „So bin ich heimgekommen. Kein Geld, nicht einen einzigen Afghani. Das Opium ist verloren, und niemand weiß, was aus Mir Khaibar wird."

    Eine Weile saßen sie nebeneinander und überlegten. Was da geschehen war, konnten sie sich nicht erklären. Gewiss, es gab das Verbot des Opiumhandels. Doch warum musste Mir Khaibar der erste sein, auf den es angewandt wurde? Und warum sollte er nach Kabul gebracht werden?

    Sanaubar entschied schließlich: „Wir müssen etwas unternehmen. Ich werde meiner Khala schreiben. Vielleicht wird sie herausfinden, wie wir Mir Khaibar helfen können."

    Jalaluddin äußerte zögernd: „Du willst dich an Shalla wenden? Aber – vielleicht ist es ihr nicht recht?"

    „Sie wird uns helfen."

    Shalla war die jüngste Schwester ihres früh verstorbenen Vaters. Ihr Leben war ein wenig seltsam verlaufen, Sanaubar wusste nicht viel darüber. Sie hatte ihre Tante ein einziges Mal gesehen, vor einigen Jahren, als Shalla in Begleitung ihres Mannes für einige Tage in das Dorf gekommen war. Und es war wohl der Mann, der Jalaluddin zweifeln ließ. Shalla war mit einem Kanadier verheiratet, der sich vor annähernd dreißig Jahren in Afghanistan niedergelassen hatte. Es hieß, sie habe diesem Kanadier, als sie selbst noch ein Kind gewesen war, das Leben gerettet, damals, während des schlimmen Krieges gegen die Russen. Doch die Einzelheiten dieser Geschichte kannte Sanaubar nicht. Jalaluddin gab vor, sie auch nicht genau zu kennen. Sanaubar erinnerte sich nur daran, dass Shalla ihr Hilfe versprochen hatte, für den Fall, dass sie sie einmal brauchen sollte. „Wir sind ziemlich wohlhabend, hatte sie gesagt. „Wir haben keine Kinder. Wenn du in Not kommst, erinnere dich an uns.

    Sanaubar hatte von Khaled erfahren, dass er die Verwandten gelegentlich besuchte. Schließlich verdankte er ihnen die Vermittlung seines Studienplatzes.

    „Ich werde sofort schreiben", erklärte das Mädchen. Sie lief zum Haus, um Papier und einen Stift aus einem Kampferholzkasten zu holen.

    In der Hütte angekommen sah sie zuerst nach Shanzai, einem versehrten jugendlichen Mädchen, das bei einem Selbstmordattentat auf dem Bazar in Faïzabad ihre gesamte Familie sowie sämtliche Gliedmaßen eingebüßt hatte außer dem rechten Bein. Geschehen damals, kurz vor der „Zeit der dunklen Bärte", als die Bürgerkriegsparteien des Golbud-Din Hekmatyar und des Ahmad Schah Massoud sich bis aufs Blut zerfleischt hatten.

    Shanzai hatte selbst keine Erinnerung daran; sie war noch zu klein gewesen, und eine schwere Gehirnerschütterung hatte wohl auch vorlegen. Gelegentlich veranlasste sie Sanaubar, ihr den Hergang zu erzählen. Es war an einem heißen Sommertag gewesen. Kinder waren auf dem Nachhauseweg von der Schule. Kurz bevor sie den Rand des Bazars erreichten, geschah es. Eine gewaltige Detonation. Ein infames Selbstmordattentat, wie sich rasch herausstellte. Die Eltern, als man ihnen die schreckenerregende Nachricht brachte, eilten herbei, irrten hysterisch kreischend am Unglücksort herum, eine Mutter sammelte Teile ihres Sohnes in ihre Schürze ein, Shanzais Kaka Noor, der Bruder ihrer Mutter, barg von seiner Nichte, was übrig geblieben war, die Verwandten fanden erst Tage oder Wochen später von ihrer geliebten Angehörigen einen Arm, einen Ellbogen, eine Hand und das Bein, dessen Fuß noch in Strumpf und Schuh steckte und bereits in Verwesung übergegangen war, auf dem Dach eines der umstehenden Häuser. Shanzai konnte schwerversehrt gerettet werden. An den schmerzhaften, langwierigen Prozess der Genesung hatte sie nur schemenhafte Erinnerungen – bruchstückhaft wie das, was das Leben von ihr übriggelassen hatte.

    „Hallo, Sanaubar jo, grüßte Shanzai, während sie der Freundin auf ihrem einen Bein entgegenhüpfte mit der geschmeidigen Anmut eines jungen Kängurus. „Ist etwas Schlimmes passiert?

    Sanaubar antwortete ausweichend. „Es sind schlimme Zeiten, Shanzai jo."

    „Auf Sonnenglut folgt Regenguss", sagte Shanzai.

    „Es war etwas Schlimmeres als schlechtes Wetter."

    „Es gibt gar kein schlechtes Wetter. Das sagt auch Khaled jo. Es gibt nur nützlicheres und schädlicheres Wetter."

    „Ach, Shanzai jo, zurzeit scheint sich alles zum Schlechteren zu wenden."

    „Es kommen auch wieder gute Zeiten", sagte Shanzai. Sie stand still mit erhobenen Haupt und der stromlinienförmigen Grazie eines Flamingos, die Sanaubar lächeln ließ.

    Nachdem Sanaubar ihrem Pflegling die hijab auf ihrem pechschwarzen Haar gerichtet und sie mit dünnem chai versorgt hatte, kehrte sie mit den Schreibutensilien zu Jalaluddin zurück und ließ sich wieder auf dem Stamm nieder. Sie musste bei jedem Wort nachdenken, denn sie schrieb nicht oft. Gelernt hatte sie es von einem ehemaligen Soldaten, der ins Dorf zurückgekehrt war. Man hatte ihm bei der Armee Lesen und Schreiben beigebracht, und er hatte seine Kenntnisse an einige jüngere Leute im Dorf weitergegeben. Jalaluddin sah dem Mädchen zu, wie es das Papier mit den seltsam verschlungenen Linien der Dari-Schrift füllte. Als sie endlich fertig war, brach die Nacht herein.

    „Ich bringe den Brief morgen nach Shari-i-Buzurg, sagte Sanaubar. „Wenn ich zeitig genug aufbreche, kann ich vor Nachteinbruch dort sein. Am nächsten Abend bin ich zurück.

    Jalaluddin nickte nur, obwohl er sie nicht gern allein den fünfzig Kilometer weiten Weg durch die Berge machen ließ. Von Shari-i-Buzurg, der nächsten Poststation aus, würde der Brief mindestens noch eine Woche bis Kabul brauchen. Was mochte bis dahin aus Mir Khaibar geworden sein?

    Während es dunkelte, kochte Sanaubar eine bescheidene Reismahlzeit. Irgendwo wurden shahnai-Flöten geblasen und dohol-Trommeln geschlagen. Jalaluddin dachte daran, dass er am frühen Morgen auf die Mohnfelder hinausgehen musste. Bei dem beschlagnahmten Opium hatte es sich um Gemeinschaftseigentum gehandelt. Wie sollte er nur den Dorfbewohnern den Verlust beibringen? Der Alte strich unruhig durch den großen Raum des Lehmhauses. Er fasste hier einen Kochtopf an und dort eine Matte, stand herum, ein wenig ratlos, bis Sanaubar zu ihm trat und ihn aufforderte: „Leg dich schlafen, Jalaluddin. Es wird alles gut werden. Mach dir jetzt keine Gedanken mehr."

    Sie selbst verließ noch einmal das Haus und lief zur Wasserstelle. Aus den Bergen sickerte ein Rinnsal bis in die Nähe des Dorfes, wo die Bewohner einen Schacht angelegt hatten, in dem sie es auffingen. Sanaubar schöpfte mehrere Eimer voll und trug sie in das Badehaus. Es diente allen. Heute aber war niemand da außer Sanaubar. Sie warf das verblichene Kleid ab, dessen einst tiefblaue Farbe die Sonne in ein schmutziges Grau verwandelt hatte. Dann ließ sie sich das Wasser aus den Eimern über den Körper laufen. Sie griff in den Haufen feinen Sandes, der im Badehaus lag, und rieb damit die Haut. Seife gab es nicht, sie war teuer, und man musste sie aus Faïzabad holen. Darum begnügte man sich mit dem Sand aus den Bergen.

    Als Sanaubar ins Lehmhaus zurückkehrte, saß Jalaluddin immer noch auf seiner Matte, die Gedanken an Mir Khaibar plagten ihn. Doch er dachte auch daran, dass es heute eigentlich ein kleines Fest hatte geben sollen. Wäre das Missgeschick in Faïzabad nicht passiert, hätte man heute qurma gegessen, Steckrüben auf Reis, oder sogar naan-Brote aus dem tandoor-Ofen mit turkmenischen Kebab aus Hammelfleischstückchen, das Jalaluddin aus Faïzabad hatte mitbringen wollen. So aber hieß es, auf all das zu verzichten, denn das Opium war verloren, und sie hatten kein Geld, um Nahrung zu kaufen.

    Nachdem Sanaubar Shanzai mit Reis versorgt, zu Bett gebracht und zugedeckt hatte, löschte sie die Öllampe und legte sich auf ihr Mattenlager. Sie behielt das Kleid an; das war so üblich, denn die Nächte in den Bergen waren stets empfindlich kühl, doch wiederum nicht kühl genug um diese Jahreszeit, dass man sich unter die schwere Decke aus Yakfell hätte verkriechen wollen, die man höchstens während der frühen Morgenstunden zu er tragen vermochte.

    „Schlaf gut, Sanaubar jo, wünschte Shanzai. „Du hast heute wahrlich genug getan.

    „Du auch", gab Sanaubar zurück.

    Die junge Frau hörte noch, wie Jalaluddin unten mehrmals aufstand und im Raum umherging, ohne

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