SCHNELL, ERBARMUNGSLOS, RELATIV: DIE ZEIT: Ein idealer Ansatzpunkt wechselseitiger Verunsicherung
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Buchvorschau
SCHNELL, ERBARMUNGSLOS, RELATIV - Dominic D. Kaltenbach
Wie spät ist es?
Einem Sprichwort zufolge heilt die Zeit alle Wunden. Wesentlich effektiver scheint sie sich jedoch als Waffe einsetzen zu lassen:
Auf dem Feld der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit „Zeit" konnten immer wieder große Fortschritte verzeichnet werden. Der diesbezügliche Erkenntnisgewinn bezieht sich allerdings nicht unbedingt auf die Erhellung dessen, was dieses allgegenwärtige Etwas eigentlich ist. Jahrtausende geistiger Höchstleistung verlangen vor allem die Korrektur der vermeintlichen Gewissheit, wer in seinem Verhalten zeitliche Aspekte berücksichtigt. Der philosophierende Mensch muss zähneknirschend zur Kenntnis nehmen, dass die simpel gestrickten hominiden Vorfahren keine Gefangenen des Augenblicks waren. Offensichtlich beschränken sich nicht einmal die weniger auserwählten Säugetiere auf ein zeitlos stupides Zähnefletschen.
Erleichternderweise scheinen sich zumindest die inhaltlichen Überraschungen bei diesem Thema in Grenzen zu halten. Bis heute bemühen wissenschaftliche Abhandlungen zu Beginn gerne die ergebnisoffene Feststellung des heiligen Augustinus (354 bis 430). Demnach weiß natürlich jeder ohne Weiteres, was „Zeit ist. Dieses Wissen hält jedoch immer nur solange an, bis es einem Gegenüber vermittelt werden soll. Auf dieser entschuldigenden Basis kann sich jeder einigermaßen Vernunftbegabte, der zudem große Stücke auf sich hält, gefahrlos an der klärenden Aufgabenstellung versuchen. Auf welches Schlachtfeld man sich dabei allerdings begibt, zeigt sich bereits vor einer ersten Konkretisierung. Mit freien Assoziationen zur „Zeit
disqualifiziert sich der naive Erklärer im Handumdrehen nämlich selbst: Thema verfehlt! Von den natürlichen Kreisläufen bis zur Uhr - mit diesen sichtbaren Interpretationen kratzt man nicht einmal an der Oberfläche der „Zeit". Selbst die grundsätzlich bewährte Vorgehensweise, das Objekt des Interesses einfach zu zerlegen, führt auf den ersten Blick zu unlösbaren Widersprüchen. Mit selbigen kennt sich die Philosophie zwar bestens aus, sein oder nicht-sein ändert schließlich an einer Sache selbst nichts. Die sich zunehmend naturwissenschaftlich bahnbrechende zeitliche Realität bleibt der einst höchsten und umfassendsten wissenschaftlichen Disziplin allerdings suspekt. Einem allgemeinen Zeitverständnis noch nicht sehr viel näher gekommen, stieß die Forschungselite an diesem Punkt zumindest auf den elementaren Fehler der Vergangenheit: Geistes- und Naturwissenschaften haben keine gemeinsame Zukunft.
Die Welt der harten Fakten ist jedoch ebenfalls nicht frei von Tücken. Kaum zeichnete sich die wissenschaftliche Vormachtstellung ab, gerieten auch die Physiker untereinander in einen heftigen Streit. Die zutage tretenden Unvereinbarkeiten ließen sogar das zeitliche Ende der Naturwissenschaft befürchten. Man bezichtigte sich wechselseitig, den Pfad der Redlichkeit verlassen zu haben und Philosophie zu betreiben. Bevor jedoch eine Einigung darüber erzielt werden konnte, ob die Zeit beim Untergang den gänzlich unabhängigen Rahmen bildet, nur bei genauerem Hinsehen irgendeine Form annimmt oder, untrennbar mit dem Raum verbunden, grundsätzlich als Akteurin auftritt, überschlugen sich die Ereignisse. Die einzige ernstzunehmende Wissenschaft experimentierte die Menschheit in eine unvorstellbare Welt objektiver Tatsachen, die weit jenseits der intuitiv nachvollziehbaren Wirklichkeit der Philosophen liegt. Was die Naturwissenschaftler in diesem Zusammenhang Faszinierendes beschreiben, übersteigt regelmäßig nicht nur das Vorstellungsvermögen der Laien. Immerhin geht es hier um die Möglichkeiten, nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit zu bereisen. Salomonisch finden zwischenzeitlich zwar alle nachgewiesenen physikalischen Vorgänge ihren theoretischen Platz, das letzte verbindende Glied ist allerdings noch zu finden.
Auf diesen Knackpunkt sind die Sozialwissenschaften allerdings schon wesentlich länger gestoßen. Wer oder was ist in der Lage, alles zusammenzuhalten? Der Tod hat auf den ersten Blick keine schlechten Karten, sich als Gebieter des Zeitlichen zu erweisen. Stellungsunabhänig läuft alles Lebendige unweigerlich auf sein erlösendes Erscheinen zu. Die Krone der Schöpfung gibt sich hier allerdings ebenfalls nicht kampflos geschlagen. Die Unterjochung der natürlichen Rhythmen reicht zwischenzeitlich sogar bis zur chirurgischen Sanierung der Spuren, die der Kreislauf des Lebens hinterlässt. Gestalterisch gilt es aus der Zeit herauszuholen, was die wissenschaftlich fundierte Taktung hergibt. Den Fleißigen gehört schließlich der Tag. Naturbelassen ist allenfalls das Vorrecht auserwählter gesellschaftlicher Schichten, über den Orientierungsschwerpunkt auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zu befinden. Noch deutlicher kommt diese auf Tüchtigkeit basierende kosmologische Ordnung im kulturellen Vergleich zum Vorschein. Die regionale Zuordnung der größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte zeigt deutlich Richtung Westen. Selbstverständlich können die Naturwissenschaften mit ihrem simplen Forschungsgegenstand die Einflussfaktoren klarer abgrenzen. Das gesellschaftstheoretische Wirrwarr, das nicht nur die Brillanz der Industriestaaten, sondern gleich die komplette Zukunft in Frage stellt, riecht jedoch verdächtig nach machtpolitischen Interessen. Allerdings konnte wirklich niemand vorhersehen, dass in diesem sauren Milieu vor allem die Schwammigkeit ihre Blüten austreibt.
Seither gibt es nur noch eine einzige zeitliche Gewissheit - die ganze Welt wird immer schneller. Was gerade noch richtig war, kann zwischenzeitlich schon überholt sein. Das Risiko der Gestrigkeit treibt die Menschen mit rasantem Tempo vor sich her. Eine verpasste Trendwende und schon folgt das Outing als jemand, der man gar nicht ist - einer der „Alten". In der Arbeitswelt sollten flache Hierarchien den Schatz der ausführenden Erfahrung und die Risikobereitschaft der Führungsebene glorreich zusammenbringen. Die heutige Unsicherheit verbindet stattdessen alle in einer gestressten Schicksalsgemeinschaft. Wer 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche auf den Weltmarkt ausgerichtet ist, kann nicht einmal mehr zwischen Arbeitsplatz und Zuhause unterscheiden. Nur Zyniker wenden hier ein, dass sich der Orientierungslose während der Arbeitszeit auch als Privatkunde auf dem Weltmarkt tummelt. Diese Spötter erkennen wahrscheinlich auch nicht, dass die inoffiziellen digitalen Schwätzchen zwischendurch zur motivierenden Teamentwicklung gehören. Wer sich dann allerdings auch noch darüber wundert, warum die Kollegen dieses zeitraubende Verhalten billigen, hat offensichtlich das Ausmaß des Zeitenwandels nicht begriffen.
Das Paradies der Möglichkeiten zeigt jetzt seine dunkle Fratze. Es gibt unendlich Vieles, was begonnen werden muss. In die Vollendung sollte allerdings nicht all zu viel Engagement investiert werden. Die Wahrscheinlichkeit ist viel zu groß, dass alles auf einer Fehlentscheidung beruht. Den allgegenwärtigen Kommentatoren entgeht nicht der kleinste Ansatz von Lebenszeitverschwendung. Solange jedoch nicht für jedermann erkennbar ist, was diese schon auf den ersten Blick sehen, legt man sich sicherheitshalber vielleicht besser gar nicht fest und bleibt damit immerhin flexibel.
Wer seine Kinder auf diesen unerbittlichen Kampf vorbereiten will, hat keine Zeit zu verlieren. Sprachkompetenzen, künstlerische Fähigkeiten, körperliche Fitness, Durchsetzungsvermögen, pharmazeutische Grundlagen - was bis zur Einschulung nicht sitzt, bleibt für immer und ewig unerreichbar. Nebenbei lernen die Kinder, mit Hindernissen umzugehen: Entweder findet der Facharzt die zugrunde liegende körperliche Benachteiligung, deren Berücksichtigung der Anstand gebietet, oder der Rechtsanwalt macht geltend, dass die gesamte Aufgabenstellung gegen die Menschenrechte verstößt.
Völlig erschöpft wünschen sich alle endlich einmal Ruhe. Sie sehnen sich in die Zeit zurück, als die Uhr ihren Vernichtungszug gegen die Langsamkeit noch nicht begonnen hatte. Damals war das beschauliche Leben noch von der Tugend der Geduld getragen und bei niemandem stieg die Herzfrequenz und der Blutdruck an, nur weil innerhalb einer Viertelstunde einmal nichts geschah. Dieser wunderschöne Traum übersieht natürlich, wer hätte es anders erwartet, dass der damalige Alltag von Hunger, Krankheit, Tod und Teufel geprägt war. Vor gerade einmal einhundert Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland 15 Jahre unterhalb des Renteneintrittsalters. Nunmehr liegt sie, dank der Beibehaltung der identischen Haltbarkeitserwartung, erfreulicherweise darüber. Es gibt augenscheinlich eben nichts, was der Mensch seit seinem irdischen Auftreten nicht gesteigert hätte und doch hat er heute von allem zu wenig. Nur eine zeigt sich von dem Gehetze und den effizienzgetriebenen Zerstückelungen völlig unbeeindruckt: die Zeit selbst! Es wird also allerhöchste derselben, dieses Durcheinander zu ordnen.
Es wird Zeit!
Wenn Ordnung in einen Sachverhalt zu bringen ist, gibt es kein geeigneteres Instrument als die Zeit. Bei aller nervenaufreibenden Schwammigkeit unserer Tage verkörpert sie Verbindlichkeit. Kein noch so individualisierter Freigeist kann sich ihrer unumstößlichen Aneinanderreihung wohldefinierter Abschnitte entziehen. Mit der Zeit im Anschlag bleibt jedem einzelnen Menschen mit all seiner Subjektivität nichts anderes übrig, als sich auf die urmenschliche und damit brillante Fähigkeit zur Objektivität zu besinnen. Anhand des chronologischen Ablaufs lässt sich eindeutig erkennen, welcher Aspekt ursächlich zu welchen Folgen geführt haben muss.
Dieses wohlgeordnete und stabile Nacheinander hat jedoch bereits auf den zweiten Blick einen entscheidenden, Streit erzeugenden Haken - Vergänglichkeit. Während Erzkonservative in der Veränderung die Rückgratlosigkeit ihrer Zeitgenossen erkennen, sehen diese, mit Berufung auf Heraklit (ca. 550 v. Chr. bis 480 v. Chr.), in selbiger nichts anderes als die objektive Schönheit der Welt. Letztere bereitete allerdings bereits dem herangezogenen antiken Philosophen Kopfzerbrechen. Trotz tagtäglicher Konfrontation ist der Mensch in seiner einschränkenden Oberflächlichkeit offensichtlich nicht in der Lage, die göttlich harmonische Ordnung der Dinge zu erkennen. Nach 2500 Jahren Fließen kommt die Krone der Schöpfung nach aktuellstem Stand der Realitätsforschung nunmehr zu dem Ergebnis, dass es die über jeden Zweifel erhabene, objektive, wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit gar nicht geben kann. In jedes wirklichkeitsorientierte Erkennen hat sich vorab bereits der „Zeitgeist" eingeschlichen. Dabei handelt es sich um ein übernatürliches Wesen mit zwei konfliktträchtigen Gesichtern. Auf der einen Seite verführt es den Avantgardisten in Gestalt eines Propheten des Neuen. Auf der anderen Seite bestätigt dieser Dämon die Masse in ihren alten Denkgewohnheiten. Die individuelle Fähigkeit, Vergangenes und Zukünftiges zu ordnen, kann sich diesem Einfluss des mitmenschlichen Umfeldes und des jeweiligen Lebensalters einfach nicht entziehen. Wer von sich behauptet, objektiv zu sein, setzt sich folglich dem Verdacht aus, in einem bildungsfernen Milieu einen ausgeprägten Altersstarrsinn entwickelt zu haben.
Zweifelsfrei muss es doch einmal eine Zeit gegeben haben, in der der Mensch im Paradies des „Hier und „Jetzt
leben durfte. Die naturgegebene Praxis dessen, was der heutigen Beratungsliteratur als Idealbild fern von Stress und Zeitdruck vorschwebt. Eine Welt, in der Ursache und Wirkung eindeutig und unmittelbar erkennbar sind. Eine Art Urzeit der Zeit, wie sie von der Phänomenologie als „primitive Gegenwart beschrieben wird. Geprägt durch ein unspektakuläres „Dahinwähren
, zählt in selbiger einzig der ewige Moment. Nur hin und wieder bricht plötzlich und aus heiterem Himmel etwas Neues in diese ruhige Phase hinein und sichert damit den gemächlichen Fortgang. Dieser beschränkt sich auf das schlichte Verabschieden des Bisherigen in die Vergangenheit, weil das Frische fortan den Platz des Gegenwärtigen einnimmt. Für optimierendes Planen und folgenschweres Grübeln ist hier kein Raum vorgesehen.
Vor dem geistigen Auge erscheinen damit unweigerlich die Urahnen aus dem Neandertal. Diese waren gezwungenermaßen mit nichts anderem als der buchstäblichen Wirklichkeit konfrontiert. Die theoretische Frage, ob eine sinnlich wahrgenommene Gefahr tatsächlich existiert, stellte sich praktisch nicht. Entweder dümpelte man weiter oder wurde in die Vergangenheit gerissen. Zum endgültigen Verhängnis soll dem Homo sapiens neanderthalensis unerwarteterweise ein Klimawandel geworden sein. Zu dieser Zeit lebte er bereits in direkter Konkurrenz mit dem intelligenteren Homo sapiens sapiens. Ob der Unterschied zwischen kurzfristigem Wetter und langfristigem