Die Frau aus einem Guss
Von Martha Neuer
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Über dieses E-Book
Muskeln und Sehnen. Sie kann sich nicht erklären, warum.
Wie kann der Arzt behaupten, schwere Depressionen seien
die Ursache?
Als Rechtsanwältin führt sie doch eine eigene Kanzlei.
Außerdem besucht sie regelmäßig ihre pflegebedürftige
Mutter.
Alwina beschließt, ihre Lebenslust zu suchen und begibt
sich auf eine lange Reise zu sich selbst. Dabei macht sie
eine unerwartete und sehr schöne Entdeckung …
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Buchvorschau
Die Frau aus einem Guss - Martha Neuer
Die Kommunion
1971 – 1974
A-b-g-e-t-r-i-e-b-e-n? buchstabierte Alwina. Ab-ge- trie-ben? Abgetrieben?! Was sollte das heißen? Da waren viele Frauen auf dem Titelblatt des Sterns: Die eine blond, die andere braun, eine hatte ein ganz schmales Gesicht, die nächste Pausbacken und die übernächste Pickel ... Aber alle guckten Alwina fest in die Augen! Was hatten sie getan? Alwina fing an, mit dem Zeigefinger ihre langen nassen Haare einzudrehen. Gleichzeitig wühlte sie mit den Zehen im Sand und ließ die Sandkörner durch ihre Zehenzwischenräume wieder auf den Strand rieseln.
Sie drehte ihre Haare immer schneller ein. Die Zehen ließ sie jetzt tief in den Sand eintauchen. Unter der Oberfläche fühlte sich der Sand feucht und kühl an. Was auch immer es heißen sollte, es war verboten! Da war Alwina sich sicher. Verbotener als die Küsse, die ihr älterer Bruder seiner Freundin gab. Manchmal standen die beiden voreinander an die Hauswand gelehnt und knutschten. Alwina schrie dann laut: „Ih, die küssen sich!", rannte ein Stück die Straße hinunter, drehte sich nochmal um, warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals. Der Bruder lachte auch.
Sie war zum ersten Mal am Meer. Vor der Abreise hatte sie vor Aufregung drei Nächte nicht richtig geschlafen. Dann hatte sie sehr frühmorgens in Lünen vor dem Auto gestanden und war von einem Bein auf das andere gehüpft, bis die Mutter sie auf die Rückbank gescheucht hatte. Am Vormittag war die Familie in Hohwacht angekommen. Der Vater hatte kurz am Strand gehalten, bevor es zur Unterkunft weiterging.
Da lag sie: die Ostsee. Still, graublau und weit. Alwina blieb einen Moment stehen, bewegte sich nicht und schaute auf die Ebene aus Wasser. Sie sog den Geruch nach Tang und Salz tief in die Nase ein. Es ging kein Hauch. Die Luft war schwer, feucht und heiß. Von einem Moment auf den anderen fiel die Spannung von ihr ab, sie schüttelte sich. Alwina rannte los, den Strand entlang, bis sie sich schließlich keuchend in den Sand warf und nach Luft schnappte. Es war der erste Familienurlaub. Der Vater betonte immer wieder, welch Geschenk das für die Familie war.
Alwina starrte weiter auf das Titelblatt des Sterns. Die Frauen darauf starrten zurück. Die sind so mutig! Bestimmt! Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an ihr Abenteuer mit Peter.
„Ich kann dir richtige Tropfsteine zeigen, wie in der Dechenhöhle!", hatte er behauptet. Schließlich waren sie in die Kanalisation eingestiegen. Als Alwina die Steigleiter hinunter kletterte, stieg ihr ein feucht modriger Geruch in die Nase. Die einzelnen Sprossen waren glitschig. Vorsichtig tasteten sie sich von Sprosse zu Sprosse abwärts, wobei Alwina sich jedes Mal an der oberen Sprosse festkrallte. Unten angekommen konnte sie die Hand vor Augen nicht sehen. Ein leichter Luftzug ging. Überall hörte man Plätschern und Tropfen im Wasser. Es pfiff und quiekte. Sind das Ratten? Alwinas Herz klopfte. Plötzlich sah sie einen Lichtkegel die Rohrwände rauf- und runterjagen.
„Peter, bist du das?"
„Ja", kam es dumpf zurück.
„Guck mal da!"
Alwina folgte dem Lichtstrahl. Tatsächlich! Oben von der feuchten Decke wuchsen weißlich-gelbe Tropfsteine nach unten. Auch an den Nähten des Rohrs bildete sich ein Belag aus Tropfsteinen. Peter hatte nicht gelogen. Sonst wollte Alwina nichts von Jungen wissen.
„Die sind doch doof, wollen immer nur Fußball spielen, dir an den Haaren ziehen und deinen Rock hochheben!"
„Mir hat Peter ins Poesiealbum geschrieben Bleibe lustig, bleibe froh wie der Mops im Paletot. Unsere Freundschaft endet nicht, eh der Mops Französisch spricht!" Alwina traute ihren Ohren nicht, so ein Kinderkram gefiel Rita?
„Der Spruch ist doch so alt wie meine Omma!"
„Ich finde ihn töfte. Ich habe Peter hinten am Toilettenhäuschen auch schon Küsschen gegeben." Wie ein Blitz durchfuhr es Alwina. Rita schielte sie mit großen runden Augen durch ihre dicken Brillengläser an.
„Das ist doch langweilig!" Alwina wurde heiß.
„Was ist denn mit dir los?", fragte Rita. Alwina rannte weg, Rita sollte nicht noch mehr Fragen stellen.
Ein paar Minuten später kam Peter über den Schulhof gelaufen, direkt auf Rita zu und zog sie fest an beiden Zöpfen. Rita weinte. Peter lief lachend weg: „Heulsuse, Heulsuse!" Alwina machte auf dem Absatz kehrt und setzte schnell hinter Peter her. Als sie auf seiner Höhe war, warf sie ihn mit einem Hechtsprung zu Boden. Sie drehte Peter schnell auf den Rücken, setzte sich auf seinen Bauch und drücke seine Oberarme rücklings nach oben auf den Asphalt. Einen Moment fixierte sie Peter mit den Augen.
„Mach das ja nicht nochmal, hörst du? Rita ist meine Freundin, du Blödmann!" Sie stand auf und rannte zu Rita zurück. Rita schniefte. Alwina legte den Arm um die schmalen Schultern der Freundin und pustete die Tränenreste vorsichtig weg.
Ihre Aufmerksamkeit kehrte an den Strand zurück. Was die Frauen auf dem Stern getan hatten war etwas anderes als Peter verhauen oder mit ihm in den Gully steigen. Alwina seufzte und blickte auf das Meer hinaus. Heute zeigte das Thermometer über dreißig Grad. Selbst im Liegen liefen ihr Schweißperlen über den Körper. Eine frische Brise schlug ihr entgegen. Alwinas Gesicht fühlte sich nun kühl an. Wenn sie groß wäre, wäre sie auch so mutig! Dann dürfte sie Rita streicheln und ihr Küsschen geben. Huch, was war das für ein Gedanke? Schnell blickte sie zur Mutter hinüber, die ein Stück weiter auf einer Luftmatratze in der Sonne lag.
Die Mutter schien zu dösen. Sie lag regungslos da unter ihrer Sonnenbrille. Puh, die hatte nichts gemerkt! Alwina kippte mit dem Kopf nach vorn. Ihre Stirn landete auf dem Stern, ihr Mund im Sand. Bah, der Sand schmeckte fad. Die Sandkörner rieben ihre Lippen auf und es knirschte zwischen den Zähnen. Alwina spuckte. Die Mutter träumte immer noch in der Sonne. G-o-t-t s-e-i D-a-n-k!
Die Mutter konnte so böse werden. Wie an dem Tag als Alwina sie gefragt hatte:
„Was ist Geschlechtsverkehr?"
„Woher kennst du dieses Wort?"
„Äh, weiß ich nicht mehr so genau." Alwina trat von einem Bein auf das andere.
„Lüg mich nicht an! Der Blick der Mutter hielt sie gefangen. Alwina musste ihr in die Augen sehen. „Hm, hab es irgendwo gehört!
„Fräuleinchen! Ich glaube dir kein Wort!" Klatsch und klatsch machten die Ohrfeigen. Alwinas Wangen brannten. Die Tränen standen ihr in den Augen. Jetzt nur nicht heulen! Schnell weglaufen! Schon beim ersten Schritt wurde Alwina unsanft von der Mutter am Arm gepackt und geschüttelt:
„Woher du dieses Wort kennst?"
„Äh, hm … habe es von Rita!"
„Die hat ja auch eine ältere Schwester! Nimm dich in Acht!" Es setzte Schläge.
Alwina duckte sich und versuchte ihren Kopf mit den Armen zu schützen, doch die Mutter war schneller und riss die Arme weg.
„Werd nicht frech!" Von einem Moment auf den anderen hörte die Mutter auf. Alwina verharrte.
„Du wirst nochmal anecken! Kannst du nicht einfach ein liebes Mädchen sein?", klagte die Mutter.
Bei der Erinnerung fröstelte Alwina. Schnell nahm sie das Handtuch, schlang es sich um die Schultern und setzte sich auf. Die Wellen hatten jetzt weiße Schaumkronen obenauf. Der Wind nahm zu. Nur das Rauschen des Meeres war zu hören. Ab und zu kreischte eine Möwe. Jetzt da draußen sein! Am Horizont zogen Schiffe vorbei. Mit der Stenaline nach Schweden fahren oder auf der Gorch Fock einfach dahin segeln! Abenteuer bestehen! Das wäre töfte!
„Das ist nichts für dich! Alwina schreckte hoch. Die Mutter stand hinter ihr und riss den Stern weg. Sie sah die Mutter an. Deren Mundwinkel zuckten. Seufzend stand Alwina auf und überließ der Mutter die Zeitung. Sie schlenderte auf die Brandung zu. „Sei nicht so waghalsig!
, tönte es ihr hinterher.
Am Wasser streckte Alwina zunächst einen Zeh hinein. Das Meer leckte an ihren Knöcheln. Sie kreischte, rannte lachend in die Wellen, spritzte mit den Armen. Als sie nicht mehr stehen konnte, begann Alwina zu schwimmen. Das Wasser war so stark. Es trug sie.
Ich schaffe das nie! Bäuchlings hatte Alwina auf dem Boden des Schwimmbades gelegen und den Geruch