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O.: Roman
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eBook296 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

In ihrem neuen Roman O. greift Sabine Scholl auf Homers Odyssee zurück und liefert eine neue Version des alten Epos aus moderner weiblicher Sicht.
Die Heldin des Romans, kurz O. genannt, ist Musikerin und Komponistin; gemeinsam mit ihren Gefährtinnen, einem Chor geflüchteter Frauen, bereist sie die Weltmeere.
In unterschiedliche Gegenden verschlagen, treffen sie auf Bruchstücke und Metamorphosen des homerischen Epos, der griechischen Mythologie und der Realität der gegenwärtigen Welt – immer auf der Suche nach einem Ziel, einem Hafen,
einer Hoffnung auf ein anderes, ein gutes Leben.
Wo Einwanderungs- und Migrationsgegner eine Apokalypse sehen wollen, nimmt Sabine Scholl den Beginn von etwas Neuem wahr. Ihre Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Migration greift die gegebenen Realitäten auf und verbindet die Schicksale moderner Frauengestalten mit den Elementen einer jahrtausendealten europäischen Tradition.
Eine utopische Imagination entsteht, die sich dem Leser als anthropologisches Maß unserer Tage erweist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Feb. 2020
ISBN9783966390231
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    Buchvorschau

    O. - Sabine Scholl

    DANKE

    PARADIESISCH

    O. keuchte. Die Bluse klebte ihr an der Haut. Als sie den Olivenbaum erreichte, auf dessen waagrecht gewachsenen Ast sie noch vor einer Stunde geruht und von dem sie hinunter aufs weinrote Meer geblickt hatte, wurde ihr klar, dass sie im Kreis gegangen war. Sie musste etwas ändern, wollte sie weiterkommen. Die Wasserfläche in der Ferne schimmerte nun nicht mehr verlockend. Die borstigen, kurzbeinigen Ziegen, die von den Büschen Blätter fraßen, waren O. inzwischen egal. Sie wischte sich über die Stirn. Obwohl die Sonne bereits tief über dem Horizont stand, war es immer noch heiß. Sie drehte ihre blauen Strähnen hoch und klemmte sie mit einer Spange zusammen. Dann fiel ihr eine Öffnung im Felsen auf, wo ein grüner Zweig wuchs. Die einzige Pflanze weit und breit, die nicht verdorrt und vom Staub graublau geworden war, sondern grün leuchtete.

    O. trat näher heran und untersuchte den dunklen Spalt, der die Größe eines menschlichen Körpers aufwies. Neugierig geworden, wollte sie das Innere der Höhle erkunden. Doch als sie sich vorsichtig hineinbeugte, flog ein Fliegenschwarm auf und ihr direkt ins Gesicht. Sie wich zurück. War der Spalt nichts weiter als ein Abort? Und deshalb die Fliegen? Dann aber wehte zitronige Kühle aus dem Dunkel und lockte ihren erhitzten Körper, machte ihr den Mund wässrig. Sie ging ein paar Schritte voran. Der Duft wurde intensiver. O. setzte ihre Stirnlampe auf, tastete sich vor. Feuchte Wände, leichte Rinnsale, Moder und Moos. Um ihre Angst zu bändigen und zu erfahren, wie tief der Raum sein mochte, begann O. zu singen, ein Kinderlied. Ein Vogel wollte Hochzeit machen in dem grünen Wa-halde … Sie ging weiter und erreichte bald schon eine Krümmung des unterirdischen Gangs, an dessen Ende ein schmaler Streifen Helligkeit aufleuchtete. O. erhöhte das Tempo und trat bald schon auf eine mit grünblättrigen Bäumen und Koniferen bewachsene Lichtung. Pappelweiden, Erlen, duftende Zypressen. Vögel zwitscherten, flogen von ihren Nestern auf, Häher und Möwen suchten nach Futter. Der Felswand entlang rankten sich mit Trauben behangene Weinstöcke. Vier Quellen entsprangen dem Stein. Sie befüllte die Trinkflasche, setzte sich in den Schatten. Ein sanfter Wind wehte. O. zog die Stiefel ab. Genoss die Ruhe. Keine Verstärker, kein Grölen. Beschloss hier zu übernachten. Falls ein Gewitter käme, könnte sie in die Höhle übersiedeln. Sie streckte sich aus. Das Gras war weich, die Hitze ließ langsam nach. Sie döste.

    Ein Kitzeln an ihrer Wange und helles Geklimper dünner, goldener Armreifen weckten sie auf. Durch ihre halb geöffneten Lider erkannte sie eine großgewachsene, blonde Gestalt, dunkeläugig, mit schönem Gesicht und zu Zöpfen geflochtenen Locken, die vor ihr kniete und sie fragte: »Wer bist du?«

    O. fuhr hoch, noch benommen.

    »Ich bin O. Ist das dein Schlafplatz? Ich wusste ja nicht …«

    »Ich bin Calypos. Alles hier gehört mir, und du bist nicht eingeladen. Ich muss dich fortschicken. Aber …«, die Reifen an den schmalen Handgelenken klimperten, »… du gefällst mir. Hast du Hunger? Durst?«

    O. nickte.

    Calypos nahm sie an der Hand, führte sie zu einer Decke, auf der ein Mahl aus Früchten, Fladen, weißem, salzigem Käse und schwarzen Oliven bereitet lag.

    »Wie kamst du hierher?«

    Calypos strich neugierig mit ihren Fingern über die Innenfläche von O.s Hand, als sollte so die Karte ihrer Wege entziffert werden.

    »Eigentlich habe ich mich verirrt. Ich wollte fort von dem Lärm dort unten. Bin schon so lange unterwegs, habe mehrere Inseln hinter mir. Ich bin Musikerin. Mein Instrument ist die Flöte.«

    Calypos klatschte erfreut in die Hände. »Wie schön! Du wirst für mich spielen!«

    O. nickte, während sie Oliven und Käse aß. Calypos lagerte neben ihr, reichte ihr einen Becher Granatapfelsaft.

    »Wie gut, dass du mich gefunden hast! Die Vögel hatten mir bereits gezwitschert, eine Frau werde in mein Reich dringen und mein Dasein verändern. Komm, spiel mir was vor!«

    »Später. Ich muss noch essen. Aber ich mache auch Aufnahmen. Von Menschen, denen ich begegne, von Tieren, vom Meer und von meiner Flöte. Hör mal!«

    O. entnahm ihrem kleinen wasserdichten Beutel das Telefon und tippte auf dem Bildschirm herum.

    »Das ist ein Lied, das mich seit meiner Kindheit begleitet.«

    O. begann zu summen, während eine feine Stimme aus dem Gerät erklang.

    Wenn der Morgen kommt,

    Und der Himmel ist klar,

    Hebe ich meinen schweren Kopf,

    Weil die Sonne brennt,

    Und mein Schweiß tropft in die Erde.

    Ich sehe eine Frau auf Knien

    Das Zuckerrohr schneiden.

    Ich sehe einen Mann am Strand,

    Der wirft die Netze aus.

    O. schluckte den letzten Bissen hinunter, griff nach ihrer Flöte und spielte die Melodie, versuchte den Wind nachzuahmen mit ihrem Luftstrom. Calypos, angeregt davon, griff nach einem Bambusrohr und blies hinein. Gemeinsam bildeten sie eine Wolke aus Klang. Calypos atmete durchs Röhricht, ein, aus, ein, aus. O. hauchte ins Holzinstrument, erzeugte Töne in voneinander abgesetzten Stößen. Zusammen variierten und tremolierten sie, vergaßen darüber die Zeit und fielen irgendwann lachend ins Gras. Durstig lief O. zur Quelle, ließ sich frisches Wasser in die Kehle und übers Kinn rinnen, tauchte das Gesicht in den Strahl. Calypos reichte der Besucherin Trauben, deren Reben so dicht bewachsen waren, dass man die Früchte kaum einzeln abpflücken konnte. O. biss einfach hinein in die Dolde, der Saft schoss heraus und befleckte die weißen Tücher, die sie um ihre Körper geschlungen trugen. Sie lachten. Sie warfen sich ins Gras. Sie lauschten den Rufen der Vögel: fein aufeinander abgestimmte, kurze, gurgelnde Rufe, in Reihe gezwitschert, und rasch aufeinanderfolgendes Piepsen. Dazu ein schnelles Auf und Ab von Pfeiftönen, die sich drei-, viermal wiederholten. Dazwischen Tschilpen, melodiöse dreitönige Phrasen. Ein Stakkato aus einer anderen Kehle hielt dagegen. Das Brummen von Insekten in unmittelbarer Nähe ließ O. schläfrig werden. Von Weitem vernahm sie das Getöse lang gezogener Wellen, die gegen die felsigen Ufer der Insel schlugen.

    Entzückt von der ihr gebotenen Gastlichkeit verschob O. die Weiterreise. Calypos lud sie ein, zu bleiben, so lang, wie es ihr gefiel.

    Es vergingen Wochen.

    Längst waren Kleidung und Stiefel beiseite geräumt. Manchmal jedoch, spätabends, nachdem sie dunklen Wein getrunken hatten, direkt vom Bauern in Korbflaschen geliefert – der beste Wein dieser Insel, hatte Calypos beteuert –, vermeinte O., hinter den Zedern und dem dichten Gebüsch voller Zikaden Schatten zu bemerken. Wurden sie beobachtet?

    »Wer ist das?«

    »Paranoia!«, scherzte Calypos, und ordnete sich die sonnenhellen Locken. »Du bist immer noch geschädigt von all den Typen, die du auf deinen Fahrten getroffen hast. Komm, trinken wir was! Und berichte mir von Abenteuern!«

    »Was magst du lieber? Wenn ich musiziere oder erzähle?«

    »Beides gleich gern«, schmeichelte Calypos. »Ich bin glücklich, dich hier zu haben.«

    O. ließ ihre Zunge in Calypos’ süßen Mund gleiten, sie schmeckte das Echo von Wein und Trauben, sie glitt über glatte Zähne.

    »Nie war es schöner als mit dir«, flüsterte sie. »Wenn ich an all die Männer denke, mit denen ich auf Reisen geschlafen habe – manchmal habe ich es gar nicht gewollt, aber es hatte sich ergeben, weil wir im selben Zimmer übernachteten, um Geld zu sparen, oder nachts einen Spaziergang machten. Auch wenn ich sie nicht wirklich begehrte, habe ich es getan. Berührungen, ein warm atmender Körper neben mir im Bett. Ich lud mich auf.«

    »Hat es dir denn gefallen?«

    »Manchmal ja, manchmal war es nur praktisch, manchmal auch willkommen, manchmal einerlei. Ich wusste, es wäre anstrengender gewesen, Nein zu sagen. Und ich genoss es, begehrt zu sein.«

    Calypos strich O. über die Arme, bis hinunter zu den Fingern, verhakte die eigenen darin, seufzte schließlich.

    »Manchmal denke ich, die Götter neiden mir mein Glück. Sie sind eifersüchtig und grausam. Aber was habe ich sonst schon außer der Liebe! Ich bin nie woanders gewesen. Das ist der Nachteil des Paradieses. Ich muss bleiben und werde höchstens von Zeit zu Zeit besucht. Und es gibt ja auch keinen Grund, sich von hier zu entfernen, nicht wahr?«

    »Hier ist alles vollkommen.«

    Am Himmel erschienen die ersten Sterne.

    O. zeichnete mit ihrem Finger Linien zwischen den Himmelskörpern und hörte Calypos’ Atem neben sich, ein deutlich vernehmbares aber sanftes Schnarchen. Sie verlor sich im fetten Lila des Himmels, an dem der schiefstehende Mond prangte. Dann meinte O. ein Husten zu hören. Ein Flüstern jenseits der Steinmauer, die Calypos’ Reich begrenzte. Sie summte, um Schatten und Schrecken zu vertreiben.

    Leise glitt sie von der Bettstelle, um Calypos’ Schlaf nicht zu unterbrechen und schlich durchs feuchte Gras hin zu den Bäumen, wo sie die Zuhörer vermutet hatte. Sie kletterte über die Mauer. Der Mond ließ die unebenen Steine eines Wegs aufleuchten, der um den Berg führte. Kiesel drückten sich gegen ihre Fußsohlen, Stacheln zerkratzten ihr die Knöchel. Doch wie von unsichtbarer Schnur gezogen, ging sie weiter. Das verzerrte Spiegelbild des Mondes lag auf der Oberfläche des Meeres. Plötzlich erblickte sie eine Ansammlung menschlicher Silhouetten, die an ihren hochgestreckten Armen kleine Leuchtkörper in Richtung des Mondes hielten. Sie standen mit dem Rücken zu O. Sie trat lautlos näher und erkannte, dass die Lichter von den Bildschirmen kleiner Telefone stammten, mit denen die Menschen dort nach Signalen suchten. Sie schwiegen. Seufzten schließlich und steckten die Geräte wieder ein. Begannen zu murmeln.

    O. machte, dass sie davonkam, ohne bemerkt zu werden. Sie kletterte zurück auf die taufeuchte Wiese, zog sich Stacheln aus der schmerzenden Sohle, versiegelte die Wunden mit Spucke, bevor sie sich aufs Lager begab und an Calypos schlafwarmen Körper schmiegte.

    »Weißt du, wer diese Leute außerhalb der Umfriedung sind?«, fragte sie am nächsten Morgen.

    »Von wem sprichst du?«

    »Ich habe Schatten gesehen, neulich am Abend, während wir uns erzählten. Können sie unsere Sprache verstehen?«

    »Wozu willst du das wissen? Hast du mir nicht berichtet, wie froh du bist, hier angekommen zu sein? Denk nicht über unser Reich hinaus! Sobald du es verlässt, wird es dir wieder schlecht ergehen. Bleib hier, mit mir, und sei unsterblich!"

    »Ja, schon. Nur …«

    »Wir haben es hier schön. Und die Fremden werden nicht wagen, in mein Paradies einzudringen. Ein Zauber schützt dessen Grenzen. Kein Eindringling nähert sich ungestraft. Sie gehören nicht hierher. Und wollen ohnehin übers Meer. Nichts als Weiterreisen liegt in ihrem Sinn. Sie warten auf ein Boot. Wir bleiben und müssen uns nicht ändern. Wir haben es hier schön."

    Calypos umarmte O., schmiegte das Gesicht an deren Schulter. Calypos Haut duftete, und der Duft machte O. schläfrig. Sie schloss die Augen.

    Als sie erwachte, war sie noch bedeckt vom Staub ihres morgendlichen Ausflugs. Calypos geleitete sie zur Quelle, tauchte ein Tuch hinein, rieb damit über ihren nackten Körper, schüttete ihr Wasser übers Haar, säuberte die dunklen Strähnen. Trocknete sie, brachte ein leichtes, seidenes Tuch und drapierte es.

    »Du kannst alles von mir haben, Liebste! Sag, was du willst, und ich werde deine Wünsche erfüllen!«

    O. verstand.

    Calypos hatte immer schon hier gelebt und kannte nichts Anderes als diesen paradiesischen Ort. Sie genoss ihre Gesellschaft, weil O. Dinge gesehen hatte, von denen Calypos nicht einmal träumen konnte, ohne aber je zu verstehen, warum man sich überhaupt freiwillig entfernen sollte. Es reichte Calypos, den Geschichten von O. zu lauschen und sich darüber zu gruseln, wie schlimm es anderswo zuging. Und Tag für Tag überredete Calypos den Gast erneut, doch länger zu bleiben und von der Ferne, die sie durchschritten hatte, zu berichten.

    Doch nicht ungestraft. Das Erzählen weckte Erinnerungen in O. und ihr Verlangen, sich fortzubewegen. Sie konnte die Versammlung menschlicher Silhouetten draußen nicht vergessen.

    »Wer kommt sonst noch vorbei, dich zu besuchen?«, fragte O.

    »Meist Seemänner, die Probleme mit ihren Booten haben und sie auf meiner Insel reparieren. Sie steigen den Berg hoch auf der Suche nach quellfrischem Wasser und landen bei mir. Sie bewundern mich wegen meiner grünen Wiese und meinem Haar in der Farbe der Sonne. Das sind sie nicht gewohnt. Ich bin das Besondere. Und überall erzählen sie später davon. So wurde ich berühmt. Je weiter sie von mir wegfahren und je mehr Zeit vergeht, desto aufregender wird die Erzählung, desto wilder die Abenteuer, die sie mit mir erlebten. Aber …«, Calypos gähnte bereits, »… egal. Bitte spiel mir die Flöte!«

    O. stieß ihren Atem in das Holz, während ihre Finger Töne fanden. Das Instrument wurde im Spiel warm, O.s Zunge leckte an der flachen Spalte, ihr Mund saugte sich an der Rundung des Flötenkopfes fest. Das Instrument war ihr vertrauter als ein Mensch, weil es einen Raum schuf, in dem sie aufging. Klang drang in sie ein, Atem formte die Musik. Bereits als kleines Mädchen leuchtete ihr ein, dass das Musizieren eine höhere Form des Lebens war.

    Am frühen Morgen des nächsten Tages erhob sich O., als Calypos noch schlief, und stieg in ihre Stiefel, packte ihr Aufnahmegerät und ein paar Kekse ein, wollte Genaueres wissen und folgte noch einmal dem Pfad herum um den Berg. Im Gestrüpp verfangene Fetzen von Plastik, vergilbte Tüten und vom Wind zerrissene Folien in den Ästen, lose Seiten Zeitungspapier, von der Einwirkung der Sonne längst verblasst, leere Plastikflaschen in allen Größen, ausgebleichte Papierbandagen, Kanister in verschossenen Farben bildeten eine Fährte, der sie folgte. O. trampelte den Weg fest, knickte Zweige ein, sprang von Fels zu Fels, die Anhöhe hinunter. Möwen kreisten über ihrem Kopf. Ein Geruch von Thymian, Salz und Kot lag in der Luft. Und etwas Anderes, Vertrautes wehte heran. O. spürte dem Hauch nach. Suppenwürfel? Sie hatte nichts gegessen, bevor sie aufgebrochen war. Mit der Stiefelspitze kickte sie gegen eine Wasserflasche, die daraufhin den Hang hinunterkollerte, auf weggeworfene Becher und Trinkhalme traf, auf Kartons, zerdrückte Getränkedosen, Milchpackungen, alte Batterien, zerschnittene Gummistiefel. Dann horchte O. auf. Ein leises Singen drang zu ihr. Sie war sich plötzlich unsicher, ob sie weitergehen sollte. Hockte sich in den Schatten eines vorspringenden Felsens, lauschte dem Gesang, aktivierte ihr Aufnahmegerät.

    Was weißt du denn schon über Tschebou Djen,

    Yassa, Tcheray und Maafay, meine Lieblingsspeisen?

    Was weißt du denn schon über Felsen schmeißende Nigga

    Im Kampf gegen die Militärs, die in mein Viertel schwirren?

    Was weißt du denn schon über die Kinder mit

    Maschinengewehren, die jede Minute den Krieg erwarten?

    Was weißt du denn schon?

    Was weißt du denn schon über den heiligen Ort,

    Was weißt du denn schon, wie wir hierherkamen,

    Um Geld zu verdienen und es nachhause zu schicken?

    Dann ein unerwartetes Geräusch. Jemand hustete. Eine junge Frau in hautengen, an den Knien eingerissene Jeans und einer Jacke in Tarnfarben sprang von der Felsnase, O. direkt vor die Füße.

    »Was machst du hier?«

    »Was machst du hier?«

    »Ich wache.«

    »Ich wache auch.«

    »Was war das für ein Lied, das du gesungen hast? Das war schön.«

    Die Frau zog ihr Telefon hervor.

    »Ich habe meine Mutter angerufen. Nur hier oben gibt es guten Empfang. Sie wartet jeden Tag, dass ich mich melde. Und dann singe ich mit ihr zusammen das Lied.«

    »Darf ich dich aufnehmen?«

    »Wozu?«

    »Ich bin Musikerin.«

    Die Frau nickte: »Die Flöte. Manchmal hörte ich sie hier.«

    Zu ihrem Tarn-Anzug trug sie eine Kappe über dunklem Haar und Flipflops an nackten Füssen. Ein Geruch von Rauch und Suppe umgab sie.

    »Warum seid ihr hier?«

    »Wir warten.«

    »Worauf?«

    »Ein nächstes Boot.«

    »Wie seid ihr hierher geraten?«

    »Geschmuggelt.«

    »Warum?«

    »Mit einem Visum könnte ich das erhoffte Land per Flugzeug erreichen. Wer keine reichen Eltern hat, kriegt keins.«

    »Wie habt ihr es dann gemacht?«

    »Auf der Ladefläche eines Lasters. Die Schlepper bedeckten unsere Köpfe mit Planen. Wir sollten nichts sehen, damit wir die Route nicht verraten würden, falls wir erwischt und verhört worden wären.«

    Plötzlich unterbrach sie ihren Bericht.

    »Hast du was zu essen?«

    O. gab der Sängerin ihre Kekse.

    »Wie heißt du?«

    »Salma.«

    »Ich bin O.«

    »In Lagerhallen haben wir einen Monat lang auf die Weiterreise über das Meer gewartet. In jeder Halle gab es dreihundert Menschen und mehr. Flohbisse plagten uns. Es gab keine Decken. Nur zwei Toiletten. Häufig nur eine Portion Essen für acht oder zehn Leute. Wir schliefen auf dreckigen Matten. Nachts stahlen wir Datteln von den Bäumen, um irgendwas im Bauch zu haben. Das Schlimmste aber war, dass es nur Salzwasser gab. Ein Glück, dass wir keine Cholera bekamen. Wir haben gelitten … Ich muss jetzt fort. Kommst du wieder?«

    »Darf ich nächstes Mal mit zu den anderen? Ich würde gern eure Lieder hören.«

    »Wenn du willst. Zuhause war Singen verboten. Als Kinder durften wir noch, aber als wir zu Frauen heranwuchsen, war nicht einmal das Hören von Musik erlaubt. Polizei strich nachts durch die Viertel. Wo heimlich musiziert wurde, nahm man die Leute fest, verurteilte sie zu Stockschlägen. Aber vergessen haben wir die Lieder nicht. Auch deshalb wollten wir fort.«

    »Sag mir, wenn ich helfen kann.«

    »Du musst genügend Essen für alle mitbringen.«

    »Morgen? Selber Ort, selbe Zeit?«

    Die junge Frau nickte und kletterte in ihren Plastikschlappen vorsichtig, um nicht zu rutschen, über die Felsen davon. O. blickte ihr nach. Sie hatte immer geglaubt, etwas Entscheidendes würde ihr fehlen. War deshalb auch aufgebrochen. Nun aber wusste sie, dass sie etwas besaß, das wertvoller war als alles andere: den Reisepass eines verheißungsvollen Landes, der, wohin man auch kam, Einlass gewährte. Nachdenklich stapfte sie zurück, summte Salmas Lied, überstieg die Steinmauer, die die Oase von der Trockenheit trennte.

    Calypos’ Brust hob und senkte sich regelmäßig.

    O. steckte das Telefon zurück in ihren Seesack. Sie schnappte sich ihre Flöte und spielte Salmas Melodie.

    JENSEITS DER MAUER

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