Abyssale Reminiszenz
Von Robert Grains
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Über dieses E-Book
Eine Reminiszenz an die "Horrorgeschichten aus dem Abyss".
Texte über fremdweltliche Musen, technologische Dämonie, die Wochenendbeschäftigung eines zwielichtigen Gentlemans, Erinnerungen an die Wunder einer stygischen Metropole unter den wehenden Fahnen der Nacht und die Folgen einer Kreuzfahrt über unheilige Geheimnisse umschließende, ozeanische Tiefen.
In diesem Buch enthalten:
Anima M., Pazifische Gräuel, Ein Wissenschaftler aus der Finsternis, Unsere Stadt bei Nacht, Heiliges Wochenende
Robert Grains
Robert Grains ist Okkultist, elitärer Ästhet und unabhängiger Autor mehrerer Bücher der Genres Horror, Weird Fiction und Dunkle Fantastik. Seit August 2023 ist mit dem »LIBER LOTAN« (ISBN: 9783757576547) erstmals sein aktualisiertes und abgeschlossenes Gesamtwerk erhältlich.
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Buchvorschau
Abyssale Reminiszenz - Robert Grains
Pazifische Gräuel
Gleich dem Seegang waren die hinter mir liegenden Stunden unruhig gewesen. Seit einiger Zeit bildete ich mir ein, diese unregelmäßig auftretenden Schlafprobleme könnten etwas mit den Schockwellen entfesselter Sonnenstürme zu tun haben, die, wie ich schon bald online nachschaute, während der letzten Nacht das Erdmagnetfeld stark erschüttert hatten und darüber hinaus anhielten.
Wie dem auch sei, in dieser maritimen Umgebung urlaubbedingter Zwanglosigkeit empfand ich die schlaflose Nachtruhe in meiner Balkonkabine an Bord der Lemurian Pearl vielmehr als eine Form milder Meditation denn als etwas, um das mich kosmische Einwirkungen beraubt hatten. Bekleidet mit einem sandfarbenen Leinenanzug, unter dem Sakko ein elfenbeinweißes Hemd tragend und mit dunkelbraunen Segelschuhen an den blanken Füßen verbrachte ich die Vormittagsstunden somit leicht ermattet bei ein paar Drinks in einem komfortablen Liegestuhl ausgestreckt und spähte zufrieden vom stark frequentierten Sonnendeck in die Weite des Pazifischen Ozeans. Die zahlreichen Fotografien und Tagebucheinträge vergangene Landgänge nebst Sehenswürdigkeiten betreffend würden nach meiner Heimkehr einiges an Material hergeben. Ja, bei Gott, auf diesem Schiff und in diesen Breiten konnte man es wahrlich aushalten! Natürlich, eine auf Tourismus fixierte Infrastruktur gehörte dazu, doch empfand ich diese bisher als weniger störend als die Vorgänge entlang Attraktionen anderenorts, wo möglicherweise eine mittelalterliche Burganlage wie ein halbfossiler Riesenkrake auf einer bewaldeten Anhöhe über einer Siedlung alter Baumassen thront, um durch deren von einer Unzahl an Souvenirläden, Nippes-Buden und deftigen Küchen gebildeten Speckgürtel böser Ernährung Horden verschwitzter Touristen anhand Flotten kleiner Shuttlebusse an ihre eiserne Pforte zu karren, diese sodann ihres Geldes zu erleichtern, bevor sie bald wieder entlassen wurden, ebenso dickbäuchig wie hungrig und nicht minder angeödet ob ihrer eigenen Existenz – hinab, in Richtung des grellen Durcheinanders aus schlechtem Essen, Kitsch und Gestank …
Die nordamerikanische Atlantikküste und ihre Sehenswürdigkeiten waren indes famos gewesen, wenn auch frei einer wirklich antiken Patina. Der Panamakanal hatte mich inspiriert, und nun, nach einigen wonnevollen Tagen und von einem majestätischen Sternenzelt geschmückten Nächten inmitten pazifischer Wellen, längst vorbei an Isla Isabela, in westlicher Richtung unterwegs, das Solarreich Hawaii und seine Bewohner fortan in wundervoller Erinnerung behaltend, nahmen wir schließlich Kurs auf Papua-Neuguinea.
Ich stellte den alkoholfreien Ananascocktail auf einen niedrigen Beistelltisch und blickte nach rechts. Ebenda, in unmittelbarer Nähe, hatte vor ein paar Minuten eine wahrhaft hübsche Erscheinung ihren wohlgeformten Körper auf einer mit bunten Tüchern bedeckten Liege ausgestreckt. Ganz offenbar arbeitete die junge Dame an einem handgeschriebenen Text. Eine Schicksalsgefährtin? Ich war bemüht, einen Blick auf die Zeilen zu erhaschen. Natürlich bemerkte sie den mühsamen Versuch und befreite mich schon bald durch ein Lachen, wie es einen vielschichtigen Charakter andeutet, aus der unbeholfenen Lage. Wie konnte ich sie während all der Zeit an Bord erst jetzt bemerkt haben? Rasch kamen wir ins Gespräch. Ihr klares, gut verständliches Spanisch schmeichelte den Ohren, und es imponierte mir zu bemerken, dass sie sich ebenso auf Französisch wie auf Deutsch, zumindest prinzipiell verständlich, ausdrücken konnte. Ihre Englischkenntnisse waren den meinen derweil überlegen, wobei ich versicherte, dass ich jene Weltsprache sehr wohl fließend verstand, während das Sprechen und Schreiben nach ihren spezifischen Vorgaben meinen Verstand von Zeit zu Zeit etwas überforderte. Die Kolumbianerin, Tochter eines Diplomaten und einer Pianistin, ward einst auf den klingenden Namen Camilla getauft. Hobbys: Die Schriftstellerei, Musik im Allgemeinen und Merengue im Speziellen, Tanzen, vor allem Salsa, sowie das Reisen. Nun, mit Ausnahme der Vorliebe für jene mir bloß schwer zugänglichen Rhythmen und Tanzstile, hatten wir zumindest etwas gemeinsam.
Unter ihrer Vintage-Sonnenbrille funkelten mir schon bald emailleblaue Augen aus einem unschuldigen Gesicht indigener Züge entgegen, die als Kontrast zu ihrem tiefschwarzen gelockten Haar von der bewegten Geschichte Lateinamerikas exotisches Zeugnis ablegten. In ihrer mir sehr willkommenen Gegenwart verstärkte sich das Gefühl der Zwanglosigkeit, das eine Reise über große Distanzen oftmals begleitet, doch stets als eine Artung vergänglicher Segen empfunden und schon bald, in die Heimat zurückgekehrt oder entlang Landstrichen vertrauter Geschäftigkeit wandelnd, erneut sehnsüchtig vermisst wird. Gelöst plauderten wir über das Wetter, den gestrigen Auftritt der Schiffsband, das Essen an Bord und die Weltlage. Zentral- und Südamerika hatten sich nie im Fokus meiner Beobachtungen befunden, und umso mehr zeigte ich mich überrascht ob der geopolitischen Zusammenhänge, kulturellen Nuancen und alternativen Blickwinkel, mit denen sie unsere Konversation unter einem immer höher emporsteigenden Tagesgestirn zu bereichern wusste. Die ihrem Wesen zu eigene Melange aus Schönheit, Stärke und echter Intelligenz, wie sie oftmals auch die Götter evoziert, rang mir ehrliche Bewunderung ab. Amüsiert bemerkte ich eine deplatzierte Verlegenheitsregung ihr hübsches Gesicht durchhuschen, als sie mich darum bat, ein paar Zeilen aus ihrem aktuellen Roman Probe zu lesen, an denen sie seit ihrer Einschiffung herumtüftelte. Da meldete sich der Kapitän mit einer Mitteilung, zugleich ich ihr anerkennend zunickte, die über die Schiffslautsprecher sodann blechern tönenden Ausführungen das bald in relative Nähe kommende Bikiniatoll und seine Geschichte betreffend bloß beiläufig vernehmend. Sehr gerne kam ich der Bitte nach, setzte mich aufrecht hin, streckte begleitet von ihrem lieblichen Kichern den Rücken durch, entnahm meine Lesebrille der Sakkotasche und sichtete die Zeilen:
»Wie er dort zwischen Jachin und Boas auf der breiten Steintreppe zum Dritten Tempel stand und seinen Blick über die alte Stadt schweifen ließ, neigte sich ihm eine unerhörte Erkenntnis zu. Hier war er nun, über alle Dinge erhaben, die Welt zu seinen Füßen. Falls er es wünschte, so konnte er ein jedes Leben beenden, die Kranken heilen, den Verfolgten Ruhe spenden, die Gerechten wie auch die Sünder schlachten. Das Schicksal des Planeten war an seinen Willen gebunden. Doch er stand allein, allein mit dieser Erkenntnis. Da war kein Gott, kein Versucher – nichts, was ihn auf diesen Umstand, die durch in erfüllte Prophezeiung ansprach. Etwas war eingetreten, das niemals hätte eintreten dürfen. Eine seltene Ansicht, die sich bloß in und durch seinen eigenen Leib offenbarte und ihn jene, die weiterhin in den bleiernen Nöten der Existenz verstrickt waren ob der ihnen derweil überlassenen Illusion, es gebe etwas zu erreichen, einen existenziellen Sinn, Augen aus unsichtbaren Sphären, die wohlmeinend auf sie herabblickten, und am Ende eines ruhelosen, leidgeplagten Lebens warte eine ungeheure Entdeckung, ein allversöhnendes Licht, beneiden ließ. Er wusste es besser, seine Augen waren wahrhaftig geöffnet worden. Die Hierophanten der zu seinen Ehren errichteten Tempel und Meditationshallen würden die Massen nicht über diese Erkenntnisse informieren; dies war sein ultimatives Geschenk an die Hoffenden, an jene, die wie er zwar menschlich waren, doch deren Herzen und Seelen gebrochen würden, aufgrund einer Wirklichkeit …«
Ich schaute auf, hoffte alles in meinen stummen Gedanken ordnungsgemäß übersetzt zu haben. Unsere Blicke trafen sich – magnetisch, elektrisierend! Camillas Mimik war ein Gemisch aus hübscher Verlegenheit und unberechtigter Sorge. Offenbar war sie begierig zu erfahren, was ich zu ihren Zeilen sagen würde. Soeben überlegte ich noch, ob ich einfach weiterlesen sollte, da flüsterte sie verbindlich: »Es ist ein Endzeitroman, ich …«
Irgendetwas war geschehen!
Irgendetwas hatte sich ereignet, irgendetwas … So ging es für eine zeitlose Weile, derartig hallte es Ewigkeiten in meinem schmerzenden Schädel. Es war nass, ich fühlte mich erstarrt, bäuchlings ausgestreckt auf einem unebenen Grund, der sich bloß langsam von meinen brennenden Augen fokussieren ließ. Feuchter Sand, weiß und gelb, teilweise schroff. Ja, ohne Frage, irgendetwas musste geschehen sein! Übelkeit – ich erbrach ein Gemenge aus jüngst geschlucktem Meerwasser, Verdauungssäften und Sonnendeckbewirtung. Mein Mageninhalt entleerte sich ungehemmt auf dem ohnehin feuchten Untergrund. Dann kämpfte ich mich auf. Ganz offenbar war ich gestrandet! Wobei … Als ich nach oben blickte, erkannte ich weder einen hellblauen, wolkenlosen Himmel noch ein grelles Tagesgestirn selbigen durchfluten. Nein, vielmehr befand ich mich in einer Art Höhle, an deren steinerner Decke Reflexionen der grünblauen Wasseroberfläche sylphenhaft tanzten. Schroffe, rußschwarze Vulkanfelsen umschlossen den Strandabschnitt in sämtliche Richtungen, derweil das Meer unruhig schäumte. Seine Brandung schlug mit zunehmender Kraft an die Pseudoküste