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Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin: Ein internationales Leben
Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin: Ein internationales Leben
Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin: Ein internationales Leben
eBook414 Seiten5 Stunden

Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin: Ein internationales Leben

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Über dieses E-Book

Dieses Buch ist kein Roman, sondern Tatsache. Es ist die Geschichte der Autorin und ihres Lebens als Ausländerin. Sie führt ihre Leserinnen und Leser durch fünf Kontinente und sieben Länder.

Mit ihren häufigen Umzügen von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent lädt die Autorin ein ihre Freuden, ihren persönlichen Gewinn und die hohen emotionalen Kosten, wie zum Beispiel den nomadischen Lebensstil von ihr und ihrer Familie zu teilen.

Detailliert erzählt die Autorin von ihren Kämpfen und Mühen, ihren Erfolgen und Fehlern beim Bemühen, sich fremden Kulturen anzupassen. Sie beobachtet und erforscht ihren Weg zu ihrer Integrität, zu innerem Gleichgewicht und dem Wachstum ihrer Persönlichkeit.

Dies ist auch eine Geschichte über die psychologischen, sozialen und kulturellen Effekte eines modern-nomadischen Lebens. Die Autorin benutzt ihre eigene Geschichte, um die einschlägigen, relevanten psychologischen Prozesse, die ein solches Leben herausfordert, darzustellen und zu illustrieren. Diejenigen, die unter solchen Umständen lebten oder jene, die damit gerade beginnen, können dieses Leben mithilfe dieses Buches besser verstehen und vielleicht auch besser ihre eigenen Reaktionen antizipieren. Somit kann ein internationales Leben möglicherweise weniger stressvoll, aber erfolgreicher und genießbarer werden.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum13. Okt. 2014
ISBN9783737507196
Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin: Ein internationales Leben

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    Buchvorschau

    Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin - Isolde Martin

    Isolde Martin

    Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin

    Ein internationales Leben

    Imprint

    Vom Dorfmädchen zur Weltbürgerin

    Isolde Martin

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    Copyright: © 2014 Isolde Martin

    ISBN 978-3-7375-0719-6

    Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

    Lektorat.Kinting@gmx.de

    One's destination is never a place, but a new way of seeing things.

    (Das Ziel ist nie ein Ort, sondern eine neue Art, die Dinge zu sehen — Übers. d. Autorin.)

    Henry Miller

    Eine Reise ist ein vortreffliches Heilmittel für verworrene Zustände.

    Franz Grillparzer

    Let your memory be your travel bag.

    (Lass deine Erinnerung dein Gepäck sein — Übers. d. Autorin.)

    Alexander Solschenitsin

    Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen

    Johann Wolfgang von Goethe

    … für meinen Mann, der gerne auf Berge klettert,

    um die andere Seite zu sehen

    … für meinen Sohn, der neugierig ist und

    durchhalten kann

    VERLASSEN VON VERTRAUTEM

    Es war spätnachmittags an einem Sonntag, einem kühlen Tag im Juni. Mein Partner und ich schlenderten die Maximilianstraße in östlicher Richtung entlang. Das mächtige Maximilianeum begrenzte dort den Horizont. Wir hatten Zeit die exquisiten, sündteuren Waren, die in den Schaufenstern für die Reichen und Schönen der Stadt München ausgestellt waren, ausgiebig zu bestaunen. Leicht dahingesagte Kommentare, gewürzt mit etwas Sarkasmus über die Dinge, die wir sahen, flogen zwischen uns hin und her.

    Wir kamen langsam zu meiner Haltestelle, von wo aus ich mit der Straßenbahn nach Hause fahren wollte. Ein weiteres Wochenende, gefüllt mit vielen Gesprächen, viel Lachen und Fröhlichkeit, ging zu Ende. Morgen würde ein gewöhnlicher, vertrauter Arbeitstag sein.

    Für kurze Zeit schwiegen wir beide. Dann, in lässiger Manier, fragte er: Vor einiger Zeit habe ich ein Visum für Australien beantragt. Kommst du mit?

    Ein paar Jahre später, als wir uns an den Anfang unseres gemeinsamen Lebens erinnerten, sagte er mir, dass ich prompt geantwortet hätte: Ja, warum nicht?

    Ich bin mir sicher, dass ihn seine Erinnerung nicht trog, denn immer wieder versicherte er, dass es ihn, ob dieser leicht und sofort folgenden Antwort, beinahe umgehauen hätte.

    Hast du gewusst, auf was du dich da einlässt?, fragte mein Mann nahezu jedes Mal, wenn wir auf diesen schicksalhaften Tag und seine Frage zurückblickten, denn diese Antwort von mir hat mein Leben auf eine Weise verändert, wie ich sie mir nicht in meinen wildesten Träumen hätte vorstellen können.

    Meine Antwort auf diese Frage blieb für Jahre die gleiche: Ja, ich war mir bewusst. Deine Schülerin, der du in der englischen Sprache Nachhilfeunterricht gabst, hatte mich über deine Absichten informiert. Sie wusste von deinem abenteuerlichen Plan, nach Australien weiterzuziehen. Somit wartete ich ab, ob du mich informieren, ob du dich verabschieden oder mich einladen würdest. Auf letztere Möglichkeit konnte ich mich daher gut vorbereiten. Es war kein Zweifel, dass ich beides wollte, bei dir bleiben und mit dir dieses ferne Land sehen. Weiter dachte ich nicht, denn ich fühlte mich sicher mit dir. Eigentlich hatte ich geradezu unverhältnismäßig starkes Vertrauen in dich, ein Amerikaner, von dem ich nur wusste, was du und deine deutschen Freunde mir erzählt haben.

    Später, als unser gemeinsames Leben sich gestaltet hatte, musste ich allerdings meine Überzeugung, dass ich wusste, auf was ich mich einließ, mehr und mehr revidieren. Nach drei Jahrzehnten erkannte ich, dass mein damaliges Statement nur für ein Jahr Gültigkeit hatte. Weiterhin hatte ich eigentlich keine rechte Vorstellung. Im Hintergrund meiner Gedanken hatte ich doch geplant wieder nach Deutschland zurückzukehren. Aber dann … wie weit kann ein Mensch seine Zukunft voraussagen?

    Viel Mut brauchte ich, meiner Mutter zu sagen, dass ich das Heim verlassen und nicht nur in die nächste Stadt ziehen wollte, sondern — aus ihrer Sicht — in eine schier unerreichbare Ferne. Ich wollte ihr Einverständnis, Verständnis und ihre guten Wünsche. Damals sah ich alles von dem Blickpunkt einer Tochter. Als ich selbst Mutter geworden war, konnte ich ihre Gefühle nachvollziehen. Manchmal fühle ich immer noch wie ich denke, dass ihr Schmerz gewesen sein muss. Ich ging nicht nur weit weg, sondern auch noch mit einem Mann, den sie kaum kannte. Ich beruhigte und rechtfertigte mich damals mit dem Gedanken, dass ich sie in den Händen ihres Sohnes und seiner Frau zurückließ. Jahre später gestand sie, dass sie nachts immer geweint hatte, um mir am Tag ein zuversichtliches Gesicht zu zeigen. Sie wusste, dass sie mich ziehen lassen und ich das tun musste, einfach weil ich jung war. Aber sie wollte mehr über diesen Mann, mit dem ich liiert war, wissen. Nachdem sie ihn einige Male getroffen hatte, schien sie beruhigt. Er war der erste Amerikaner, den sie nach dem Zweiten Weltkrieg persönlich kennenlernte. Immerhin hatten seine Landsleute am Ende dieses Krieges ihre Wohnung besetzt und sie mit ihren beiden kleinen Kindern im Winter auf die Straße geworfen. Als mein eigener Sohn unser Haus verlassen musste, um auf einem anderen Kontinent auf die Universität zu gehen, erinnerte ich mich an meine Mutter. Die Lektion über selbstlose Mutterschaft, die sie mir wortlos erteilt hatte, wandte ich nun selbst an — zumindest versuchte ich es.

    Meine Familie auf dem Bauernhof — drei Onkels und meine Cousine — hatten jedoch keinerlei Hemmungen. Sie ließen mich ihre Einstellung zu meinem Unternehmen schonungslos wissen: Nach Australien? Was machst du denn dort? Glaubst du, es ist dort besser als bei uns? Aber der Onkel, dem ich immer am nächsten stand, der für mich etwas Vaterersatz war, reagierte mit Ärger par excellence: Warum gehst denn nicht gleich auf den Mond!

    Sonnenschein und angenehme Wärme schenkte uns der letzte Sommer in München. Ich führte meinen Partner zu all den schönen Plätzen von Stadt und Land, die er noch nicht gesehen hatte. Er sollte sich an meine Heimat durch meine Augen erinnern, nicht wie ein Tourist oder einer, der dort für ein kurzes Jahr gelebt, gearbeitet und zu wenig Zeit gehabt hat. Gleichzeitig aber betrachtete ich die schönen, geliebten Plätze Münchens mit Abschied im Sinn. Mein Geist hatte diesen Prozess des Scheidens schon begonnen. Bewusst versuchte ich genaue Bilder in meiner Erinnerung zu speichern. Trotzdem verstand ich meinen Wechsel nach Australien nicht als Auswanderung. Der fünfte Kontinent und das Leben dort interessierten mich schon seit langer Zeit. Es begann mit einem Buch über ein Känguru, welches mir meine Mutter einmal gab, als ich noch ein Kind war. Es war ein Ort mit ungewöhnlicher Flora und Fauna, ein Land, das von Pionieren besiedelt wurde.

    Über die Dauer unseres Aufenthaltes dort hatte ich mir nicht viele Gedanken gemacht. Aber es war keine Frage, dass wir zur richtigen Zeit das Land wieder verlassen würden. Als mein Freund mich vor unserer Abreise einmal aufforderte jedes deutschsprachige Buch zu lesen, für das ich Zeit fand, denn es könnte sein, dass du nicht zurückkommst, maß ich seinen Worten nicht viel Bedeutung bei. Das hätte ich jedoch tun sollen. Aber mein inneres Ohr hörte den Vorschlag, der in dieser Aufforderung enthalten war, nicht.

    Er hatte mich auch gefragt, ob ich einen Ring wollte. Ich nahm an, dass er mir die Möglichkeit anbot, nicht allzu unverheiratet auszusehen in diesem fremden Land. Nichtsdestotrotz wurde er mein Verlobter, ohne das sichtbare Zeichen dieses Zustandes.

    Mit dem 28. Oktober 1971 war der Tag, den ich gefürchtet aber auch herbeigesehnt hatte, gekommen. Meine Mutter kam mit uns zum Flughafen, wo uns zwei Freunde erwarteten. Ein ständiges Geplapper zwischen uns hielt unsere Gefühle in Schach.

    Wir saßen zusammen im Flughafenrestaurant. Die Luft schien spannungsgeladen. Ich wünschte, die Zeit möge stillstehen — gleichzeitig wünschte ich, sie sollte schnell vergehen. Ich erinnere mich nicht an den tatsächlichen Abschied von meiner Mutter oder von unseren Freunden. Der Verdrängungsmechanismus für allzu Schmerzhaftes schien am Werk zu sein. Wenn ich heute diese Stunde, bevor unser Flug aufgerufen wurde, in mein Gedächtnis rufe, fühle ich immer noch den Schmerz der Trennung, vor allem den, den ich meiner Mutter zugefügt habe. Ich erinnere mich, dass ich meinen Freunden dankbar war, meine Mutter nach Hause, in eine nun leere Wohnung, zu begleiten.

    In Frankfurt hatten wir einige Stunden Wartezeit hinter uns zu bringen, bis der Flug nach Sydney startete. Dort schließlich ließ sich meine Angst nicht mehr verdrängen, sie machte sich stark bemerkbar. Zweifel ob der Enormität meines Unternehmens verunsicherten mich plötzlich. Diese hatten jedoch nichts mit meinem Verlobten zu tun. Mit ihm fühlte ich mich nach wie vor sicher. Meine Überlegungen, wie er sich in einem Land, das ihm weit weniger fremd vorkommen musste als mir, verhalten würde, waren von abstrakter, intellektueller Natur. Aber die Geborgenheit meine Familie, mein Land und alles was mir vertraut war zu verlassen, stellte ich nun infrage. Für einige Sekunden dachte ich sogar, dass ich noch umkehren könnte. War ich denn verrückt, meine soziale und physische Umgebung, die ich so gut kannte, aufzugeben? Stattdessen würde ich zur Ausländerin werden, in einem unbekannten Territorium, mit Sprachschwierigkeiten, mit neuen, unbekannten sozialen Regeln und Bedingungen. Würde ich auch dort die Gesichter und Gesichtsausdrücke der Menschen einschätzen können, die Semantik ihrer Sprache verstehen? Aber das Fernweh, die Sehnsucht exotische Plätze zu sehen und der Wunsch bei diesem Mann zu bleiben, waren sehr stark. Alle meine Bedenken und Ängste wurden von diesen beiden Punkten überstimmt. Zusammen wollten wir diesen Kontinent, der so weit weg war, erfahren.

    Es war mir klar, dass die Gefühle, die wir füreinander hegten, dort getestet werden würden. Beide würden wir Ausländer sein. Weder Familie noch Freunde konnten uns mit ihren Meinungen, Ratschlägen und Kommentaren helfen oder beeinflussen. Wir hatten nur uns. Aus Sicht der Existenzialisten war ich alleine. Vielleicht war es dieser rationelle Teil meines Denkens, der bewirkte, dass ich das Geld für ein Rückflugticket mitgenommen hatte. Es war auch Fakt, dass wir die One-Way-Tickets, die die australische Regierung für uns gesponsert hatte, zurückzahlen mussten, sollten wir vor Ablauf von zwei Jahren das Land wieder verlassen. Mein Verlobter hatte keinen solchen Rückhalt. Ich bewunderte seinen Mut und seine Zuversicht, dass alles gut gehen würde.

    Dieser Flug von Frankfurt nach Sydney dauerte insgesamt 26 Stunden, einschließlich der Zwischenstopps in Athen, Karachi, Bangkok und Singapur. Wir flogen durch zwei 6-Stundentage und zwei 6-Stundennächte. Am Ende hatte ich meine Orientierung in der Zeit verloren. Wann musste ich meine Pille schlucken? Mein Partner half mir zu rechnen, die Stewardess empfahl eine 24-Stundenuhr.

    Nach dem Start in Singapur ließen Aufregung und Erwartung mein Herz schneller schlagen. Endlich, nach Stunden über dem Meer, kam Land in Sicht. Wir klebten beide am Fenster. Langsam färbte sich der Kontinent unter uns immer rötlicher und blieb so für die nächsten drei Stunden. Außer einem gelegentlichen einzelnen Haus in der Wüste, gab es weder Orte noch Straßen zu sehen. Das muss das berühmte Outback sein, dachte ich.

    Mein Verlobter neben mir war vollkommen still. Ich kann mich an keine Kommentare von ihm während dieser Flugstrecke erinnern. Jahre später gestand er, dass er sich jede Minute schlechter und schlechter fühlte. Oh du meine Güte, was habe ich getan, habe er gedacht. Die rote, leere Wüste schien kein Ende nehmen zu wollen.

    Allerdings kamen die positiven Lebensgeister angesichts des Grüns der Küste schnell wieder zurück. Sydney, mit seinen Hochhäusern, seinem wunderschönen Opernhaus, seiner eindrucksvollen Hafenbrücke kam in Sicht. We are ready! Lasst uns landen und uns hineinstürzen.

    Nach der Passkontrolle winkten uns die Zollbeamten im Warenzollbereich einfach durch. Ich war fast enttäuscht (wenig wusste ich damals über die Menschen vom Zoll). Konnten diese beiden Männer denn nicht sehen, dass ich gerade dabei war, einen monumentalen Schritt in meinem Leben, in ihr Land zu machen? Schließlich war dies eine Sache von gewaltigen Veränderungen für mich: Ich wechselte von der nördlichen in die südliche Hemisphäre der Erde, vom Herbst in den Frühling, von Rechts- auf Linksverkehr, von der deutschen zur englischen Sprache, von Bekanntem zu Unbekanntem, vielleicht sogar von Sicherheitsgefühl zu Unsicherheit und, zumindest für die nächste Zeit, von einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Gefühl des Außenseiterseins.

    Diese Überlegungen und Erwartungen hatten sich windmühlenartig in meinem Kopf gedreht und mich so auf die Herausforderungen, die da kommen sollten, vorbereitet. Aber die allmähliche Erkenntnis, dass mit dem Sprachwechsel eine neue Seite meines Verlobten zutage trat, die ich noch nicht kannte, überraschte mich doch. Englisch ist seine Muttersprache, stellte ich in Gedanken fest, als ob ich es noch nicht gewusst hätte. Er klang sicher und nicht so zögerlich, wie in der deutschen Sprache. Seine Rede und Rhetorik war flüssig. Als wir am ersten Tag mit einem Stadtbus in das Zentrum fuhren, ging er voran und übernahm die Führung. Staunend beobachtete ich ihn. Es schien, als ob der Wechsel von seinem bescheidenen Deutsch in seine Muttersprache, beziehungsweise die australische Version, eine Art Metamorphose ausgelöst hätte. Vielleicht hatte die Erfahrung mit seinem Professor für deutsche Sprache auf der University of California, Berkeley, als ein mentaler Bremsklotz gewirkt. Anderweitig nämlich hatte mein Verlobter ein durchaus sehr liberales Verständnis in linguistischen Dingen. Mit schalkhaftem Grinsen hatte er mir von einem Angebot seines Professors erzählt: Er versprach seine Note eine Stufe zu erhöhen, wenn er sich nicht noch einmal für einen Deutschkurs eintragen ließ. So waren wohl die 18 Monate in Deutschland eine Mischung aus dem Genuss, die akademische Art Fremdsprachen zu unterrichten als uneffektiv darzustellen, und dem Ertragen des Spottes wegen der Fehler, die er machte. Sein Konversationsdeutsch hatte sich jedoch durch Zuhören und Sprechen und dem Ignorieren der Lacher sehr verbessert. Sein Professor hätte sich vielleicht sehr gewundert. Am Ende ist linguistischer Mut wohl ein erfolgreiches Werkzeug zum Erlernen einer Fremdsprache.

    DER FÜNFTE KONTINENT

    Gleich nach unserer Ankunft in unserem Hotel in Sydney schickten wir ein Gut-angekommen-Telegramm an meine Mutter, um ihr wenigstens diese Sorge zu nehmen. Auf unserem Weg zur Post erhielt ich die erste Lektion der Überlebensstrategien in diesem Land des Linksverkehrs: Nicht erst nach links und dann nach rechts schauen, sondern umgekehrt, erst rechts, dann links. Mein Gehirn an diese Änderung zu gewöhnen, sollte ein Kampf werden, der die gesamte Dauer unseres Aufenthaltes in Australien anhielt.

    Ich gewöhnte mich wenig an den Linksverkehr und hatte einige Male Glück, nicht überfahren zu werden. Die verlässlichste Strategie meinerseits bestand darin, erst in die Richtung zu blicken, die mir falsch erschien. Es gab ein Kaufhaus, welches ich gerne mochte und häufig auf dem Heimweg von meinem Arbeitsplatz besuchte. Wenn ich dieses Geschäft verließ, testete ich meine Theorie: Erst ging ich ein paar Meter zur doppelt falschen Bushaltestelle, also die für den Rechtsverkehr. Dort überquerte ich dann die Straße zu der Haltestelle die ich wirklich brauchte, um meinen Bus zu erwischen. Aber auch als ich dann in die Richtung unserer Wohnung fuhr, hatte ich die halbe Strecke lang das Gefühl, dass es falsch war. Allmählich begriff mein Gehirn, dass ich dem Gefühl falsch nachgehen musste, um richtig zu liegen.

    Aber nicht nur der Verkehr schien mir paradox. Auch das Meer in all seiner Schönheit war nicht dort, wo ich es gewöhnt war. Wenn jemand die ersten 26 Jahre des Lebens die Nordsee im Norden und den Atlantik im Westen wusste und nun der Pazifik im Osten lag, war das eine höchst verwirrende geografische Referenz der Orientierung. Wiederum weigerte sich mein unflexibles Gehirn diese Tatsache zu integrieren und schickte mich deshalb häufig auf Irrwege in der Stadt. Ich bewunderte meinen Verlobten, der keinerlei Orientierungsprobleme zu haben schien und deshalb zum Beispiel nie vor ein herannahendes Auto lief.

    Einige Tage nach unserer Ankunft erschien er wie selbstverständlich mit einem Mietauto. Er erklärte, dass unsere Wohnungssuche wesentlich einfacher und komfortabler sei, wenn wir uneingeschränkte, vom städtischen Bussystem unabhängige Mobilität besäßen.

    Du möchtest mit diesem Auto fahren?, fragte ich.

    Uhm, antwortete er.

    Jetzt?

    Yep!

    Er setzte sich ans Steuer auf der rechten Seite des Autos, schaltete mit der linken Hand, begleitet von gelegentlichen Ups-Ausrufen. Humor ist die beste Medizin, sagt man, wenn es gilt angsterregende Situationen zu meistern: Well, dann schick' mal ein Stoßgebet zum Himmel!

    Wir fuhren, unsere Ängste ignorierend, los.

    Wie selbstverständlich saß er auf der falschen Seite des Autos und fuhr auf der falschen Seite der Straße, als ob er linksseitig geboren wäre. In unserer gesamten Zeit auf australischen Straßen hat er keinen Kratzer in unser Auto gebracht. Leichter Neid nagte an mir. Scheinbar hatte ich in meiner Jugend versäumt eine wichtige Fähigkeit zu erlernen. In der gesamten Zeit fuhr ich kein einziges Mal selber in Sidney. Meine räumliche Orientierung blieb marginal. Später half ich mir selbst mit der Theorie, dass Architekten visuell besonders ausgebildet werden und Männer im Allgemeinen über besseres räumliches Sehen verfügen.

    Aber mein Tag der Selbstdarstellung und des Sieges über neue Probleme kam, als wir endlich in unsere hübsche Wohnung eingezogen waren, etwa drei Wochen nach unserer Ankunft. Das Gebäude lag auf einem Hügel, der eine schöne Aussicht über Paddington und Elizabeth Harbor bot. Jeder von uns besaß zwei Koffer voll von persönlichen Dingen. Alle weiteren Sachen, die wir benötigten, um ein halbwegs gemütliches Zuhause zu schaffen, mussten gekauft werden. Unser begrenztes Budget bestimmte, was wir erwerben konnten. So kauften wir Holzplatten, aus denen wir eine Art Plateau herstellten. Darauf kamen unsere Matratzen. Sie waren mit unserem einzigen Betttuch überzogen. Ebenso zimmerte mein Verlobter einen Wohnzimmertisch, der auch als Esstisch dienen musste. Um beide Funktionen zu erfüllen, musste er mittelmäßig hoch sein. Die zwei Stühle, die wir in einem Geschäft kauften, das mich an einen Flohmarkt erinnerte, mussten in der Höhe angepasst und deshalb abgesägt werden. Küche und Bad waren vom Besitzer schon eingebaut. Somit war das La-Boheme-Apartement fertig.

    Unser Budget erlaubte uns nicht, ständig in Restaurants zu speisen. Jedoch hatte noch keiner von uns daran gedacht, den Kühlschrank zu füllen. Als mein Verlobter auf einem unserer geschätzten Stühle stand, um eine Lampe aufzuhängen, war es gerade Mittagszeit und mein Magen knurrte. Er aber war ein Mann, der Hunger und Essen vergaß, wenn eine Arbeit erledigt werden musste. Somit war die Ernährung von uns beiden meine Aufgabe. Ich war allerdings keine begeisterte Köchin und meine Fähigkeiten in diesem Fach beschränkt. Unschuldig dachte ich, ob ich denn wirklich kochen musste und was um alles in der Welt es sein sollte. Es musste auf jeden Fall eines sein, wozu ich kein Rezept brauchte, denn ich hatte keines mitgebracht. Die bayerische Küche rettete mich. Ich sah zu diesem geduldigen, toleranten Mann auf dem Stuhl hoch und fragte: Möchtest du abgebräunten Leberkäse mit Spiegelei, Kartoffelsalat und grünem Salat zum Mittagessen?

    Seine Antwort kam in lässigem Stil, sachlich und ohne Anzeichen von Spott: Weißt du, wie man es zubereitet? Er hatte sich definitiv nicht wegen meines kulinarischen Expertentums in mich verliebt.

    Den deutschen Emigranten sei es gedankt, dass ich am anderen Ende der Welt Leberkäse finden konnte. Ich ging Einkaufen, kam zurück und kochte. Es war ein herrliches Mahl! Ich kam, sah und siegte!

    Am nächsten Tag jedoch traf mich die Erkenntnis, dass diese Notwendigkeit, ein Mahl zu bereiten, nun jeden Tag und für immer im Raum stehen würde. Was tun? Als ich 15 Jahre alt war, wurde ich einmal für ein Jahr in eine Kochschule in den bayerischen Alpen gesteckt. Nun versuchte ich mich an Rezepte zu erinnern. Aber ich sah nur die Bilder von Gerichten vor meinen Augen. Mein Verlobter schrieb an eine Bekannte, die wir in München zurückgelassen hatten. Sie schickte zwei Seiten Rezepte für Anfänger wie mich, liebevoll handgeschrieben. Von meiner Mutter erhielt ich ein Kochbuch mit dem Titel Bayerische Spezialitäten. Für sie war ich eben ihr bayerisches Mädchen, deren kulinarische Geschmacksrichtung sie gut kannte. Abgesehen von der Tatsache, dass man für bayerisches Kochen etliche Stunden pro Mahlzeit benötigt, war es auch schwer, in Sydney die richtigen Zutaten dafür zu bekommen. Ich bat um ein anderes Buch: Die schnelle Küche. So weit, so gut. Als ich müde vom Umrechnen der metrischen Maße wurde, erstellte mir mein Verlobter eine Liste jeglicher Maße, die man in einem angelsächsischen Leben brauchen könnte: Quarts, Pints, Unzen, Pfund, Yards, Zoll, Fuß, Meilen, Temperatur in Fahrenheit und, jawohl, die britischen Stones. Diese mit liebender Hand produzierte Liste habe ich von Kontinent zu Kontinent mit umgezogen. Ich hütete sie, wie der Homo sapiens das Feuer, das er zu Urzeiten errang. Meine Küche hat aber seit damals immer zwei Sets von Maßen und Geräten zum Messen, sowie Rezepte in deutscher und englischer Sprache enthalten. Über die Jahre hinweg habe ich Rezepte aus allen Ländern, in denen ich gelebt habe, gesammelt, meist nur als Souvenir.

    Mit Geduld für Recherchen und der Hilfe meines Verlobten erlernte ich langsam, uns in Australien kulinarisch akzeptabel zu versorgen. Wir hatten einen ungarischen Metzger gefunden, der Fleisch auf meine gewohnte Art schneiden und auch die australisch-englische Art erklären konnte. Die Bäckerei von französischen Einwanderern versorgte uns mit wohlschmeckendem Brot.

    All dies schien mir zu helfen, den berühmten Kulturschock zu vermeiden. Es gab allerdings Anzeichen, dass hier der Wunsch der Vater des Gedankens war. Mein Ego wurde arg gestresst und konnte mein Selbstvertrauen und mein Selbstwertgefühl noch nicht heben. Mein gestörter Orientierungssinn und die Gewöhnungsbedürftigkeit des linksseitigen Autofahrens, sollte ich das lernen müssen, nagten an meinem Stolz. Aber es würde noch mehr dieser Sorte auf mich zukommen.

    Da war zum Beispiel das Problem der Sprachauffassung, die durch den australischen Akzent sehr erschwert wurde: Mit zwei Jahren amerikanischem Business-Englisch und zwei Jahren britischem Englisch kam ich in Deutschland gut zurecht. Allerdings hatte ich bis dato mit keinem muttersprachlich Englisch sprechenden Menschen außerhalb akademischer Kreise gesprochen, außer während meiner einzigen Woche in London. In Australien zeigte sich bald, was mir fehlte. Das führte zu Hemmungen und schüchternem Vermeiden zu sprechen. Wie erwähnt: Der australische Akzent machte es zusätzlich schwer, einer Unterhaltung zwischen mehreren Beteiligten zu folgen. Als Neuankömmlinge wurden wir von freundlichen und verständnisvollen Australiern häufig eingeladen. In solchen Runden verlor ich den Faden der Konversation meist schnell. Manchmal saß ich schweigend dabei. Schnell merkte ich auch, dass meine Fragen den Unterhaltungsfluss sehr störten. Allmählich zog ich sogar vor, nicht angesprochen zu werden, da immer Erklärungen und Übersetzungen und häufig schallendes Gelächter folgten. Außerdem gab es manche empfindliche Seele, die mein Problem nicht nachvollziehen konnte und leicht beleidigt fragte: Sprechen wir denn so schlecht? Dieses ganze Szenario belastete meine Psyche sehr.

    Ein Wort zu mangelnder Sprachbeherrschung

    Das Erlernen der Sprache ist eine der frühesten Aufgaben der Kindheit. Im Allgemeinen sind sich Kleinkinder ihrer lückenhaften Ausdrucksweise und des mangelnden Redeflusses nicht bewusst. So stolpern sie unbedarft durch den Wörterwald, in der Methode des Versuches und Fehlens, begleitet von den entzückten Ausrufen der Erwachsenen als Belohnung. Wenn aber ein Erwachsener auf sprachliches Kinderniveau zurückfällt, ist das eine ganz andere Sache. In meinen ersten Monaten in Australien konnte ich dies an mir selbst beobachten. Nachdem ich mich nicht wie ein Erwachsener — der das benötigte Vokabular und die Sprache nicht flüssig beherrschte — fühlen konnte, fühlte ich mich zwangsläufig eben wie ein kleines Mädchen. Es manifestierte sich durch die vielen Wiederholungen einzelner Ausdrücke, die ich erbitten musste, durch die Übersetzungen, die ich benötigte, durch das Lachen, das ich auf meine holprigen Versuche der Konversation hin erntete, und durch die oft kindische Sprache, die andere mir gegenüber anwandten. Der Verlust sprachlicher Kompetenz kann in Gefühlen der Verletzbarkeit und der verbalen Schutzlosigkeit enden. Viele, mit denen ich dieses Thema besprochen und erforscht hatte, die sich in solchen Situationen befanden oder befunden hatten, bestätigten, dass sogar eine leicht paranoide Verhaltensweise entstehen kann. Indizien dafür sind Misstrauen in die Absichten der einheimischen Sprecher und Argwohn, dass sie unaufrichtig sind. Mein Selbstbewusstsein, mein Selbstvertrauen und mein Selbstverständnis waren durch die psychologische Wirkung der Sprachschwierigkeiten sehr gefordert.

    Dieses Dilemma war aber nicht von Dauer. Zum einen musste ich auf der Universität New South Wales weitere Englischkurse belegen, wie vom Gesetz gefordert, zum anderen verbesserte sich meine Sprachkompetenz sehr, als ich anfing in einem Import-Export-Großhandel zu arbeiten, wo ich die deutsch-englische Korrespondenz erledigte. Plötzlich hatte ich auch einen Vorteil durch meine Muttersprache, und nicht nur einen Nachteil. Mein Selbstbewusstsein kehrte zurück. Aber ich fühlte mich auch generell besser, nachdem ich einen Arbeitsplatz gefunden hatte, nach Wochen von Jobinterviews, die immer in Ablehnung geendet hatten. Die Gründe dafür reichten von unter- bis überqualifiziert. Seltsamerweise schienen meine sprachlichen Fähigkeiten nicht besonders wichtig zu sein.

    Der Mann, der mich als zweisprachige Sekretärin anheuerte, war ein Emigrant aus Deutschland. Während des Krieges ist er nach Australien ausgewandert, da er als Jude nicht in Deutschland bleiben konnte. Er beherrschte seine Muttersprache noch sehr flüssig und doch klang er nicht mehr ganz ungetrübt wie ein Deutscher. Wegen seiner Nationalität, so erklärte er, wagte er es anfänglich nicht, in den Straßen von Sydney seine heimatliche Sprache zu benutzen. Als Folge waren seine Kinder der elterlichen Sprache kaum mächtig.

    Wie dem auch sei, der Weg zurück, zu psychologischem Gleichgewicht und Selbstsicherheit war steinig und passierte sicher nicht in einer linearen Form. Meine Ignoranz den Details dieser Kultur gegenüber bewirkte oft, dass mich meine Kollegen und andere Menschen verständnislos anstarrten oder sich gar verletzt fühlten. Wer hat die Behauptung erstellt, dass Unwissenheit Seligkeit bedeutet?

    In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an zwei Männer sehr lebhaft. Einer lehrte mich australische Kultur auf die raue Art, der andere schien das mit engelshafter Geduld zu tun. Ersterer führte ein Spirituosengeschäft, so erschien es mir jedenfalls. Es war in einem Hotel untergebracht, welches für mich in keiner Weise so aussah. Denn die Eingangtür führte direkt in eine mit Fließen ausgelegte Beerhall. Unsicher, was die ganze Einrichtung, die ich sah, bedeutete, fragte ich im Liquorstore, ob er denn hier auch Bier verkaufe. Well, wenn ich das nicht hätte … , fuhr er mich an. Den restlichen Satz verstand ich nicht, was wohl die Seligkeit war, die Unwissenheit hervorbringen soll. Aber ich verstand den Trend seiner Antwort, besonders nachdem er anfügte: Wann hast du das Schiff verlassen? Später bedauerte ich ihm nicht erklärt zu haben, dass in manchen Gegenden der Welt Bier einen zu niedrigen Status einnahm, um in einem feinen Spirituosengeschäft verkauft zu werden. Stattdessen zog ich es vor wegzugehen und meine Wunden zu lecken.

    Der zweite Mann benutzte seine gesamte wertvolle Tea Time, mir eben diese schier geheiligte Tradition australischen Lebens zu erklären. Als ich im Import-Export-Lagerhaus anrief, um eine Nummer zu erfragen, meinte dieser gelassene Mann, er hätte jetzt eben gerade Pause, eben Tea Time. Er versprach danach anzurufen. Könnten Sie nicht die Teetasse beiseitestellen und mir diese eine Nummer geben? Es dauert nur eine Minute?, fragte ich ihn und kam mir dabei nicht allzu fordernd vor. Später lernte ich, dass dieser Satz durch seine deutsche Syntax im Englischen eine leicht beleidigende Semantik mit sich brachte. Ich fühlte mich beschämt. Bis heute danke ich diesem Mann, der mein Problem verstand und meinen Fauxpas ignorierte. Geduldig erklärte er mir die Bedeutung von having tea im Australien von 1971. Es war eine Zeit, in der man sich ausruhte, mit den Kollegen sprach und alberte, eine Kleinigkeit zu sich nahm und last, not least, vielleicht eine Tasse Tee trank. Tea Time war eine Auszeit und durfte nicht gestört werden, es sei denn von einem uneingeweihten Ausländer oder Neuankömmling, fresh of the boat. Ich war sehr verlegen und vergaß diese Lektion nie.

    Eine ähnliche Freundlichkeit wurde mir zuteil, als ich für den jährlichen Check-up einen Gynäkologen besuchen musste. Der Arzt wurde mir von einer der Ehefrauen der vier Firmenteilhaber, in deren Betrieb mein Verlobter arbeitete, empfohlen. Etwa eine Woche nach meinem Besuch, erhielt ich einen Brief von diesem Arzt. Ich erschrak schon beim Anblick des Umschlages, da ich wusste, dass man in meiner Heimat nur dann schriftlich benachrichtigt wurde, wenn medizinische Notwendigkeit bestand oder man eine Rechnung erhielt. Ich konnte aber kaum glauben, was ich da las: Dear Miss … Sie werden sich freuen zu hören, dass Ihr Vorsorgetest ein gutes Ergebnis erbrachte. Sollten Sie noch Fragen haben … Wir wünschen Ihnen … Das war der einzige Brief solcher Natur, den ich je von einem Arzt erhalten habe, bis — um gerecht zu sein — ich meine Gynäkologin hier in Deutschland gefunden habe. Natürlich verstehe ich, dass Ärzte wenig Zeit für solch persönliche Zuwendung haben, aber es war schön damals. Ich fühlte mich so respektiert, etwas, das ich zu jener Zeit bitter notwendig hatte.

    Als mein Selbstvertrauen in der englischen Sprache wuchs, begann ich auch die Unterhaltungen zu genießen. Gleichzeitig stieg meine Lernkurve in der Cocktailparty-Etikette steil an. Die Ursache dafür war mein Verlobter. Auf einer dieser Stand-up-Partys wurde er Zeuge eines Gespräches zwischen mir und einem etwas älteren Paar. An das Thema der Konversation kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an seine kulturelle Unterweisung:

    Liebling, nicht so scharf! Ich verstand nicht. Du streitest, erklärte er.

    Und warum nicht?, forderte ich ihn heraus. Die haben ein Statement in den Raum gestellt und wollen meine Meinung dazu hören.

    Aber niemand möchte es lange diskutieren und zu Ergebnissen kommen. Niemand ist an Fakten interessiert, beharrte er.

    Aber warum schneiden sie das Thema dann überhaupt an? Ich war konfus und wusste nicht, ob man nun auf Themen eingehen sollte oder nicht. Es kristallisierte sich aber langsam heraus, dass die Antwort irgendwo dazwischen lautete.

    Das ist nur Small Talk. Es wird keine tiefe Diskussion über das Thema erwartet.

    Bitte?

    Es folgte ein Austausch zwischen uns beiden über interkulturelle Party- und Konversationsgepflogenheiten. In den folgenden Dekaden, so meine ich, wurde ich eine Meisterin des angeregten Gespräches, in dem nicht viel gesagt wurde, wann immer die Kleidervorschrift semiformell oder formell war.

    Nicht jede Fehlanpassung aber zog unangenehme Folgen nach sich. Manche Andersartigkeit ließ ich mit Neugierde und Faszination über mich ergehen. So war es das erste Mal in meinem Leben, dass ich Weihnachten und Neujahr im Hochsommer erlebte. Mit viel Spaß stellte ich mir vor, was alles passieren konnte, wenn das deutsche Sprichwort Das geschieht erst, wenn das Neujahr auf den Sommer fällt! wahr werden würde. Da ich nun südlich des Äquators war, ist das am 48. Grad nördlicher Breite Unmögliche wahr geworden. Ich ließ alles, was ich in diesem Zusammenhang verweigert, verschoben oder verleugnet gehört habe, Revue passieren. Es war ein ziemlich albernes Durcheinander in meinem Kopf.

    Meine Assoziation mit Nikolaus und Weihnachten aber war und ist Schnee und Eis. Sydney war sehr weihnachtlich herausgeputzt. Über den Straßenschluchten hingen Plastiktannenbäume, die im Wind schaukelten und in der Sonne blitzten. Die Auslagen der Geschäfte waren mit Santa-Claus-Figuren, die mit schweren Stiefeln in weißem Winterwunderland standen, dekoriert. Wie zu Hause! Trotzdem aber weigerte sich mein Gehirn sommerliche Hitze mit weihnachtlichen Gefühlen zu verbinden. Christbaum, Kälte und Schnee waren eine untrennbare Verbindung mit meinen Erwartungen eingegangen. So genoss ich denn einen exotischen Weihnachtstag an einem der wunderschönen Strände Australiens. Daran gewöhnte ich mich schnell. Im Sand liegend aber entwarf ich schon den Brief, den ich an meine Familie zu Hause schicken würde. Ich konnte schreiben, dass die Erde tatsächlich rund war.

    Am Neujahrstag

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