Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Tsunami- Protokoll einer Flucht
Tsunami- Protokoll einer Flucht
Tsunami- Protokoll einer Flucht
eBook483 Seiten7 Stunden

Tsunami- Protokoll einer Flucht

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der unglücklich verheiratete deutsche Manager Rust wird beim Urlaub in Thailand Opfer des Weihnachtstsunami im Jahr 2004. Er überlebt verletzt und versucht mit seinem vorgetäuschten Tod den Ausbruch aus der Verbindung mit seiner Frau Clarissa und der bisherigen Existenz. Für einen Neustart unterschlägt er aus der Ferne mittels einer Manipulation einen hohen Geldbetrag seiner Firma. Er weiht seinen in den USA lebenden Halbbruder Frazer in das Komplott ein und sichert ihm für seine Unterstützung eine Beteiligung an der Beute zu. Zugleich eignet er sich ohne Frazers Wissen dessen Identität an und veranlasst den Halbbruder außerdem zu einem Freundesdienst:
Frazer soll zu einem Besuch aus Kalifornien nach Deutschland reisen, um in der Rolle des trauernden Hinterbliebenen bei Rusts Frau Clarissa eine Spur zu verwischen, die zur Aufdeckung von Rusts Unterschlagung führen würde. Es kommt zu einer Begegnung Frazers mit Rusts Frau, Rusts Eltern und Drängler dem früheren Berufskollegen und Geschäftsführer der geschädigten Firma. Drängler schöpft bei Frazers angeblichem Kondolenzbesuch Verdacht auf dessen Komplizenschaft bei der Unterschlagung. Rust setzt sich zusammen mit seiner Freundin May Kaung ab. Der frühere Kollege Drängler nimmt eine Verfolgung auf.
.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Juli 2016
ISBN9783741829710
Tsunami- Protokoll einer Flucht

Mehr von Klaus Hönn lesen

Ähnlich wie Tsunami- Protokoll einer Flucht

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Tsunami- Protokoll einer Flucht

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Tsunami- Protokoll einer Flucht - Klaus Hönn

    cover.jpg

    Inhaltsverzeichnis

    1. Ausgeliefert                                                                3
    2. Rückblick und Rechenschaft                                               68                                                                      
    3. Aus dem Chaos wächst ein Plan                                        138                                                
    4. Ein zweiter Mann im Boot                                                 256
    5. Auf Umwegen unterwegs                                                  327
    6. Ein Teilerfolg                                                                  346
    7. Absicherung                                                                 392
    8. Verfolger auf heißer Spur                                                  450
    9. Zieleinlauf                                                                 500

    1. Ausgeliefert

    Rust erkannte, wie fast alle, die Bedrohung viel zu spät. Brandung hatte sich auch an diesem Morgen kaum geregt. Nicht mehr ließ sich wahrnehmen als sanftes Rauschen im Hintergrund des träge anlaufenden Strandbetriebs. Kein Gedanke. an Wellen, die zum Einsatz des Surfbretts reizen konnten. Viel Sport war an diesem Abschnitt des Strandes auch nicht gefragt. Den meisten Besuchern der Region genügten während des Urlaubs schwach betäubende Getränke und anspruchsloser Lesestoff.

    Vorhersehbar der weitere Ablauf auch nach den Weihnachtsfeiertagen; nicht aufregend, aber warum Anstrengung  auch noch während der paar freien Tage? Er hatte sich eine Pause und Abspannen verdient, sagte sich Rust, im vierzigsten Lebensjahr erholungssuchend unter heißer Tropensonne. Vor zweieinhalb Stunden war es hell geworden. Es war jetzt kurz vor Neun. Rust schritt längs der Strandpromenade zum Verkaufsstand von Yvonne neben der kleinen Flußmündung ins Meer. Nicht lange mehr, dachte er, dann würde auch dieser Strandabschnitt verbaut sein mit Hotels.

      Erst wenige Badegäste hatten zum Strand gefunden. Drei junge Leute am Abschnitt vor der noch unbelebten Autostraße blickten anscheinend angespannt aufs Meer. Der größte unter ihnen wies mit ausgestrecktem Arm auf eine Streifen hellerer Färbung im der grau-dunklen Meer  Rusts Neugier war geweckt, er spähte in die gewiesene Richtung. Der helle Streifen war weit entfernt. Sein mit dem Meer wenig vertrautes Auge nahm nichts Bemerkenswertes wahr.

    Er würde am Stand Brötchen besorgen, vielleicht ein Baguette mitnehmen. Yvonnes Baguettes waren die Renner in ihrem Angebot. Außerdem führte der kleine Laden Getränke, Eis und Badesachenn, die man auch andernorts bekam. Brötchen und Baguette lohnten den Aufwand der zwanzig Minuten Wegstrecke von Rusts Hotel. Aussteiger aus Frankreich betrieben den kleinen Laden, eine lebhafte Brünette, Yvonne, die ihm vom ersten Tag an gefallen hatte, und ihr Freund Antoine. Sie waren Frühaufsteher. Ihr Stand wurde als Tipp gehandelt unter den Urlaubsgästen von Ban Bang Noh und Ban Ban Lam am Golf von Siam südlich von Koh Lac.

    Das Frühstück in seinem Urlaubsdomizil ließ eigentlich nichts zu wünschen übrig. Rust wäre die Suche nach Ersatz für die Brötchen des Hotels im Traum nicht eingefallen. Seine Frau Clarissa hatte an der Beschaffenheit des angebotenen Gebäcks Anstoß genommen. Empfehlungen eines Tischnachbarn hatten sie zum Drängen auf Yvonnes Baguette geführt. Unbesorgt um die fragenden Gesichter ihrer Frühstückskellner erschien Rust regelmäßig mit seinem Morgeneinkauf im Speisesaal. Den Protest des Oberkellners wies er unfreundlich zurück.  Der Wunsch nach einvernehmlichem Umgang mit seiner Umwelt war im Urlaub nicht stärker ausgeprägt als im Alltag zu Haus.

    Seine Frau Clarissa hatte mit dem Auftrag zur Brotbeschaffung einen Wunsch geäußert, dessen Erfüllung Rust keine Überwindung abverlangte. Er liebte die frischen Morgenstunden in diesem Land wenn er draußen, am Strand noch fast alleine, unterwegs sein konnte. Schon gegen elf Uhr würde die Hitze wieder drückend sein. Den Anlaß für den kleinen Weg griff er aus eigenem Interesse auf. Mochte Clarissa ihn als Gefälligkeit verstehen! Rust hatte sich dem Stand mit Backwerk auf wenige Meter genähert. Yvonne stand entgegen ihrer Gewohnheit nicht hinter dem kleinen Ladentisch. Mit einer Gruppe ihrer Kundschaft blickte auch sie gespannt zum Dunst am Horizont. Zwei Thai, mit dem Fahrrad unterwegs, waren nahe Rust auf dem Weg neben der Küstenstraße von ihrem Fahrzeug abgestiegen und sprachen aufeinander ein. Yvonne, seit mehreren Jahren im Geschäft, hatte sich die Anfangsgründe ihrer Sprache angeeignet. Sie wandte sich den Fahrradfahrern zu und sprach erst schnell in Englisch, dann langsamer in Thai mit den Beiden. Rust nahm auf beiden Seiten Achselzucken wahr.

    Er bemerkte, daß der helle Meeresstreifen sich dem Land genähert hatte.

    Einige frühe Gäste nahmen ihr erstes Morgenbad in der klaren und kaum bewegten Flut. nur wenige Strandläufer hatten sich bisher auf Gänge längs der Wasserlinie aufgemacht. Später, das wusste Rust, würde der aktive Teil der Urlauber in lässiger Marschordnung den Strand beleben bis gegen elf Uhr zunehmende Hitze sie vertrieb. Die meisten Händler der Boutiquen zwischen Straße und äußerer Begrenzung des Strandbereiches hatten sich der Zeiteinteilung der Badegäste angepasst. Gemächlich bauten sie die Auslagen auf ihren Ständen auf. Vor neun Uhr war für sie mit zählbarer Kundschaft nicht zu rechnen. Jede Hektik war fehl am Platz. Man war hier auf Muße eingestellt. Yvonne hatte ihren Stammkunden Rust entdeckt. Sie teilte ihm mit, einer ihrer Landsleute zeige sich beunruhigt über ungewöhnliche Vorgänge am Meer. Schon seit fünfzehn Minuten sei die Wasserlinie langsam aber unübersehbar zurückgewichen und stehe jetzt erheblich tiefer als normal. Auch der helle Streifen weit draußen falle als ungewöhnlich auf, so vorher nie gesehen. Die beiden Thai hätten ihr das gerade bestätigt. Sie wandte sich dann wieder den Landsleuten zu, verfiel dabei in ihr rasches Französisch, dem Rust nicht folgen konnte.

    Aufmerksam gemacht auf den Wasserstand am Strand erkannte nun auch er die Abweichung von der gewohnten Höhe. Kleine Felsnasen waren erkennbar, eingebettet in die weite Fläche von nassem Sand. Er hatte diese abgerundeten Vorsprünge hier zuvor nie gesehen. Das Meer hatte sie dem Blick bisher nie preisgegeben. Der Strand hatte an Breite dazugewonnen. Nicht allzu auffällig, der Unterschied zu dem gewohnten Bild, das er in den drei Tagen bisher aufgenommen hatte. Der Übergang vom Strand zum Meeresboden hinter der sonst gewohnten Wasserlinie verlief hier steil. Dem mochte zuzuschreiben sein, daß bei beträchtlich abgesenktem Wasserstand das Meer nicht deutlicher zurückgewichen war. Rust konnte sich erinnern, daß dieses Stück Strand mit Warnhinweisen als gefährlich ausgewiesen war. Durch keine Küstenretter überwacht, und für Nichtschwimmer nicht zugelassen. Er war, nachdenklich geworden, die Gedanken auf Ebbe und Flut gerichtet. Man hatte im Hotel gleich zu Beginn des Aufenthaltes hier versichert, diese Erscheinungen spielten an ihrem Abschnitt der Küste keine nennenswerte Rolle. Die Information war offensichtlich falsch gewesen. Merkwürdig, daß ihm der Wechsel der Gezeiten nicht früher aufgefallen war.

      Erneut wandte er sich der kleinen Gruppe zu, entschlossen, ohne Verzug den Kauf des Stangenbrotes anzugehen. Die morgendliche Lust auf das gewohnte umfangreiche Frühstück machten sich bemerkbar. Yvonne zeigte noch immer nicht die gewohnte Interesse am Verkauf des Gebäcks. Längst waren die beiden Thai wieder aufs Rad gestiegen und hatten sich ohne Eile entfernt. Yvonne und den drei Franzosen hatte sich ein blonder Hüne zugesellt. Skandinavier nach äußerem Anschein, an starkem Sonnenbrand als unerfahren mit der Kraft der Sonne hierzulande ausgewiesen. Der Streifen im Meer war jetzt herangerückt. In Sichelform legte er sich mit leichter Krümmung vor Lam, Noh und die weite Bucht. Rust schien, er und der Pavillon mit seinem Frühstücksgebäck befänden sich nahe der Mitte dieser Sichelfront. An den Außenseiten, links und rechts, noch weit entfernt von seinem Standort, zeichnete sich jetzt ein dünner weißer Streifen an der Vorderseite ab.

    Yvonne beendete den Verkauf der Baguettes. Zwei ihrer Landsleute hatten inzwischen den Rückweg angetreten. Sie sandten einen freundlicher Gruß zu Rust hinüber, dann wandten sie sich ab. Die Beiden hatten Unterkunft in einer Pension in Ban Ban Lam gefunden. Von der Hotelterrasse aus war der kleine Bau am Abend an seinen Lichtern zu erkennen. Er duckte sich, lieblich gelegen, unter eine Gruppe von Palmwedeln am Rand der kleinen Nachbarortschaft Ban Bang Lam. Gemächlich trotteten sie in der Morgensonne in Richtung auf ihr Quartier. Bei Yvonne wartete nur noch François. Er war mit Rust als Teilnehmer bei einer Paragliding-Tour flüchtig bekannt geworden. Von der Bootsanlegestelle aus hatte man sie einzeln am Fallschirm hängend ein Stück weit übers Meer geschleppt. Rust hatte ihm dort vor zwei Tagen beim Start beobachtet, dem kritischen Vorgang bei einer im Übrigen gänzlich passiven Vergnügung. Nach einer Runde hatte der Führer des Schleppbootes ihn ins Wasser fallen lassen wie einen plumpen Sack. Rust hatte sich anschließend vorgenommen, die Erfahrung würde nicht wiederholt. François hatte anscheinend mehr Sinn für den Zeitvertreib entwickelt. Bei Rusts Übergabe seines Fluggeschirrs hatte der Franzose ihn mit halb erhobener Hand zum Sportlergruß genötigt und mit der Bemerkung „Bon vol, camarade, merveilleux " ein wenig glaubwürdiges Kompliment gemacht.

    Rust fand François, Yvonne und den blonden Schweden wieder in Beobachtung der See vertieft. Der Schwede macht sich als Lars bekannt. Er führte ein Fernglas mit sich. Das schwarze Futteral baumelte an einem Band um seinen Hals. Dazu aufgefordert, warf Rust einen Blick auf den weißen Streifen am Rand des hellen Sichelbandes auf der Wasserfläche. Er war ungeübt in der Hantierung mit dem Glas. Die Vergrößerung schien stark zu sein. Erst nach langem Suchen im Dunst des Horizonts gab sich der Streifen als Krone einer Brandungswelle zu erkennen. Der Kamm zeigte keinen engen Zusammenhang. Eine helle Krone warf sich sich zu wechselnder Höhe auf. Abschnittsweise schien sie zu brechen oder zu zerfasern. Aus der matten Fläche aus Schaum erhob sich scheinbar aus dem Nichts ein Wasserberg und suchte Anschluß an den seitlich benachbarten Brandungssaum. Noch immer war der schmale Steifen, nicht mehr als ein mehrfach unterbrochener weißer Strich im Meer und nur weitab der kleinen Gruppe auszumachen. Beim Blick über den Strandabschnitt zu ihren Füßen war der Übergang vom nassen Sand zum Meer, jetzt wie es Rust schien, ein Stück herangerückt. Lars, an Unruhe in nördlichen Meeren anscheinend gewohnt, fand Gefallen an der Erscheinung, die im Glas zu sehen war. Wellengang am Strand versprach mehr Vergnügen als unbewegte See.

    Die Vier waren ins Englische gefallen. François drückte Unverständnis über die wahrgenommene Erscheinung aus. Sagte, dergleichen habe er nie vorher erlebt. Vergebliche Anstrengung um Einordnung und Zusammenhang der Phänomene! Warum erschien die Brandungswelle stark nur an den Flanken? Warum nur diese eine Welle so vereinzelt, ohne Vorläufer wie man sah und anscheinend auch ohne Folgewellen? Rust machte auf das Relief des Meeresgrundes aufmerksam. Ihm war bekannt, die Strandabschnitte mit den großen Brechern für Surfer auf Hawaii und in der Südsee waren örtlich oft eng begrenzt. Voraussetzung war immer ein Anstieg der Geländelinie unter der Oberfläche, der das Entstehen der steilen Kämme möglich macht. Lars, anders als Rust selbst Wellenreiter, gab ihm Recht. Er vermute, die Brandungswelle, jetzt mit bloßem Auge erkennbar, schäume nur auf entfernte Strandabschnitte zu. Anhöhen erhoben sich dort hinter dem Ufer, bei ihnen hier dazwischen sei das Hinterland dagegen flach.

         Das unbewehrte Auge übersah, daß sich in weitem Abstand zum erkannten Brandungsband eine Wellenfront heranschob, die den Vorboten als Zwerg erscheinen ließ.

      Ban Bang Noh und Ban Bang Lam waren bis vor zwanzig Jahren unscheinbare Ansiedlungen gewesen, friedlich eingebettet zwischen zwischen Meer und Hügelland. Alle hier kürzten die Namen ab und sprachen nur von Noh und Lam. Durch den Fremdenverkehr waren die Ortschaften aufgeblüht. Zwischen beiden lag kaum bebautes Land hinter der Küstenstraße. Yvonne hatte ihren Stand ungefähr in der Mitte zwischen Noh und Lam gesetzt. Wenige Bäume säumten die Ränder eines nahen Flüßchens vor der Einmündung ins Meer. Beiderseits, nach Noh hin ebenso wie nach Lam, erstreckte sich flaches Land bis zu Bergen, die viel weiter vom Meer abgelegen waren als die Hügel direkt hinter den beiden Küstendörfern. Wenige Felder wechselten sich mit Brachland ab. Die Küstenstraße verlief nahe Yvonnes Pavillon auf einem flachen Damm. Hinter der Straße und dem Gehweg fiel das Gelände wieder ab. Nur wenige Baumgruppen hatten die Holzhändler überleben lassen. Gerade noch genug, um den Eindruck von Öde und Kahlheit zu vermeiden. Dieses schwach genutzte Terrain war Bauerwartungsland, mindestens in Küstennähe, sagte sich Rust, der in diesen Dingen nicht ohne Erfahrung war.

    Die Wellenfront zu beiden Seiten wurde jetzt hörbar. Kräftiges Rauschen wehte der Morgenwind von rechts herüber.Das Geräusch hatte sich aus der Tonlage von schwachem Summens wie bei Insekten rasch verstärkt und verstärkte sich zu bedrohlich wirkender Gewalt. Die Vier am Pavillon sahen sich betreten an. Keiner wünschte die sich Blöße übermäßiger Ängstlichkeit zu geben. Rust neigte nicht zu grundloser Furcht. Jetzt verhehlte er sich nicht: die spürbare Gewalttätigkeit einer Erscheinung nicht weit entfernt von ihrem Standort provozierte Angst. Lars betastete mit unfroher Miene seinen Sonnenbrand. Der Lederriemen des Futterals schmerzte anscheinend auf der gereizten Haut. Yvonne hatte sich hinter die Theke zurückgezogen und begann, den Vorrat an Gebäck unverkauft in Transportkisten zu verstauen. Sie gab sich keine Rechenschaft über Sinn oder Vernünftigkeit ihres Tuns. François unterstützte sie ungefragt. Kein Wort war in der letzten Minute mehr gewechselt worden.

    Der breite Sichelstreifen hatte den Strand erreicht. Rust konnte erkennen, daß die vorher freiliegenden Felsvorsprünge im Meer sich wieder sacht bedeckten. Das Wasser war nicht klar wie gewohnt sondern gelblich gefärbt von feinem Meeressand. Der Meeresspiegel erreichte bald die Höhe, die ihm zukam nach Rusts Erinnerung. Der Anstieg hatte sich sacht und ohne Heftigkeit vollzogen. Das Wasser umspülte nun wieder den Landungssteg der Fallschirmflieger knietief unter der Startplattform. Dies Maß erlaubte komfortable Bedingungen für den Start beim Wasserski. Der Spiegelanstieg hielt in dieser Höhe noch nicht inne. Kleine Wellen leckten den Holzsteg entlang näherten sich Rust und seinen jetzt unverhohlen angstvollen Gefährten. Kein Zweifel, sie waren allesamt geübte Schwimmer. Dennoch trieb die Furcht vor der unheimlichen Erscheinung die Vier wie zur Schutzsuche nahe auf einander zu. Ihnen entging der krachende Aufprall einer hüfthohen Brandungswelle auf die  Strände von Ban Bang Noh und Ban Bang Lam. Sie schoß vor Noh ebenso wie vor Lam wuchtig den Uferstreifen hoch bis zur Promenade. Hier hatte sich die Kraft erschöpft. Der Kamm hatte sich gebrochen und verlief sich in Schaum und Schmutz. Was Brandungswelle gewesen war, sank matt zurück in den gelb aufkochenden Wassersaum, der sich bis über die Strandmitte vorgeschoben hatte. Die Flut zeigte noch kein Zeichen der Bereitschaft zum Rückzug auf die angestammte Höhe.

    Wenige Badegäste wurden von dieser Welle im Wasser überrascht. Mutige hatten dem Anprall die breite Brust geboten. Von Sylt, von Biarritz, von vielen Stränden des alten Kontinents Europa war man mit dergleichen Wogenspiel vertraut. Eltern hatten beim Nahen der Woge ihre erschreckten Kinder tröstend an die Hand genommen. Vom Rücklauf des Wassers ein Stück weit nachgezogen, hatten sie Tritt gefasst und näherten sich wieder lachend den Hotels. Mit erstauntem Kopfschütteln hatten auch die Passanten auf der Promenade den Anprall verfolgt. Im tieferliegenden Teil des gepflegten Uferweges war Nässe bis auf die Pflastersteine vorgedrungen. Ganz überwiegend aber hatte die Flut knapp unterhalb des Weges eingehalten. Nur einige vorsichtige Flaneure sahen Anlaß, die soeben noch bedrohte Promenade zu verlassen. Auf landseitig höher liegendem Terrain setzten sie den Spazierweg fort. Auf den Terrassen und in den Speisesälen der Hotels nahm das Frühstücksvergnügen seinen gewohnten Lauf, eher verspätet an diesem Morgen nach der Festlichkeiten vom Abend bis in die späte Nacht.

    Lars, Yvonne und Rust erfuhren keinen Brandungsangriff, nur still ansteigenden Meeresspiegel. Yvonne hatte sich schutzsuchend bei Lars und François eingehakt. Schwerer als üblich atmend, verfolgten sie Anstieg und Annäherung der dunklen See. François beschwor in einem schwachen Anlauf zum Scherzen die Sintflut als Strafe für menschliche Verderbtheit. Lars, äußerte den Verdacht auf ein Erdbeben als Ursache der Naturerscheinung. Man versicherte sich gegenseitig, kein Zeichen von Erschütterungen festgestellt zu haben. Salzig gelbes Wasser erreichte ihren Standplatz vor dem Verkaufsgerüst. Bald bedeckte es den Fußboden im Inneren des leicht gebauten Standes.

    Sie hatten die Sandalen ausgezogen. Hinter ihrem Rücken hatte auf dem Straßendamm ein Pick-Up haltgemacht. Der Fahrer war ein junger Thai. Er starrte ebenso ungläubig aufs Meer wie seine Begleiterin. Das Geräusch entfernten Tosens von den Landzungen her war abgeebbt. Yvonne löste sich aus der vorher selbst gesuchten Stützung und lief zu ihrem Auto unterhalb des Dammes. Rasch steuerte sie das Fahrzeug aus dem flachen Wasser den kleinen Abhang hoch. Die Körbe mit dem Backwerk konnte man leicht den kleinen Umweg tragen. Vor der Rückkehr zum Pavillon blickte sie sich nach allen Seiten um. In Richtung Noh und Lam schien nichts bemerkenswert. Als sie zurückkam, um die Körbe aus dem Stand zur Verladung ins Auto abzuholen, hatte der Anstieg des Wassers haltgemacht. François zeigte sich erleichtert. Damit sei wohl das Schlimmste überstanden. Der Wasserspiegel verharre auf einer Höhe, geschätzt einen Meter fünfzig über normalem Stand. Man fühlte sich dennoch in Eile

    Gemeinsam mit François hatte Yvonne das Backwerk in Kunststoffkisten eingepackt.. Fast die gesamte frische Morgenware wurde unverkauft wieder im Laderaum verstaut. Rust hatte sich ein goldbraun gebackenes Stangenbrot und vier dunklere Brötchen gesichert. Er verwahrte den Einkauf sorgfältig in einem mitgeführten Beutel. Yvonne verzichtete auf sofortige Bezahlung und verwies auf später. Sie machte alle Anstalten zur hastigen Rückkehr nach Lam, hier halte es sie jetzt nicht mehr. Ehe sie losfuhr, näherte sich noch einmal Lars.

    Er teilte mit, der Wasserstand, zwanzig Meter entfernt sei unverändert. Noch immer lag der größere Teil des Strandes unter der angestiegenen Flut. Da wo jahrein jahraus das Badepublikum sich unter dem Sonnenschirm dem Müßiggang ergab, brachen jetzt winzig kleine Wellen eine angestiegene trübe Wasserfläche.

    Das Wasser hatte beim Anstieg seine Klarheit eingebüßt. Der Meeresgrund war dadurch dem Blick entzogen. Lars hatte wieder von seinem Feldstecher Gebrauch gemacht. Mit einem Blick in Richtung Noh hatte er sich überzeugt, daß Anlaß zu Besorgnis nicht mehr bestand. Nach Ablaufen der großen Welle waren die ersten Badegäste wieder ans Meer zurückgekehrt. Einige brachten sich wahrscheinlich nach der Suche im Schaum zwischen treibenden Gegenständen wieder in den Besitz der Badetücher

    Rusts Misstrauen blieb dennoch weiter wach. Seit frühen Jahren hatte Vorsicht ihn geleitet. Die Trennung der Eltern hatte ihn als Kind gelehrt, bestehende Ordnung war veränderbar. Es half, mit unliebsamen Änderungen umzugehen wenn er in vernünftigem Umfang Vorsorge traf. Im Privaten ebenso wie im Beruf hatte er sich zu seinem Vorteil in dieser Haltung eingerichtet. Die Eigenschaft des maßvollen Argwohns verlor sich auch nicht im Urlaub unter Palmen. Lars überließ ihm bereitwillig nochmals sein Glas. Rust richtete es, jetzt mehr geübt, kurz auf Lam und Noh. Er fand die Aussage des Gefährten bestätigt, des letzten, der zurückgeblieben war. Die unerwartete Naturerscheinung schien mehr Erwachsene in Noh zum Bad zu inspirieren, als sonst zu dieser Tageszeit Soweit sich erkennen ließ, hielt man Kinder noch am Strand zurück.

    Yvonne hatte gemeinsam mit François die Rückfahrt nach Lam angetreten. Die Trennung von den beiden Zurückbleibenden war herzlicher als sonst gewesen nach dem überstandenen kleinen Abenteuer. Sie hatten sich ein Wiedersehen versprochen, am Folgetag zur gleichen Stunde bei hoffentlich wieder regulär möglichem Verkauf. Der Pick- Up der beiden Thai folgte nur wenig später, nachdem die Insassen achselzuckend Platz genommen hatten. Auch diese beiden winkten einen freundlichen Gruß hinüber zu Rust und Lars.Rust richtete das Glas aufs offene Meer. Das Stangenbrot im Einkaufsbeutel war hinderlich. Ablage im Straßendreck kam nicht in Frage. Um das Abrutschen von der Schulter zu vermeiden, reckte er sich linksseitig hoch und starrte, so verkrümmt, auf das Bild, das sich ihm bot. Erneut zeichneten sich Linienelemente ab, weit draußen auf offener See.

    Fragend sah er zu Lars hinüber. War Lars diese Beobachtung entgangen? Hatte er den Blick nur nach Noh gerichtet? Rasch reichte er das Glas seinem Besitzer zurück und äußerte Besorgnis. Lars nahm das Glas zur Hand und ließ es nach kurzer Zeit wieder sinken. Er schien plötzlich blass geworden im Gesicht. Nur die Stellen mit starkem Sonnenbrand zeigten sich noch als dunkelbraune Flecken im Gesicht.

    Rust nahm wahr, seine Pulsfrequenz stieg an. Er mühte sich um schnelles Atmen. Panikattacken war er nicht gewöhnt. Seit seinem ersten Blick durchs Fernrohr konnten nicht mehr als drei Minuten verstrichen sein. Die Linien konnten kaum Anderes bedeuten als Anzeichen für eine Rückkehr der eben erst überstandenen Flut. Sollte der Vorgang sich wiederholen, vielleicht verstärkt gegenüber vorhin, so blieb nicht mehr als eine kurze Spanne Zeit bis zur Ankunft einer nächsten Welle. Ihnen blieb der Rückzug auf den Straßendamm. Er würde einigen Gewinn an Höhe bringen um vielleicht einen Meter gegenüber dem schon erreichten überhöhten Wasserstand. Was geschah wenn der Anstieg die Dammkrone übertraf ?

    Er schämte sich fast seiner Furcht beim Blick in den ungetrübten Morgenhimmel und die friedliche Szenerie, die sie umgab. Kein Sturm drohte, kein Angriff Außerirdischer stand an. In halbstündiger Entfernung wartete Clarissa im „Thai Oriental" auf ihr Baguette. Er warf sich Kleinmut vor, aber er beschloß, unverzüglich den Rückweg anzutreten. Das erneut gereichte Glas wies er jetzt mit Dank zurück. Lars würde in gleiche Richtung gehen. Eilig legten beide die Sandalen an und brachen auf. In die ersten hastigen Schritte hinein rief Lars ihm gepresst zu, die Brandungslinie habe sich zuletzt anders gezeigt als vorhin. Ohne Unterbrechung im mittleren Strandabschnitt. Sie ziehe sich jetzt voll durch die breite Bucht, soweit er habe sehen können.

    Rust ließ sich entgegen erstem Vorsatz erneut das Fernglas reichen. Er verlangsamte den Schritt. Kurzes Innehalten mußte ausreichen für den Blick zum Horizont. Lars hatte Recht. Die dünne weiß-graue Linie zeigte keine Unterbrechung wie vorhin. Sie reichte vom Vorgebirge auf der Halbinsel von Lam his hinüber zum „Eden Hotel" in erhöhter Lage auf dem kleinen Hügelabhang hinter Noh. Beide Flanken am Ende der sichtbaren Bereiche zeigten sich stärker ausgeprägt. Der mittlere Abschnitt dazwischen, der ihnen gegenüberlag, war nur schwach ausgebildet. Auch in ihrem Abschnitt zeigte sich, wenngleich weniger deutlich, ein schmaler Streifen Schaum auf der sonst gleichmäßig dunklen Wasserfläche. Er gab das Glas zurück. Beim Blick auf den zuvor noch halb gefluteten Strand fiel ihm auf, daß die Wasserlinie erneut zurückgewichen war. Wieder warfen sich runde Steine auf im nassen Sand, die er seit seinem ersten Tag in Noh nie vom Wasser frei gesehen hatte.

    Beide blickten sich sich unsicher gegenseitig an. Wenn erneut Anstieg des Meeres drohte, würde es den Damm erreichen? Würde die Straße überspült, wäre Überschwemmung im Hinterland die Folge. War das bedrohlich für die Feriengäste? Rust war im Wassersport nicht ohne Übung. Ein Leichtes würde es ihm sein, im schlimmsten Falle erhöhtes Gelände schwimmend zu erreichen. Dennoch verspürte er in sich den kopflosen Drang zur Flucht. Wohin sollte man sich wenden? Das Hotel in Noh bot Sicherheit, aber keine Aussicht auf eine Gelegenheit.zur Fahrt dorthin. Seit der Welle vorhin hatte sich kein Fahrzeug mehr gezeigt auf der sonst belebten Küstenstraße. Zwanzig Minuten zügigen Marsches hatte der weg zu Yvonnes Stand ihn gekostet. Im Laufschritt zurück würde diese Spanne kaum unter zehn Minuten zu drücken sein.

    Er war der erste der Beiden, der in Trab verfiel. Lars schloß sich an. Rust war im Laufen ungeübt und spürte rasch die Wirkung seiner vierzig Jahre in lebenslanger Abneigung gegen Anstrengungen im Sport. Der Schwede war ihm schon bald weit voraus geeilt. Keuchend verhielt der schwerfällig trabender Rust zum tiefen Atemschöpfen. Kurz warf er einen erneuten Blick aufs Meer. Schaum auf dem Wasser draußen erkannte man jetzt mit bloßem Auge. Vor dem weißen Streifen bauten sich graubraune Kuppen unregelmäßig über die leichte Schräge der Wasseroberfläche auf. Kurz züngelten sie zu steilen Spitzen hoch; beim Rückfall auf die Wasserfläche warfen sie schäumende Flecken auf. Vor dem Schaumteppich schob der Wogenkamms einen Streifen schwärzlicher Färbung zu ihm her. Rust konnte nicht wissen nicht, daß er dem nahenden Abhang eines Wasserberges von sieben Meter Höhe gegenüber stand, der mit der Wucht und der Geschwindigkeit eines Vorortzuges näher kam. Wohl aber spürte er die nahende Gefahr. Der Anblick entsprach nicht dem Bild von Brandungswellen, die ihm geläufig waren.

    Im Gefühl der Bedrängtheit wuchs ihm zum eigenen Erstaunen Ruhe zu. Sein Hotel in Noh war nicht mehr vor der Ankunft dieser Flut erreichbar. Hinter dem Gehweg, jenseits des erhöhten Dammes reckten drei Kokospalmen ihre Wedel malerisch in seinen Blick. Er erwog die Aussicht, einen der mittelhohen Bäume zu besteigen. Kaum weiter entfernt machte Rust einen Betonmast aus. Der Mast trug durchhängende Leitungen und zeigte stabförmiges Gerät an seiner Spitze, vermutlich Antennen für den mobilen Telefonverkehr.

    Rust rannte mehr schlecht als recht im Laufschritt. Der Mast war fast über die volle Höhe mit Kletterstufen ausgerüstet, sogar Bügel als Rückenschutz für den sicheren Aufstieg hatte man angebracht. Nicht für eine Besteigung durch Rust! Enttäuscht fand er den Zugang am Fuß versperrt durch ein mehr als mannshohes Gitter, mit solidem Schloss gesichert und einem  Schild mit aufgedruckter Aufschrift, vermutlich ein Warnhinweis in der ihm nicht lesbaren Landessprache. Ein sirrendes Geräusch war jetzt von der Meeresseite her vernehmbar. Lars entfernte sich noch weiter in unermüdetem Galopp. Der Abstand zwischen beiden mochte schon dem Viertel der Distanz bis zum Hotel in Noh entsprechen. Lars hatte das Fernrohr vom Hals gestreift, es einige Schritte lang in seiner rechten Hand getragen, dann, als vermeidbare Behinderung erkannt, es hinter einen Busch geworfen.

    Rust erreichte die Palmengruppe am Fuß der kleinen Böschung zum Straßendamm. Hastig löste er seine Strandsandalen und stieg langsam am Stamm empor. Die Stummel der gestutzten Wedel gaben seinen Füßen Halt. Auf der Suche nach festem Stand umschloß er den staubigen Stamm mit dem Oberkörper und ausgestreckten Armen. Die Aststummel erwiesen sich als hart und ausgetrocknet. Er spürte hartes Kratzen an seiner unbedeckten Haut. Sicher würden sich Schürfwunden zeigen, später, nach seinem Wiederabstieg vom Zufluchtsort. Das scheinbar Lächerliche der Situation trat in sein Bewußtsein. Er sah sich selbst wie auf einen Slapstick-Film gebannt. Einige energisch aufstemmende Bewegungen der Beine, neuerliches Umgreifen auf erhöhtem Stand brachten ihn unter die Palmenkrone. Wo hingen die Kokosnüsse? Wenn er schon diesen Ausflug unternahm, wollte er mindestens einen kleinen Erfolg berichten können am Abend an der Bar nach überstandenem Abenteuer.

    Er hatte, aus Furcht oder um Panik abzuwehren?, den Ausblick zum Meer hin zuletzt gemieden. Der Lärm stürzenden Wassers zwang seinen Blick widerwillig zur Seite der drohenden Gefahr. Der vordere Rand des dunklen Wasserstreifens hatte den Strand erreicht. Das Wasser stieg jetzt an , viel schneller als zuvor beim ersten Anlaufen des Meeres. Der Blick hatte genügt, ihn zu überzeugen: der Wasserberg, noch immer recht weit draußen, überspülte mit Leichtigkeit den Straßendamm.Vorsichtig trat er mit seinem linken Fuß ein Stück weit um den Stamm herum. Der neue Standort erlaubte Rust, dem Meer den Rücken zuzuwenden. Längst waren Shorts und Strandhemd aufgerissen. Blutige Striemen zogen sich über die Unterarme, Beine und Bauch. Das Kinn hielt er fest gegen rissige Blattanschnitte angeklammert. Die Vorderseite des Körpers würde den Eindruck aufdrängen, man habe ihn grausam ausgepeitscht. Rust achtete nicht auf Wunden. Schmerzen erreichten jetzt keine Geltung im Bewußtsein; alle Aufmerksamkeit galt der nahen Welle. Sein Blick richtete sich schräg nach unten. Zwischen dem Stamm der Palme und der Beuge des linken Armes folgte der Blick dem Anstieg des Meeresspiegels. Er vollzog sich schneller als beim ersten Mal. Ruhig bedeckte sich der Strand mit Wasser. Die Flut erreichte den breiten Sandstreifen vor dem Damm, vor wenigen Minuten noch Standort des Lieferautos von Yvonne.

    Was Rust nur ansatzweise sah: hinter seinem Rücken nahte ein flach geneigter Wasserberg. Erst die unmittelbare Nähe hätte die wahre Höhe und furchtbare Gewalt erahnen lassen. Die Annäherung dieses massiven Berges vollzog sich dennoch mit federnder Eleganz. Ein ungefährdeter Beobachter würde von Schönheit sprechen, solange kein massives Hindernis dem Wasserberg den Weg verschloß. Der Damm war überspült. Hinter seiner abfallenden Flanke bildete sich eine hohe Brandungswelle aus. Schäumend wälzte sich eine Woge über das ausgedörrte flache Hinterland. Dieser Teil des Geländes zwischen Noh und Lam war leer. Das struppiges Unterholz und die wenigen Palmen beiderseits des Bachlaufs boten der Flutwelle wenig Widerstand.

    Auch Rusts Zuflucht wurde von der Dammseite her schäumend angeströmt. Elastisch beugte sich der Stamm dem Druck des nassen Elements. An Stürme vom Meer her sind die schlanken Ufergewächse angepasst. Palmen ertragen ohne Schaden die Anströmung im regulären Sturm, gleich ob mit oder ohne Rust unter ihrem Wipfel auf der Suche nach Schutz Die Bäume duckten sich federnd zur Seite und hielten stand. Dieser Angriff hier war von anderer Art. Die Evolution hat eine Palme mit der Kraft zum Widerstand gegen direkten Meeresanprall nicht ausgerüstet.

    Sobald die Schwelle des Straßendammes überwunden war, trafen die Wirbel der aufgeschreckten See mit gewalttätiger Turbulenz auf das Erdreich über dem Wurzelwerk. Sie lösten den feste Boden in schlammige Schwebeteile auf. Behauptete der schlanke Stamm seinen Stand?, fragte sich Rust in einer Sachlichkeit, die ihn selbst staunen ließ. Er vertraute darauf. Die Wurzeln reichten hier bei der Suche nach süßem Wasser tief genug in den Tropensand. Die Sicherheit seiner Zuflucht unterlag keinem Zweifel. Mehr Aufmerksamkeit verdiente der Meeresanstieg. Das anströmende Wasser bedeckte seine Beine bis zum Knie Nach jedem vernünftigen Ermessen würde auch eine ungewöhnliche Brandungswelle keine Sintflut sein. An der Vorderseite der Palmenstämme hatten sich in der ruhig ansteigenden Meeresoberfläche kleine Erhebungen aufgeworfen. Sie erinnerten ihn an Bugwellen vor einem Ruderkahn. Aufspritzend hatten sie ihn bis zum Bauch durchnässt.

    Der Wasseranstieg hatte sich verlangsamt und kam zum Stillstand. Während der wenigen Sekunden, die dafür blieben, zog er eine vorläufige Bilanz.Nicht lange mehr, dann mußte sich die Flut in Gegenrichtung kehren. Der Rückfluß des Wassers würde in dieser unbequemen Lage abzuwarten sein. Einige Zeit, ähnlich der Frist für die Brandwache nach einem Feuer, würde er ausharren, dann hätten sich auch Ausläufer der Welle verlaufen, dann wäre nach menschlichem Ermessen die Gefahr vorbei. Er suchte längs der überfluteten Linie des Straßendammes nach seinem Leidensgenossen Lars. Unwahrscheinlich, daß der Schwede rechtzeitig Zuflucht gefunden hatte. Vermutlich trieb er im flachen Vorland im kleinen Binnenmeer, das dort entstanden – und noch in ständiger Erweiterung begriffen war..Rust sah kein Problem für den Schweden, sich in der flachen Schlammwüste zu behaupten. Aber auch der vom Sonnenbrand gezeichnete Mann aus dem Norden würde in eine unangenehme Situation geraten sein.

    Mit Sicherheit hatten Yvonne und François mit dem Lieferauto auf der Uferstraße rechtzeitig höheres Terrain erreicht. Ihr Pavillon war spurlos verschwunden unter einer schwach bewegten, gelb eingefärbten Wasseroberfläche. Ausgeschlossen, daß Dach und Seitenwände ihrer leichten Verkaufsboutique dem Andruck der Strömung widerstanden hatten! Trümmer ließen sich von seinem Platz aus nicht erkennen. Rust neigte seinen Kopf ein Stück weit vom Stamm weg und spähte nach Lam und Noh hinüber. Noh verschwamm im Gegenlicht. Im Dunst des Morgens erschien Lam von seinem Standort aus durch das gewaltsame Ereignis nicht stark verändert. Die Wasserlinie war dort anscheinend bis in die Vorgärten der Hotelanlagen vorgerückt. Undeutlich nahm er aus Richtung des Dorfes andauerndes Autohupen wahr.

    Nach einer trügerischen Ruhepause, die Rust fast schon entspannt genossen hatte, erreichte ihn der Wellenkamm. Aus dem Sockel des flach geneigten Höhenzugs aus Wasser hatte sich auch im mittleren Strandabschnitt zwischen Noh und Lam eine steile Schwelle aufgeworfen. Der Anstieg des Meeresgrundes vor seinem Übergang zum Strand prägte dem voran stürmenden grau-blaue Wasserberg das finale Unheil ein. Die Oberzone der Anströmung  folgte nur  widerwillig der Verzögerung am Fuß. Hier setzte Reibung zwischen fest und flüssig am Meeresboden der  raschen Fortbewegung einer Hemmung  aus.

    Bewirkt durch schwacher Bindekräfte zwischen den Molekülen des nassen Elements teilten sich den mittleren und höheren Schichten die Verzögerung der bodennahen Wasserzone mit.  Als gutmütiger Koloß hatte die flache Woge bisher große Entfernungen im Meer durchmessen. Die schwach hemmende Bremswirkung am Fuß hatte sich fast unmerklich  langsam aufsummiert. Seit dem Eintritt der Welle aus dem offenen Meer an den Strand der flachen Bucht war sie schnell angewachsen. Die Riesenwoge hatte an ihrer Unterseite auf den stärker spürbaren Widerstand reagiert und wie aus dem Nichts entstanden einen wild vorwärts drängenden Gipfel aufgebaut.

    Der Scheitel einer steilen Riesenwelle sprang, für Rust unhörbar, über ihn hinweg. Erst dreißig Meter landeinwärts, jenseits der Zuflucht, brach der Kamm. Schmutzige Kaskaden überfielen in aufspritzender Gischt den gerade entstandenen Binnensee. Der brechende oberste Saum am Wellenkamm verwandelte sich in eine breite Zone und zerteilte sich in kochende Wirbel sinnlos tobender Gewalt. Die Wasserfront fraß sich landeinwärts und büßte an Wucht nur kaum merklich langsam ein.. Wäre ein Staudamm im engen Tal geborsten, nicht heftiger konnte unterhalb die Wirkung sein. An dem Strandabschnitt wo Rust sich an seine Palme krallte, milderte, anders als in Noh, kein Anstieg des Geländes das unmäßige Wüten rasch ab.

    Die weite Ebene nahm die Wassermassen auf, als wolle sie sich ins Schicksal ergeben, nun Meeresteil zu sein. Erst bei dem Dorf Koh Kloi, drei Kilometer hinter dem Strand, ging das flache Land beiderseits des Bachlaufes Tao Sang in flache Steigung über. Die Flut verlor an Wucht und lief in Höhe des Dorfes in Erschöpfung aus. Dunkle Verfärbung einer weit vorgeschobenen neuen Uferzone markierte das Ende der Aggression des Ozeans auf trockenes Land. Der Ozean hielt seine Zügellosigkeit nicht lange bei. Ein Gegengefälle, zur Bucht hin, bildete sich aus. Sogkräfte forderten das Recht des Meeres auf die verlorenen Wassermassen ein. Langsam begann der  Rückzug, noch mehrfach überlagert von schwächeren Vorstößen der Flut, aber längst wurde der Höchststand nicht mehr erreicht. Schwerkräfte trieben das Element zurück in sein angestammte Revier. Weiter vorne, auf halbem Wege zwischen der Küstenlinie und Koh Kloi, machte sich nach der Erstarrung auf hohem Stand der Rückfluß schon als starker Strom bemerkbar.

    Rust wurde überrollt. Ein gütiges Geschick ließ die Wasserfront erst  hinter seiner Zuflucht brechen. Statt ihm Brustkorb und Rippen zu zerschmettern, hätte er sich dort aufgehalten, presste ihn der Druck des Wellenkammes nur brutal gegen den Stamm. Der Wirbel auf der Rückseite des Brechers riß ihn aus der umklammerten Schutzlage heraus und trieb ihn für kurze Zeit an die Oberfläche. Mit weit aufgerissenem Mund schöpfte Rust gierig tief Atem. Er hörte vor sich das donnernde Geräusch des brechenden Kammes, dann spürte er erneuten Sog. Rust fühlte sich von der Oberfläche herabgezogen wie an Gummibändern. Kein Widerstreben half. In ausgestreckter Rückenlage, hieb ihn ein Wirbel auf den Grund. Am Gesicht streiften ihn harte Pflanzenteile. Es mochten Zweige oder die Wurzeln der aus dem Sitz herausgerissenen Kokospalmen sein. Einerlei, er war am Leben und bereit zu kämpfen. Er war nicht bereit, hier jämmerlich zu ersaufen, führte reflexhaft Schwimmbewegungen gegen die Richtung der vermuteten Strömung aus. Mit Mühe gelang eine Wende von der unfreiwilligen Rückenlage auf den Bauch. Wieder fand er sich zur Oberfläche herauf gespült und wieder gelang ein tiefer Atemzug. Um ihn herum trieb weiß-gelblicher Schaum. Trotz aller Anstrengung spülte der nächste Strudel ihn zu einer neuerlicher Grundberührung und anschließend so hilflos wieder hoch, daß er mit den ausgestreckten Beinen voran aus dem Schaum auftauchte. Die Sandalen waren verloren, stellte er fest, in merkwürdiger Aufmerksamkeit auf das gleichgültige Detail. Dann fiel ihm ein, er hatte sie selbst ausgezogen. Er bereitete sich gedanklich auf wiederholt unfreiwilliges Untertauchen vor und spürte doch Zuversicht. Rust war bewusst, daß sich die Brandungsfront entfernte. Die Strudel würden an Kraft verlieren je weiter sich die Front von ihm entfernte voran in das überschwemmte Land. Das Bild schäumender Schraubenseen hinter einem großen Schiff schoß ihm durch den Kopf, eine Erscheinung, die mit wachsendem Abstand zur Schiffsschraube an Heftigkeit verlor. Er fand sich zum dritten Mal wuchtig von der Oberfläche weggezogen. Diesmal nur bis geschätzt zur halben Tiefe.von vorher. Ein paar Schwimmstöße brachten ihn zurück an die Oberfläche in ein von Schaum erfülltes weites Meer.

    Von seiner Zuflucht, der Gruppe Palmen, war keine Spur geblieben. Sie mochten doch noch gefallen sein unter einem Anprall gegen den auch diese Baumsorte nicht stark genug ausgestattet war. Der stählerne Telefonmast hatte der Wucht der Welle widerstanden. An ihm als Fixpunkt ließ sich erkennen, daß Rust in schnellem Tempo landeinwärts trieb. Rasch entfernte er sich vom Gitterturm. In brodelndem Wasser trieb er dahin, geschätzt mehrere Meter über einer eben zuvor noch staubtrockenen öden Fläche Brachland. Diese Wildnis unter vorher niemand Anlaß zu Neugier geboten oder den Wunsch nach Betreten ausgelöst.

    „Bauerwartungsland", wieder eine Denkrichtung, die nicht zu seiner Lage passte! Er stellte fest, daß außer den fehlenden Sandalen auch das Strandhemd weggerissen worden war. Von den knielangen Shorts konnten nur Fetzen geblieben sein. Beim Schwimmen waren sie kein Hindernis. Rust stellte vorübergehend seine Schwimmbewegung ein und beschränkte sich auf leichte Armbewegungen, die ihm erlaubten, Kinn und Gesicht hochzurecken. Die Meeresoberfläche in seiner Umgebung beruhigte sich. Zwischen dem Schaum zeigten sich kleine Partien fast glatter Wasseroberfläche gelbbraun eingefärbt. Die stürzende Front war ihm soweit vorausgeeilt, daß er das Geräusch aus der Entfernung nur noch als dumpfes Rauschen hörte. Das breite Feld der Strudel in ihrem ihrem Rücken ließ sich aus seiner Sicht von knapp oberhalb der Wasserfläche kaum mehr erkennen. Ein brennender Schmerz kam Rust zu Bewußtsein. Der Griff an den Rücken fuhr in eine offene Wunde. Der Anprall gegen den Meeresgrund oder ein Hindernis

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1