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Meraviglia und der verrückte Erfinder
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eBook342 Seiten4 Stunden

Meraviglia und der verrückte Erfinder

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Über dieses E-Book

Voller Vorfreude kommt die Piratentochter Meraviglia in der Küstenstadt Braccio an, mit dem einzigen Ziel Erfinderin zu werden. Doch ihr Unternehmen steht unter keinem guten Stern. Eine Begegnung mit dem Bürgermeister endet im Wasser, in der Erfinderzunft will man nichts von ihr wissen und die Bewohner der Stadt sind bei Weitem nicht so freundlich, wie sie sie sich vorgestellt hatte. Aber Meraviglia ist niemand, der schnell aufgibt. Mit ihrer angeborenen Frohnatur und unbeugsamen Willen stellt sie sich furchtlos allen Aufgaben. Auch als es darum geht den berüchtigten, verrückten Erfinder zu finden und sein Geheimnis zu lüften.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Nov. 2014
ISBN9783738002560
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    Buchvorschau

    Meraviglia und der verrückte Erfinder - Mira Micheilis

    1. Die Stadt und das Meer

    Es war ein schöner und strahlender Morgen, als Chaos und Zerstörung an Steg Nummer Vier von Bord des Piratenschiffes Levanta gingen und zum ersten Mal den Boden der alten und ehrwürdigen Stadt Braccio betraten. Die unzähligen Matrosen und Hafenarbeiter, die zu dieser Stunde am Hafen ihrer schweren Arbeit nachgingen, ahnten davon natürlich nichts. Alles, was sie sahen, war ein gewöhnliches Mädchen in sonderbarer Kleidung.

    Hätten sie aber schon an jenem Morgen gewusst, welche desaströsen Ereignisse diese kleine Person verursachen würde, sie hätten sie sofort ins Meer geworfen oder zurück auf ihr Schiff gejagt. Da sie jedoch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, entging ihnen an diesem unscheinbaren Tag diese nicht sehr unscheinbare Person.

    Meraviglia Barbanero, so hieß die kleine Piratin nämlich, war das ganz recht. Unbekümmert bahnte sie sich ihren Weg durchs Getümmel, das Herz erfüllt mit Vorfreude. Wie genoss sie den Trubel, den sie auf dem Piratenschiff hatte entbehren müssen!

    Hafenarbeiter mit kräftigen, tätowierten Armen riefen sich die Namen ihrer Leibgerichte zu. Tagelöhner trieben munter wehrlose Schafe und Ziegen umher. Unterfütterte Sekretäre liefen vornehmen Herrn hinterher und taten so, als schrieben sie jedes gesagte Wort mit. Dabei hatten sie nur Augen für die zahlreichen Waren, die von den dutzenden Schiffen abgeladen wurden.

    Meraviglia sog die Luft der tausend Gerüche und Düfte tief in sich ein. Es roch nach altem Wein und frischem Fisch. Nach Feldtieren, die man in die Stadt geführt hatte. Nach Menschen in unterschiedlichsten Stadien der Sauberkeit. Es roch nach Meer und von der Sonne erwärmtem Staub. Eigentlich roch es genauso wie in der Schiffsküche der Levanta.

    Barbanero, Kapitän dieses gefürchteten Piratenschiffes, stand an der Reling seines Dreimasters und sah seiner Ziehtochter nach. Sechs Jahre hatte er sie bei sich gehabt. Hatte sie gelehrt, was ein rechtschaffener Pirat zu lehren wusste und ließ sie nun gehen, da es nichts mehr zu lehren gab.

    Der Kapitän hatte Meraviglia damals in Damaskus einem Tischler abgekauft. Sein hölzerner Arm war im Kampf gebrochen und ein neuer musste her. Das war eine heikle Angelegenheit, denn gute Handreplikate waren schwer zu finden. Besonders Splitter waren ein Problem.

    Wie hatte er sich damals in der Werkstatt des Tischlers abgemüht! Dieser sprach kein Italienisch und der Pirat kannte nur wenige Worte des Arabischen. Mit Händen und Füßen hatte er versucht sich verständlich zu machen. Da holte der Tischler lachend einen Knirps unter der Werkbank hervor: Ein Mädchen, das beide Sprachen wundervoll beherrschte und den Handel dadurch viel angenehmer gestaltete.

    So ein kleiner Übersetzer könnte sich als nützlich erweisen, dachte der Kapitän, mit Gedanken an die Beute, die er in dieser fremden Stadt noch unter die Leute bringen wollte.

    Eine peinliche Situation entstand, als der Pirat dem Tischler das Mädchen abkaufen wollte. Wie furchtbar unangenehm es war, den eigenen Verkauf zu übersetzen.

    „Der Herr Pirat möchte mich kaufen, Meister", sprach das Kind verwundert, mit einer Stimme, die der eines Kanarienvogels damals noch sehr ähnlich war.

    „Meister sagt, das Mädchen, also äh… ich… ich stehe nicht zum Verkauf."

    Barbanero wollte sich nicht so schnell abspeisen lassen und ließ das Mädchen ausrichten: „Du bekommst einen sehr guten Preis für sie, also für mich."

    So ging das eine Weile hin und her, doch der Tischlermeister wollte sich nicht erweichen lassen. Barbanero war gezwungen zu tun, was er immer tat, wenn jemand schwer von Begriff war: Er zog sein Schwert. Der Meister wurde sofort einsichtig und Meraviglia wechselte für den Preis zweier Holzbeine und eines Schuhs den Besitzer.

    Der Pirat war damals sehr froh über seinen Kauf gewesen. Ursprünglich nur als Übersetzerin an Bord gebracht, wuchs ihm das kleine Mädchen schnell ans Herz. Selbst die anderen Piraten, die nicht für ihren Sanftmut bekannt waren, wurden in der Gegenwart des Mädchens zu ihrem besten Selbst.

    Sie fluchten weniger. Schlossen ihre Hemdknöpfe. Sagten sogar Bitte und Danke. Auch wenn sie die Bedeutung der Worte nicht ganz zu verstehen schienen. So hieß es oft:

    „Bitte wasche den Boden, bevor ich dir die Haut abziehe, du Sohn einer Wasserratte. Oder: „Danke für den Fraß!

    Die Zeit flog dahin, bis das Mädchen eines Tages, mit strahlendem Gesicht und einer verrückten Idee, vor Barbanero stand und er wusste, dass er sie gehen lassen musste.

    Der alte Pirat strich sich durch den schwarzen Bart und seufzte. Wer würde ihm jetzt die verrücktesten Tagträume erzählen? Und wer seine Kajüte mit allerlei Werkzeug und Hölzchen in Unordnung bringen? Mit wem würde er jetzt Tee aus chinesischen Porzellantassen trinken? Was würde er ohne sie machen, allein unter diesen Rabauken?

    Aber nein! Sie war jetzt alt genug und ein Piratenschiff war kein Ort für junge Frauen.

    Außerdem hatte sie sich einen Floh so tief in ihr Ohr gesetzt, dass keine Vernunft sie dort erreichen konnte.

    Was für eine fixe Idee sie da hat, dachte der Kapitän nicht zum ersten Mal.

    Wie bei Piraten üblich, war der Abschied ohne viele Tränen verlaufen. Er hatte ihr die Heuer ausgezahlt, viel Glück gewünscht und den Ratschlag gegeben, ihren Plan nicht gleich der ganzen Welt zu erzählen. Man würde sie für verrückt halten und das konnte gefährlich werden.

    Meraviglia hatte aber nur genickt. Da er nicht mehr für sie tun konnte, hatte er, nach altem Brauch, einen Wischmob gepackt und sie damit von Bord getrieben. Die Mannschaft kroch, kaum da die Zeremonie vorbei war, zurück in ihre Kajüten. Niemand mochte einen Abschied mit Tränen. Besonders nicht, wenn sie aus den eigenen Augen kamen.

    „Meinst du, wir sehen sie wieder, Kapitän?" Der Steuermann durchstreifte mit seinem Auge (er hatte nur eines) die Menge, um vielleicht doch noch irgendwo den Hut, den er so gut kannte, zu entdecken.

    „Ich hoffe nicht", antwortete der Kapitän vielsagend.

    Der alte Steuermann paffte wissend an seiner Pfeife. „Es wäre nicht das erste Mal, dass sie zurückkommt."

    „Dieses Mal ist es anders, antwortete Barbanero überzeugt. „Sie wird das schaffen.

    Der Steuermann wollte etwas erwidern, ließ es jedoch, nach einem Blick zu seinem Kapitän, lieber bleiben. Seine Brauen waren in Furchen gelegt, wie Barbanero es zu tun pflegte, wenn er Wolken am Horizont beobachtete, um heraus-zufinden, ob sie Sturm oder Sonne bedeuteten.

    Sie wird das schaffen, dachte er bei sich. Aber vielleicht sollte man ihr ein wenig unter die Arme greifen.

    „Rajab!, rief Barbanero über die Schulter hinweg. „Lauf ihr nach. Pass auf sie auf! Ich will sie hier nicht wieder sehen.

    ***

    Meraviglia, die tränenreiche Abschiede genauso wenig mochte wie ihre Piratenfamilie, drehte sich nicht um, sondern drängte sich mühelos durch die Menschenmenge Richtung Stadtmitte. Doch je weiter sie sich vom Hafen entfernte, desto mehr Menschen bemerkten ihre seltsame Erscheinung.

    Dabei waren die Bewohner einer Hafenstadt nur schwer zum Staunen zu bringen. An den Anblick einbeiniger Piraten und dreibeiniger Esel waren sie durchaus gewöhnt. Aber ein hosenbeiniges Mädchen war ihnen noch nicht unter die Augen gekommen.

    Überhaupt wollte an dieser Fremden wirklich gar nichts zusammenpassen. Statt der hölzernen Schuhe, wie sie in Braccio üblich waren, trug sie lederne Seemannsstiefel mit blank polierten Schnallen. Passend dazu, schmückte ein breitkrempiger Hut ihren Kopf und im linken Ohr, wie es sich für einen echten Piraten gehörte, funkelte ein goldener Ring. Die struppeligen Haare waren provisorisch zusammengebunden und nicht, wie es sich für ein anständiges Mädel gehörte, zu einem Zopf geflochten und unter einem Häubchen versteckt.

    Nicht einmal der Mantel, ein Abschiedsgeschenk des Kapitäns, machte Eindruck. Barbanero hatte ihn extra für sie anfertigen lassen. Er war in einem dunklem Blau, verziert mit schwarzen Stickereien, die, mit sehr viel Fantasie, als Wellen und Vögel darstellen mochten.

    Meraviglia fragte sich, welcher der Piraten (denen doch allen mindestens ein Finger oder gar die ganze Hand fehlte) sich zu solchen Stickereien durchgerungen hatte.

    Ungeheuerlich war das Wort, das an diesem Morgen durch die Straßen sauste, wie ein streunender Kater. Den friedliebenden Bewohnern war nämlich alles Ungewöhnliche und Neue ein Graus. Sie hassten es, wie das Bad am Sonntag.

    Selbst die Stadt bemühte sich unter ihren italienischen Geschwistern nicht aufzufallen. An der gesamten Küste gab es nicht eine Hafenstadt, die nicht auf die eine oder andere Weise Braccio ähnelte. Wie Genua, lag Braccio in einer Bucht. War wie Venedig mit Flüssen und Kanälen durchzogen und hatte sich die Hügel, die die Bucht umschlossen, von Neapel abgeschaut.

    Manche Reisende, die das Pech hatten, hier in den Hafen einzulaufen, hätten Braccio als langweilig und einfallslos bezeichnet. Aber Meraviglia, die ihr halbes Leben auf einem Piratenschiff verbracht hatte, dachte anders. Auf hoher See waren die Möglichkeiten für Abwechslung sehr spärlich. Da konnte selbst der langweiligste Fischhändler als Kuriosität durchgehen.

    Je weiter Meraviglia in das Stadtinnere vordrang, desto mehr veränderte sich das Stadtbild und die Bewohner. Die riesigen Lagerhallen und Kontorhäuser wurden durch kleine Fachwerkhäuser ersetzt. Die breiten Straßen waren trocken und übersät mit den Resten des noch so jungen Tages. Ein ganzes Leben hätte an aus den Abfällen, die sich am Straßenrand sammelten, ablesen können.

    Da waren Apfelkerne: Reste eines kargen Frühstücks. Schnapsdrosseln, die ein Wirt in gleichgültiger Gewohnheit aus seinem Gasthaus auf die Straße kehrte. Und Katzen, die erbarmungslos von Fensterbrettern geschubst wurden und vorbeilaufenden Unglücklichen auf die Köpfe fielen.

    Und überall, in jedem Winkel und jeder Ritze, mehr Menschen als man jemals hätte zählen können. Marktfrauen mit Armen, gestählt von der harten Arbeit. Tagelöhner. Bauchladenhändler, die sich flanierenden Leuten in den Weg stellten und ihre Waren anboten.

    Vom Meer aus hatte Meraviglia gesehen, wie sich die weißen Häuser von der Bucht über eine kleine Ebene bis hinauf auf die umliegenden Hügel erstreckten. Zwischen ihnen schlängelten sich, blau glänzend, unzählige. Und oben, ganz oben auf den Hügeln, umgeben von einer weißen Stadtmauer, die sich vom einen Ende der Bucht zum anderen erstreckte, ragten die Türme eines mächtigen Schlosses empor, die in der warmen Sonne leuchteten.

    Meraviglia war aber nicht wegen der schönen Aussicht nach Braccio gekommen. Es mochte in Italien viele Städte wie diese geben, doch eines machte sie besonders und war der eigentliche Grund, warum sie gekommen war:

    In Braccio gab es Erfinder. Und nicht nur Erfinder. Es gab sogar eine Erfindergilde! Meraviglia konnte sich gar nicht vorstellen, wie viele kluge, verrückte und einfallsreiche Köpfe hier auf engstem Raum lebten und arbeiteten. Angeblich hatte Braccio die größte Dichte an Erfinderwerkstädten in ganz Italien und sie konnte es kaum erwarten, denen eine weitere hinzuzufügen.

    Meraviglia hatte vom Tischler in Damaskus das Handwerk gelernt. Der Mann war etwas zerstreut gewesen, weswegen sie von klein auf bei allen Arbeiten mitgeholfen hatte. Schon bald packte sie die Lust, nicht nur langweilige Möbel zusammenzunageln, sondern ausgefallene Apparaturen zu bauen. Windräder, rollende Schiff, Gehhilfen für beinlose Hunde und allerlei andere Dinge, die nach einmaligem Gebrauch gleich wieder kaputt gingen. Und kaum hatte sie von einem Seefahrer von der Erfinderstadt Braccio gehört, konnte sie nichts mehr auf ihren Füßen halten.

    So durchstreifte Meraviglia die vielen Viertel, überquerte zahlreiche Brücken und ließ sich von einer lauten Menschenmenge auf einen riesigen Platz treiben. An dessen Ende ragte majestätisch eine unfertige Kathedrale in den Himmel. Das Bauwerk war so hoch, dass Meraviglia den Kopf in den Nacken legen musste, um die Spitze zu sehen.

    Auf einem klapprigen, im Wind schaukelnden Gerüst liefen Handwerker und Arbeiter herum, wirbelten Staub auf und ließen kleine Steinchen auf die Menge unter sich regnen. Erst beim näheren Herankommen sah Meraviglia, dass sie kleine Figuren in die Kathedrale meißelten.

    Wäre die Piratin nicht auf dem Meer aufgewachsen, sie hätte die Statuen sofort als die verschiedenen Heiligen und Schutzpatrone der Stadt ausgemacht. Hätte gewusst, welches der dicken Kinder mit Flügeln, welchen Engel darstellen sollte und welche hässliche Fratze ein Teufelchen oder ein Stadt-ältester war.

    Da sie aber nie zuvor eine Kathedrale gesehen hatte (sie waren zu dieser Zeit auch eher selten), sahen die Figuren für sie nur wie zu klein geratene Menschen mit viel zu großen Köpfen aus.

    Allein in den bunten Fenstern waren Symbole zu erkennen, die sie kannte. Um die großen Bilder herum, auf denen wichtige Leute der Stadt abgebildet waren (allesamt mit riesigen Kartoffelnasen), gab es kleine Abschnitte, die den Erbauern der Kathedrale gewidmet waren.

    Da waren Steinmetze und Maurer. Flößer und Tischler. Glasmacher und Weber. Alle in bunten Farben in ihre Arbeit vertieft und von ihren jeweiligen Zunftsiegeln umgeben. Und da war auch das Zunftzeichen, das Meraviglia besser kannte, als irgendein anderes. Ein Maßstab und ein Kohlestift zu einem Andreaskreuz übereinander gelegt. Das Siegel der Erfinder.

    Plötzlich kam freudiger Aufruhr in die Menge. Einige Schaulustige, die auf dem überfüllten Platz keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen hatten, kletterten auf das Gerüst der Kathedrale geklettert oder drängten sich auf den zahlreichen Balkonen der bunt verzierten Häuser, die den Platz säumten. Und auch die Arbeiter waren bei näherem Hinsehen gar nicht so geschäftig wie sie taten. Die meisten hatten Hammer und Meißel gegen Brot und Käse getauscht und sich neugierig auf das Gerüst gesetzt.

    „Was ist denn los?", fragte Meraviglia einen Mann zu ihrer Rechten, der sich sichtlich gestört nach ihr umdrehte.

    Sah sie denn nicht, dass er hier gerade Leute bestahl? Sein Gesicht wurde aber sofort freundlicher, als er den goldenen Ring im Ohr des Mädchens entdeckte.

    „Du kommst nicht von hier, was?, stellte er beim Anblick ihrer Kleidung fest. Meraviglia schüttelte den Kopf. „Naja. Wir feiern Hochzeit. Die Piratin blickte ihn erstaunt an. Sie war noch nie auf einer Hochzeit gewesen, vor allem nicht auf einer, bei der die ganze Stadt eingeladen zu sein schien.

    Sie fragte den netten Herren, der nun seinerseits lächelte und einen Mund mit mindestens (!) zehn Zähnen entblößte, wessen Hochzeit es sei. Dieser antwortete äußerst zuvorkommend, so zuvorkommend, wie er es immer tat, wenn er etwas als Gegenleistung erwartete: „Der alte Gorgonzola und unsere gute Thalassa heiraten."

    Meraviglia glaubte ihren Ohren nicht. Wie sollte das gehen? Thalassa war die Göttin des Meeres bei den Alten Griechen. Wie wollte man sie heiraten? Oder gab es hier tatsächlich Menschen, die ihre Töchter nach antiken Gottheiten benannten?

    Der Mann schüttelte amüsiert den Kopf. Ein so leichtes Opfer kam ihm nicht oft unter. Während seine Augen unbemerkt die Taschen ihres Gehrocks untersuchten, erklärte er:

    „Der alte Gorgonzola ist unser Bürgermeister – der höchste Mann im Lande, gleich nach dem Fürsten, versteht sich. Und Thalassa, das Meer, die uns Fische schenkt und unsere Schiffe trägt, die muss bei Laune gehalten werden. Darum stellt sich der liebe Gorgo, als Vertreter der Stadt, einmal im Jahr, kurz vor dem Michaelisfest, ans Ufer und feiert Hochezeit, mit Ring tauschen und dem ganzen Unsinn."

    Meraviglia stellte sich auf die Zehenspitzen. Am Ufer des Flusses war eine Tribüne aufgebaut, auf der ein rundlicher Mann gerade versuchte mit der Stimme gegen ein Publikum anzukommen, das, laut schmatzend, Honigkuchen verdrückte. Signore Gorgonzola störte dies wenig. Er hatte die Kuchen selbst verteilen lassen. Schließlich musste man die Aufmerk-samkeit der Massen irgendwie für sich gewinnen und die einfachste Methode waren eben kostenlose Süßigkeiten.

    Bürgermeister Gorgonzola genoss diese Anlässe. Er war kein eitler Mann, doch von hunderten Menschen in seinem rotsamtenen, mit Hermelin behängten Umhang bewundert zu werden – das hatte was. Auch seine Tochter, Maltrice, die bei solchen Anlässen gerne zugegen war, hätten nur böse Zungen als eitel bezeichnet. Ihr seidenes, bodenlanges Kleid, ihr Umhang aus Brokat, die feinen Perlenohrringe und das kunstvoll geflochtene Haar waren Ausdruck äußerster Zurückhaltung und Bescheidenheit.

    Meraviglia trat näher heran (was sehr einfach war, denn die Leute waren so freundlich und gingen ihr sofort aus dem Weg), bis sie die Bühne berühren konnte und direkt zu Füßen des großen Gorgonzola stand, der über sie hinweg zur Menge sprach. Aus ihrer Perspektive sah er aus, wie ein nicht zu erklimmender roter Berg, aus dem jeden Moment ein Drache hätte aufsteigen können.

    „Und so, als Vertreter unseres durchlauchten Fürsten und Beschützers unserer herrlichen Stadt, nehme ich, Carlozzo Gorgonzola, dich, Thalassa, Königin des verbindenden Meeres und des Wassers, zur Ehefrau, aufdass du unserer ehrwürdigen Stadt hold bleibst."

    Mit diesen Worten kehrte der Bürgermeister der Menge den Rücken zu und schritt so majestätisch, wie der lange Umhang es zuließ, an die andere Seite der Tribüne. Erhobenen Hauptes hielt er den goldenen Ring für einen Moment in die Höhe und warf ihn dann in die Fluten des Flusses. Die Menge brach in tosenden Beifall aus. Tausende Honigkuchenkrümel flogen zu Boden und wurden sogleich von hunderten Mäusen und Ratten übereifrig in Empfang genommen.

    „Eine ziemliche Verschwendung, wenn du mich fragst, so einen schönen Ring einfach ins Wasser zu werfen", sprach der Dieb, dem es nur mit Mühe gelungen war ihr zu folgen.

    Ein Geistlicher, der neben Gorgonzola stand und nicht minder prächtig in seinem violetten Gewand aussah, vollführte eine Geste, die wieder nur Bewohner einer Stadt kennen konnten und sprach mit noch festlicheren Worten, als es der Bürgermeister getan hatte.

    „Und so erkläre ich euren Bund für gesegnet."

    „Ick will den aber nicht!", rief plötzlich eine Frau neben Meraviglia. Ganze Kuchenstücke flogen aus ihrem Mund und ein starker Geruch nach Wein und Zwiebeln stieg zwischen ihren Zähnen auf. Die Menge brach in schallendes Gelächter aus.

    „Ick will lieber den kübschen Prinzen!"

    Signore Gorgonzola drehte sich wütend um und starrte vernichtend in die Menge. „Wer war das?"

    Die Meute amüsierte sich noch köstlicher über das wütende Gesicht als über die Worte selbst und auch Meraviglia musste bei dem Anblick des rot angelaufenen Mannes laut lachen. Es gab nichts Lustigeres als mächtige Menschen zu ärgern.

    „Die Kleene hier war’s", sprach die Frau neben ihr und deutete auf Meraviglia. Dem Mädchen gefror das Blut in den Adern. Carlozzo Gorgonzolas mörderischer Blick fokussierte seine gesamte Gewalt auf sie.

    „Du kleines Gör…", zischte er zwischen den Zähnen hervor. Meraviglia schüttelte heftig den Kopf und blickte erschrocken zur Frau. Diese grinste ihr jedoch nur frech ins Gesicht.

    „Du machst dich jetzte lieber vom Acker, Kleene", meinte sie schadenfroh und deutete auf zwei dunkle Gestalten, die sich an der Tribüne entlang durch die Menschenmenge zu ihr drangen. Meraviglia trat der Schweiß auf die Stirn. Sie wollte zurück laufen, doch die Menschen grinsten nun ebenfalls schadenfroh. Sie würden sie nicht entkommen lassen. Sonst wäre das schöne Spektakel ja sofort vorbei.

    „Jetzt nicht schüchtern sein", rief der zahnlose Dieb lachend. Und bevor Meraviglia es sich versah, hatte er sie bei den Hüften gepackt und auf die Bühne gehoben.

    „Iiiiih", schrie Maltrice, als wäre ihr gerade eine Ratte über die Schuhe gelaufen. Doch ihr Schrei ging im Jubel der Leute unter.

    „Unsere Thalassa!", rief jemand und sofort übernahm die Menge die Rufe.

    „Thalassa! Thalassa! Zeig’s ihm! Gib dich nicht geschlagen!"

    Signore Gorgonzola, der das Schauspiel für einen Moment perplex beobachtet hatte, brauchte nur einmal zu nicken und schon kamen die dunklen Männer von beiden Seiten die Tribüne hochgeklettert und schnitten ihr den Weg ab.

    „Ergreift sie!", rief der Bürgermeister wütend, während die lauten Rufe der Meute mit Meraviglias Panik anstiegen.

    Was tun? Wohin fliehen? Die Situation war aussichtslos! Kein Weg nach vorn, kein Weg zur Seite, es blieb nur noch… Meraviglia schluckte schwer. Bevor die zwei Männer sie am Mantel packen konnten, drehte sie sich auf dem Absatz um, sprintete los und sprang in die Fluten des Flusses.

    Brr! War das kalt! Wellen umschlossen ihren Kopf. Ihre Kleidung und ihr Seesack sogen sich voll Wasser und zogen sie in die Tiefe. Eine Unterwasserströmung erfasste Meraviglia. Die Piratin versuchte dagegen anzukämpfen, aber der schwere Seesack zog sie weiter in die Fluten. Die Luft wurde knapp. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie band den Sack los und kämpfte sich zurück an die Oberfläche. Atemlos schnappte sie nach Luft, als ihr Kopf aus den Fluten brach.

    „Hey! Dieser Fluss ist nur für Gondeln!", rief ein empörter Gondoliere und versuchte sein Boot nicht gegen Meraviglias Kopf treiben zu lassen, was ihm nur mäßig gelang. Das Mädchen, dessen nasse Kleidung unablässig versuchte sie in die Tiefen zu ziehen, klammerte sich an das rettende Holz, doch der Gondoliere schlug ihr auf die Finger.

    „Hier wird niemand spazieren gefahren. Ne Überfahrt kostet nen halben Taler."

    Meraviglia rechnete kurz nach, ob sie sich den Luxus leisten wollte und ein Blick zurück zum Kathedralsplatz nahm ihr die Entscheidung ab. Die Tribüne und der wütende Bürgermeister waren kaum noch zu sehen, doch die Rufe der Menge waren lauter als zuvor.

    „Sie holt den Ring zurück!, rief jemand. „Den Dicken würde ich auch nicht nehmen, ein anderer.

    „Wie viel kostet es, wenn ich im Wasser bleibe?", fragte Meraviglia. Sofort erntete sie einen missmutigen Blick und etwas, das sich anhörte wie Knauseriges Volk.

    Nachdem der Preis ausgehandelt war, zog der Mann sie mit seiner Gondel ans andere Ufer und ließ sie an einer Anlegestelle, weit weg von den Augen Neugieriger, an Land.

    Was für ein Ärgernis!, dachte sie sich. So hatte sie sich den Anfang ihres Lebens in der Stadt nicht vorgestellt.

    Was soll’s! Ändern konnte sie es nun auch nicht mehr. Dann blieb nur, sich über die kleine Abkühlung zu freuen.

    Doch hätte Meraviglia in diesem Moment gewusst, welch mächtigen Feind, sie sich gerade gemacht hatte, sie hätte sich zurück auf die Levanta gewünscht. Signore Carlozzo Gorgonzola war kein Mann, der Ruhm gerne teilte. Und ganz besonders keiner, der es einfach so hinnahm, wenn man sich auf seine Kosten amüsierte. Während Meraviglia am Ufer ihren Hut und ihren Gehrock auswrang, würgte Gorgonzola in seinen Händen den Hals des Mädchens, das ihn vor der ganzen Stadt lächerlich gemacht hatte.

    Das würde sie ihm büßen, schwor er sich. Er würde sie finden und dann würde sie es ihm büßen!

    2. Der tanzende Frosch

    Mit Wasser in den Stiefeln und Algen in den Haaren beschloss Meraviglia, dass sie genug Abenteuer für einen Tag gehabt hatte und dass es an der Zeit war, eine Bleibe zu suchen. Sie war in dieser Hinsicht nicht wählerisch: Jahre auf einem Piratenschiff hatten sie gelehrt, an den unmöglichsten Orten zu schlafen (Holzfässer konnte sie am wenigsten empfehlen).

    Doch egal wo sie hinkam, schon an der Tür sagte man ihr, sie solle schleunigst wieder verschwinden. Allem Anschein nach mochte man in Braccio keine Fremden. Natürlich durften Seeleute das Hafenviertel nicht verlassen, aber eine Stadt, die vom Handel lebte, durfte bei ihren Gästen doch nicht so wählerisch sein.

    Nicht einmal, als sie den Ohrring abgenommen, den großen Piratenhut unter ihrer Jacke verstaut hatte und sich den Gehrock so tief herunterzog, dass man ihre Hosen nicht sehen konnte – nicht einmal dann wollte sie jemand aufnehmen. Der Tag, der mit großen Hoffnungen angefangen hatte, wollte sich in einem einzigen Desaster zu Bett begeben.

    „Und wenn ich im Stall schlafen muss, ich finde etwas!", rief Meraviglia entschlossen. Sie wollte sich von der Ablehnung nicht unterkriegen lassen. Was für ein Pirat wäre sie sonst?

    Ohne es zu bemerken, verließ Meraviglia über eine unauffällige Brücke, die genauso gut ein kleiner Weg hätte sein können, die zentrale Insel der Stadt und geriet in ein weniger belebtes Viertel. Die Straßen wurden enger. Die Häuser wurden kleiner. Traurig blickten die grauen Fenster, hinter denen kein Licht zu sehen war, sie an.

    Das Viertel, wie Meraviglia später erfuhr, hieß Blancapella, so benannt nach einer weißen Kapelle, die den Mittelpunkt der kleinen Insel bildete. Diese war in der Vergangenheit tatsächlich einmal weiß gewesen, doch der Staub der Zeit hatte sie in bescheidenes Grau gefärbt.

    Den Bewohnern des Viertels war es ähnlich ergangen. Ihre Augen waren müde zu Boden gesenkt, ihre

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