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Die Geheimnisse meines Großvaters: Ein fiktiver Roman mit autobiografischen Zügen
Die Geheimnisse meines Großvaters: Ein fiktiver Roman mit autobiografischen Zügen
Die Geheimnisse meines Großvaters: Ein fiktiver Roman mit autobiografischen Zügen
eBook445 Seiten6 Stunden

Die Geheimnisse meines Großvaters: Ein fiktiver Roman mit autobiografischen Zügen

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Über dieses E-Book

Anfangs wird der Leser zur kriminalistischen Feinarbeit verführt, indem in alten Dokumenten nach der Wahrheit gesucht wird. Denn die Geheimnisse schwirren jahrelang durch die Familie, ohne dass sie je aufgeklärt werden können. Doch die nachträglichen Recherchen holen die Wahrheit ans Licht und inszenieren eine dramatische Familiengeschichte, die ihren Anfang vor über einhundert Jahren hatte. Dabei steht die Schuld im Vordergrund, die sich Arnold und Ernestine Bauersfeld 1907 aufgeladen haben: Der Tod eines Menschen und das Verleugnen eines Kindes.
Die weiteren Jahre dieses Paares sind geprägt von Angst und Schuld. Sie leben in der ständigen Befürchtung, es könnte jemand hinter ihre Geheimnisse kommen, denn fast alle Familienmitglieder sind noch ahnungslos. Jedoch immer mehr Menschen erfahren ungewollt davon und bilden damit eine Gefahr vor Entdeckung. Eine Entdeckung hätte für Arnold eventuell auch strafrechtliche Folgen. Diese ständige Angst macht ihre Ehe kaputt. Vor allem die Schuld belastet Ernestine, weil ihr auch Gott, den sie ständig um Vergebung bittet, scheinbar nicht helfen kann, so dass aus der gütigen und lebensfrohen Frau eine alte, schrullige Person wird. Trotz Reue leidet sie unter dem schizophrenen Zustand, also unter der Verleugnung ihres eigenen Kindes, am meisten.
Die gesamte Geschichte ist frei erfunden, die Personen sind jedoch real. Der Ausgangspunkt für diesen Roman liegt in meiner Familie, in der es diese Geheimnisse gab, die sich aber nicht mehr klären ließen. Meine Großeltern nahmen ihr Geheimnis mit ins Grab. Somit habe ich eine fiktive Erklärung selbst inszeniert, wie es hätte gewesen sein können. Gleichzeitig spiegelt der Roman die Zeit um den ersten Weltkrieg wieder sowie auch die der Weimarer Republik.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Sept. 2014
ISBN9783847612773
Die Geheimnisse meines Großvaters: Ein fiktiver Roman mit autobiografischen Zügen

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    Buchvorschau

    Die Geheimnisse meines Großvaters - Klaus Auerswald

    1. Teil

    Eigentlich hatte ich, Klaus Bauersfeld, vor, eine Familienchronik, also meine Familiengeschichte, nun endlich einmal nieder zu schreiben, für die es einen riesigen Fundus von Informationen gab, deren Daten ungefähr fünfhundert Jahre zurückzeigen, fünfhundert Jahre zurück ins Reich der Vergangenheit. Dieser Fundus lagerte schon jahrelang in meinem Schreibtisch und war das Ergebnis vieler Besuche in Archiven, Pfarrämtern und Bibliotheken. Seit dem Tod meiner Mutter im Jahre 1993 beschäftigte ich mich mit der Erforschung unserer Familie. Auch ihre umfangreichen Hinterlassenschaften animierten mich dazu.

    Doch dann, schon nach den ersten Zeilen fiel mir ein, dass ich doch vor etwa vierzig Jahren, also so in den Siebzigern, mich schon einmal hingesetzt und die Erinnerungen an einen Teil meiner Kindheit aufgeschrieben und dazu die Erzählungen meines Großvaters Arnold mit eingefügt hatte. Es waren Erinnerungen an die vielen Gespräche mit ihm, aus dem Jahre 1957. Ich, als ein Schuljunge von neun Jahren und er, als Rentner von zweiundsiebzig Jahren. Eine zeitlang hatte ich ihn damals täglich besucht, kurz nach dem Tod seiner Frau Ernestine, meiner Großmutter. Er erzählte mir Geschichten von seiner Kindheit, von seinen Geschwistern und überhaupt von seiner ganzen umfangreichen und großen Familie Bauersfeld. Da erfuhr ich viele spannende Erlebnisse aus längst vergangen Zeiten, und gleichzeitig ergaben diese eine große Menge an Daten und Informationen, die ich mir alle eigentlich gar nicht hätte merken können. Deshalb notierte ich mir hinterher immer stichpunktartig die Gespräche. Zum Teil hatte ich dann auch Tage später bei Opa noch einmal nachgefragt, wenn ich irgendetwas nicht verstanden oder wieder vergessen hatte. Viele Jahre später, als mein Opa schon gestorben war und auch mein Vater, machte ich aus diesen Stichpunkten eine kleine Erzählung. Und genau diese Erzählungen, so vermutete ich, gehören hier doch in die gesamte Familienchronik mit hinein, auch wenn es nur ein Teil der Familie war, nämlich der väterliche. Also unterbrach ich erst einmal meine Schreiberei und begab mich auf die Suche nach diesen Geschichten, die ich damals komplett in eine alte Schreibmaschine, in eine „Continental", getippt hatte.

    Die große Frage lautete also jetzt, wo sind die Blätter, diese Schreibmaschinenblätter, die ich auch damals schön zusammen geheftet hatte, so konnte ich mich erinnern? Wo hab ich sie hingeräumt? Inzwischen waren wir ja schon etliche Male umgezogen, ohne dass sie mir wieder in die Hände gefallen waren. Hoffentlich sind sie nicht verschwunden! Rechts unten im großen Büroschrank befinden sich doch eigentlich meine literarischen Anfänge, viele dicke Berge, mehrere nebeneinander. Ach herrje, die müsste ich mal alle durchlesen. Bestimmt ist das Meiste unbrauchbar, viel Unsinn aus meinen frühen Jahren. Ich setzte die Stapel hoch und nebeneinander auf den Schreibtisch und begann zu blättern. Durchlesen war nicht möglich, dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Ich suchte einen grünen Schnellhefter, so war es mir noch in Erinnerung, einen ziemlich dicken. Doch vergeblich, hier in diesem Schrank fand ich nichts. Auch an anderen Stellen im Büro war meine Suche umsonst.

    Irgendwann, heute am frühen Morgen, hatte meine Schwiegertochter Enkel Adrian bei uns abgegeben, wie so oft. Eventuell hatte sie heute noch, nach der Arbeit, einen Arzttermin oder es gab irgendeinen anderen Grund. Adrian, der schon sechs Jahre war und mit Zweitnamen Arnold hieß, nach meinem Großvater, saß in der Stube auf dem Fußboden bei seiner Oma und spielte friedlich mit Papierschnipsel und einer Schere.

    Da ich die Suche in meinem Büro vorerst aufgegeben hatte, ging ich in die Küche, holte mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank und begann ihn mir schmecken zu lassen. Mit dem Becher in der Hand und in Gedanken, ging ich in die Stube und sogleich fragte mich mein Enkel, ob er mal kosten dürfe. Natürlich hatte ich nichts dagegen und er riss schon seinen Schnabel auf. Ich schob ihm einen Löffel voll hinein, den er, vielleicht etwas zu schnell, mit den Worten quittierte: „Mhhhm, lecker." Denn eigentlich konnte er so schnell den Geschmack noch gar nicht festgestellt haben. Es sollte wohl mehr die Freude zum Ausdruck bringen, dass ich überhaupt so nett war, ihn kosten zu lassen. Doch dann schmeckte ihm der Heidelbeerjoghurt tatsächlich, so dass ich nichts mehr davon abbekam. Das hatte ich nun davon! Aber für meinen Adrian ließ ich das schon durchgehen. Ich besann mich dabei, dass ich auch noch auf dem Boden eine Menge alte Schätze liegen hatte. Aber der war so groß und so voll, wie sollte ich da alles alleine finden?

    „Nun, was meinst du, Adrian, fragte ich ihn, „wollen mir mal auf den Boden gehen? Ich muss da etwas suchen. Da kannst du mir ein bisschen helfen!

    „Was denn?", fragte er.

    „Ich suche einen Schnellhefter, einen dicken Hefter mit vielen Zetteln drin! Und mit vielen Geheimnissen. Das Wort „Geheimnis wirkt immer bei Kindern, das wusste ich!

    Es wirkte bei ihm tatsächlich! Aber es bewirkte auch in mir etwas! Während ich dieses Wort so einfach und gedankenlos ausgesprochen hatte, nur um die Sucherei für meinen Enkel etwas spannender zu machen, kam es mir in den Sinn: Es gab doch damals tatsächlich noch irgendwelche Geheimnisse! Wie war denn das damals? Irgendetwas war doch da nicht in Ordnung in unserer Familie. Irgendwo lag doch noch eine Leiche im Keller. Doch ich kam nicht darauf.

    „Na gut, sagte Adrian schnell. „Gehen wir eben mal auf den Boden! Und er stand auf und wollte sofort zur Tür. Doch Oma intervenierte erst einmal:

    „Halt, halt, erst einmal die Hausschuhe anziehen, da oben ist es kalt! Und sie schnappte sich ihren Enkel. „Und noch eine Jäckchen drauf ziehen, wir haben fast Winter!, befahl sie.

    Als Adrian fertig angeputzt war, lief ich mit ihm und einer Taschenlampe auf den Boden, der sich genau über uns befand, denn wir wohnten im vierten Stock. Unterwegs überlegte ich die ganze Zeit, was das wohl für Geheimnisse waren, aber ich kam beim besten Willen nicht darauf. Auch schon deshalb nicht, da Adrian mich ständig unterhielt, also einfach so darauf los schnatterte, wie es in dem Alter üblich ist und eigentlich auch nicht weiter stört.

    Lange durchstöberten wir den verstaubten Boden, suchten nach den alten Aufzeichnungen, dem alten Schnellhefter, alle Kästen öffneten wir, Kartons schoben wir zur Seite, alle Schreibtischfächer durchforsteten wir, doch vergeblich. Es blieb nur noch eine Möglichkeit: Die alte Holztruhe. Damit hatten wir nun die unangenehme Aufgabe, diese große, dunkle Truhe freizulegen, die aus Platz gründen völlig voll gestellt und verbaut war. Alle Kisten und sonstiges Gerümpel räumten wir in den Gang, bis der Deckel frei gelegt war und geöffnet werden konnte. Adrian half mir fleißig bei der staubigen Räumerei. Langsam öffneten wir dann den schweren Deckel. Es knarrte und quietschte spannend. Adrian hatte die Taschenlampe in der Hand und leuchtete hinein, so dass es geheimnisvoll schimmerte. Ich sah bei ihm ein paar Angstfalten auf der Stirn. Hoffentlich sind da keine Geister drin, dachte er sich wohl. Ich fing an, vorsichtig alles auszuräumen. Bücher, Ordner, Kassetten, Kerzenständer, Schuhe, Puppensachen und vieles mehr kamen zum Vorschein. Und dann, tatsächlich, ganz unten, fanden wir diese grüne Mappe von mir, aus den siebziger Jahren, ziemlich zerfledert. Sie war also ungefähr vierzig Jahre alt, schon fast ein antikes Stück. Ich hatte dieses Geschreibe von mir seit damals nie wieder in den Händen gehabt. Mir wurde bei dem Anblick ganz anders. Was werde ich vorfinden? Ich war gespannt. Und daneben, da fanden wir auch noch die Kiste mit den alten Dokumenten von meinem Opa, die ich nach seinem Tod geerbt hatte. Oder war es nach Vaters Tod? Wir verließen unaufgeräumt den Boden, denn für die Ordnung hatte ich jetzt keine Zeit. Ich musste lesen.

    Allerdings bekam ich nun Adrian nicht so schnell wieder los. Denn für ihn war das wichtigste das „Geheimnis". Das hatte er sich gemerkt:

    „Opa, und wo sind jetzt die Geheimnisse?" fragte er als wir wieder in der Wohnung waren.

    „Ach, die sind hier drin, zwischen den Zetteln!"

    „Zeigst du die mir?"

    „Ja, später, da muss ich aber erst einmal alles durchlesen. Und das dauert eine Weile. Gehst du erst einmal wieder zur Oma. Ich hol dich, wenn ich sie habe."

    Damit übergab ich Adrian wieder eiligst meiner Frau und verkroch mich schnell in mein Büro, wo ich die Akten auf den Schreibtisch legte. Ich klappte den Deckel auf, blätterte erst einmal darin herum und staunte über die große Anzahl von Seiten. Und ich erkannte an den Jahreszahlen über den einzelnen Abschnitten, dass es keine reine Chronik war, sondern mehr Familienerinnerungen von damals, Erinnerrungen an die Zeit mit meinem Opa.

    Ich begann zu lesen, als Überschrift gesperrt:

    „Meine Familie Bauersfeld und unter der Überschrift: „geschrieben Sommer 1976 von Auix, vor einem halben Jahr starb mein Vater.

    Tatsächlich, im Februar 1976 starb mein Vater. An einem Herzinfarkt. Vielleicht in Erinnerung und als Trauerarbeit hatte ich mich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt daran gemacht, die Geschichte meiner Familie Bauersfeld aufzuschreiben. Ich weiß es nicht mehr genau.

    Und noch etwas war an dem Untertitel bemerkenswert: Ich hatte damals, als Autor, meinen Spitznamen verwendet: „Auix. So nannten mich damals alle meine Freunde und auch meine Frau. Also werde ich auch zur Unterscheidung in Zukunft diesen Eigennamen hier weiter verwenden, wenn es um die alten Dokumente geht. Ich hoffe, Sie, lieber Leser, kommen mit meiner „gespaltenen Persönlichkeit klar:

    M e i n e F a m i l i e B a u e r s f e l d

    ============================

    geschrieben Sommer 1976 von Auix, vor einem halben Jahr starb mein Vater!

    1976 Vorgeschichte:

    ------------------------

    1947, in den Jahren der Armut und des Mangels, war ich in Dresden in eine kaputte Welt hineingeboren worden. Die Bomben der Alliierten hatten Dresden zerstört, als Rache und Vergeltung für Hitlers Größenwahn. Und der Aufbau ging nur schleppend voran. Aber kaputt war auch unsere Familie. Mein Vater Walter hatte uns, als ich zwei Jahre alt war, nach langen schlimmen Familienstreitigkeiten verlassen, wegen einer anderen Frau und wahrscheinlich auch wegen der mangelhaften Erledigung von Haushaltspflichten meiner Mutter Christine, so begründete er jedenfalls mir und meiner Schwester Gisela gegenüber diesen einschneidenden Schritt später. Denn wir hatten trotz Scheidung immer Kontakt zu ihm; dass hatte er gerichtlich erkämpft. Und noch ein weiterer, Familien zerstörender Aspekt kam hinzu, wie wir auch erst später erfuhren. Das waren die politischen Auseinandersetzungen im Hause Bauersfeld.

    Meine Mutter Christine, geborene Werner, kam aus einer kleinbürgerlichen, nationalsozialistischen Familie. Alle Werners waren in der NSDAP und dies freiwillig und überzeugt. Wo diese Liebe für den Führer herkam wäre eine eigene Geschichte. Die Mutter von ihr, Elisabeth Werner, meine Omi, wie wir sie liebevoll nannten, war sogar bis 1945 Blockwart, was damals, im Dritten Reich, eine richtige Denunziantenposition war. Wie sehr sie tatsächlich zum Täter geworden war, ist nicht bekannt. Für mich im Nachhinein eigentlich nicht vorstellbar, denn sie war eine feinsinnige und musisch gebildete Frau, die ihr Leben lang nichts anderes gemacht hatte, als auch ihre Kinder an die Musen heranzuführen, auch in Zeiten, als es ihnen noch finanziell schlecht ging. Einst konnten sie sich zum Dresdner Bildungsbürgertum zählen.

    Doch das Schicksal schlug 1945 erbarmungslos zu, trotz Nazitreue. Am 13. Februar zerstörte ein Volltreffer das Mehrfamilienhaus auf dem Münchner Platz, in dem sie mit ihrer Familie im Erdgeschoss wohnte. Von der Straße aus musste sie zusehen, wie ihr kostbarer, schwarzer Blüthner-Flügel und all die anderen wunderbaren Möbel, ein Opfer der Flammen wurden. Es war nichts mehr zu retten. Sie war somit ausgebombt, mittellos, wohnungslos mit über fünfundsechzig Jahren, ein Drama was sie nicht begreifen konnte.

    In dieser großen, geräumigen Wohnung mit sonniger Veranda, in der sie als staatlich geprüfte Klavierlehrerin und wunderbare Pianistin vielen Kindern und Jugendlichen Klavierunterricht erteilt hatte, lebte sie bis zu diesem dramatischen Zeitpunkt nur noch mit ihrem ersten Kind, der Tochter Susel – NSDAP- und BDM-Mitglied, die jedoch zwei Jahre später an Lungenentzündung und Unterernährung starb. Ihr zweites Kind, ein Junge namens Rudolf, auch ein begnadeter Pianist mit Hochschulabschluss, Musiklehrer, Dirigent, Gründer und Leiter der Jugendmusikschule in Dresden, NSDAP-Mitglied und HJ-Führer war schon ein halbes Jahr zuvor als Offizier der Wehrmacht für „Führer, Volk und Vaterland" in Holland gefallen. Meinen Großvater mütterlicherseits, also Elisabeths Mann, kannten wir gar nicht, denn er war schon 1914 an TBC verstorben und in Hellerau begraben. Er war somit natürlich kein NSDAP-Mitglied und vielleicht wäre er es auch nie geworden und vielleicht wäre dann die ganze Familiengeschichte auch anders verlaufen.

    Ihr drittes Kind, Christine Werner – auch NSDAP-Mitglied, meine Mutter, hatte 1941 den Technischen Zeichner Walter Bauersfeld kennen gelernt. Er war ein überzeugter Gegner des nationalsozialistischen Geschreis, was damals selten und gefährlich war. Natürlich war er damit auch ein Kriegsgegner. Er kam aus einer liberalen Arbeiterfamilie, die allerdings auch nichts mit irgendwelchen kommunistischen Strömungen zu tun haben wollte, denn jegliche Diktatur war ihnen suspekt. Er war also kein aktiver Widerstandskämpfer, aber immerhin ein bekennender Demokrat.

    Walter war ein großer stattlicher Mann, mit streng nach hinten gekämmten Haaren und Geheimratsecken. Stets war er tadellos gekleidet, mit Binder und Jackett und machte somit großen Eindruck auf die Frauenwelt. Mit seinem Witz und Charme und seiner Intelligenz flogen ihm die Frauen zu, was er freundlich aber auch zurückhaltend bemerkte. Mitunter eroberte er auch in kleinen Gaststätten mit seinen musikalischen Talenten die Herzen der Frauen, wenn er auf einem verstimmten Klavier einen zünftigen Marsch oder eine Polka hinschmetterte, stets mit voll durchgetretenem Pedal, dass es nur so hallte. Neben Klavier spielte er noch Geige, wenn auch beides recht mäßig, doch für einen stimmungsvollen Abend reichte es immer. Offensichtlich wurde er von der Frauenwelt als hübsch und sympathisch empfunden, was ich als sein Sohn und als ein Mann nicht so richtig beurteilen kann. Auf Fotos ist er jedenfalls oft mit verschiedenen jungen und attraktiven Fräuleins zu sehen. Mit zweiunddreißig Jahren jedoch schien es so, als ob er die Richtige getroffen haben solle, meine Mutter, welche auch eine sehr hübsche Frau von einunddreißig Jahren war, fröhlich, lebenslustig und musisch begabt. Jedoch, wie es so ist, die blind machende Liebe verdeckte die zu erwartenden politischen Diskrepanzen. Vielleicht waren sie aber auch beide der Meinung, dass diese Unterschiede keine große Rolle spielen können, wenn man sich liebt und wenn es auch noch andere schöne Gemeinsamkeiten gibt, zum Beispiel eben die Musik. So heiratete er also 1942 in eine nationalsozialistische Familie ein und ein Jahr später schon kam meine Schwester Gisela zur Welt.

    Aber die politischen Differenzen spielten eben doch eine erhebliche Rolle. Vermutlich hatte schon das eine Jahr gereicht, um die Beziehungen zur Familie Werner einfrieren zu lassen, denn auf den Familienfotos sind, bis auf die Hochzeitsbilder, die beiden Familien zusammen nie zu sehen. Nach der Geburt von Gisela wohnte meine Mutter immer noch zu Hause auf dem Münchner Platz bei ihrer Familie Werner und mein Vater bei seinen Eltern in Briesnitz, bis sie dann 1943 endlich eine Wohnung auf der Gottfried-Keller-Straße zugewiesen bekamen. Während dieser Zeit war also mein Vater nur manchmal zu Besuch bei seiner Frau und seiner Tochter, so dass er das eigentliche Babydasein und die damit verbundenen Schwierigkeiten kaum bemerkte. Sie führten sozusagen eine Wochenendehe. Der Zusammenzug als dreiköpfige Familie nach Briesnitz war für alle dann eine wesentliche Umstellung, vor allem für Walter, da jetzt seine Ruhe vorbei war, und der tatsächliche und alltägliche Kinder- und Familienkram begann. Das war nicht ganz einfach für ihn, denn er war natürlich berufstätig und musste früh zeitig raus. Entsprechend des typischen Rollenbildes im Dritten Reich war er der Ernährer und Christine zu Hause und zuständig für Kind und Küche.

    Den Kontakt zu Christines Familie mied Walter jetzt, wo es nur ging. Christine musste, auch am Wochenende, allein mit ihrer Tochter den Weg zu ihrer elterlichen Wohnung gehen oder fahren, um zu ihrer Mutter Elisabeth und zu ihren Geschwistern Rudolf und Susel auf dem Münchner Platz zu kommen. Das war von Briesnitz aus nicht gerade nah. Walter konnte diese nationalsozialistische Gesellschaft nicht mehr ertragen.

    Christine nutzte die Hausfrauenzeit auch für alle möglichen schönen Dinge des Lebens, so eben auch für Besuche zu Hause bei ihrer Mutter, aber auch für das, was sie am Liebsten machte: Klavierspielen. Auch sie war eine wunderbare Pianistin, jedoch ohne staatliche Ausbildung. Alles was sie konnte, hatte sie von ihrer Mutter und von ihrem vier Jahre älteren Bruder Rudolf gelernt. Mit den musikalischen Interessen beider meiner Eltern war eine Gemeinsamkeit vorhanden, die in häufige und schöne Hausmusikabende mündete, auch wenn, im Gegensatz zu meiner Mutter, mein Vater mehr der heiteren und leichten Muse zugeneigt war. Bei Operettenstücken oder bunten Walzern fanden sich die beiden Eheleute aber doch immer wieder.

    1945, nach der Bombennacht von Dresden, nahmen meine Eltern die arme, ausgebombte Mutter Elisabeth, meine Omi, nicht bei sich auf. Diesen notwendigen Schritt des Erbarmens war mein Vater nicht in der Lage, zu gehen. Aus der Eiszeit war gegenseitiger Hass geworden, dessen Ursache nicht nur bei meinem Vater lag. Denn wie aus Briefen hervorgeht, hatte Elisabeth irgendwann sogar vorgehabt, meinen Vater wegen seiner staatsfeindlichen Reden gegen den „geliebten" Führer anzuzeigen. Ebenso war meine Omi zu stolz, ihren Schwiegersohn zu betteln, sie aufzunehmen. Meine Oma zog zusammen mit ihrer Tochter Susel zu einer guten Freundin, die zwar selber kaum Platz hatte, aber dafür umso mehr Erbarmen.

    Als das Dritte Reich kapitulieren musste und das Recht sich auf meines Vaters Seite stürzte war er natürlich der private Sieger im Streit um eine politische Gesinnung. Es war für ihn eine Genugtuung, und er konnte jetzt gefahrlos über den braunen Idioten mit samt seiner Verbrecherhorde, die Deutschland zerstört und ruiniert hatte, schimpfen und seinem Herzen lauthals Luft machen. Doch nach dem Untergang des Dritten Reiches kam es zu neuen, zu anderen Katastrophen. Die plündernden und sich an Frauen rächenden Russen fielen in deutsche Wohnungen ein und in deren Windschatten auch noch die Polen, ebenfalls um sich zu bereichern, an dem, was es noch so zu holen gab. Die Deutschen hatten jedes Recht verwirkt. Nicht als Befreier wurden die Russen und die Polen wahrgenommen, sondern als ein Schreckgespenst. Und so stand eine Horde Polen im Mai 1945 plötzlich vor der Wohnungstür meiner Mutter, die ihre Gisela auf dem Arm hatte, stürmten mit den Worten „Uri, Uri" in die Wohnung, verwüsteten sie komplett in der hastigen Suche nach Wertgegenständen, nahmen mit, was ihnen wichtig erschien, unter andern die wertvollen Daunenbetten und aus dem Keller die Fahrräder und verschwanden wieder. Meine Mutter ließen sie heulend und verzweifelt zurück. Dass es zu keiner Vergewaltigung gekommen war, könnte an dem Kind auf dem Arm meiner Mutter gelegen haben oder es war einfach Glück. Leider war mein Vater zu dieser Zeit auf Arbeit oder auf dem Land, um Nahrung zu besorgen. Das ist nicht ganz klar. Jedenfalls war er nicht da. Wäre er da gewesen, ich glaube entweder er oder die Polen würden nicht mehr leben, so kräftig und despotisch wie er war.

    All diese Ereignisse änderten aber an der Familiensituation nicht viel, auch wenn mein Vater nach dieser Ausplünderung seine Frau tröstend in die Arme nahm und Wut speiend diese „polnischen Schweine" beschimpfte. Allerdings war ja meine Mutter auch nach dem Überfall weiterhin eine schlechte Hausfrau, so meines Vaters Worte. Das wurde ja damit nicht besser. Und dann war ja da noch die attraktive Nachbarin. Mit diesem durchtriebenen Weibsstück erwischte meine Mutter ihren Mann gleich mehrmals, so meiner Mutter Worte. Aber meine Mutter wollte keine Trennung, noch nicht, sondern sie flehte um Versöhnung und war bereit zur Vergebung.

    Als dann meine Mutter plötzlich noch einmal schwanger wurde, nämlich im Frühjahr 1947, mit mir, mitten in der Ehekrise, unterstellte mein Vater ihr, ihn wissentlich verführt zu haben, um ihn mit der Schwangerschaft zu binden. Er verlangte meine Abtreibung. Das nahm ich ihm übel, obwohl mir das meine Mutter erst erzählte, als ich schon erwachsen war, doch erfühlt hatte ich dies schon lange. Natürlich nicht konkret die Abtreibung sondern sein Verhalten mir gegenüber. Er mochte mich nie, das spürte ich. Zwei Jahre quälte sich die Familie Bauersfeld auf der Gottfried-Keller-Straße noch so dahin. Dann, 1949 reichte meine Mutter doch die Scheidung ein und nach mehreren Gerichtsterminen wurde die Ehe geschieden. Es gelang meinem Vater nicht, das Sorgerecht für uns Kinder zu bekommen, obwohl er alle Hebel in Bewegung setzte. Zumindest ich war im Nachhinein froh darüber.

    Nach dem Auszug meines Vaters wieder zu seinen Eltern, zog nun unsere Omi bei uns ein, die inzwischen ihre Tochter Susel begraben hatte und jetzt schon siebzig Jahre alt war. Ihr wurde von verschiedenen Seiten vorgeworfen, dass sie die Scheidung massiv mit betrieben haben soll, was wir als Kinder natürlich nicht einschätzen konnten und sie uns deshalb trotzdem lieb war. Aber vermutlich war es tatsächlich so, denn sie mochte meinen Vater von Anfang an nicht. Sie übernahm jetzt die Betreuung von uns und den Haushalt, während meine Mutter voll berufstätig sein musste. Als Stenotypistin übernahm sie eine Stelle im Trafo-Werk Dresden.

    1954

    Alle vierzehn Tage mussten wir Kinder uns an einem Sonntag mit unserem Vater treffen, zumindest war das so, seitdem ich Denken und Laufen konnte. Für mich waren diese Sonntage keine so erfreulichen Ereignisse, aus besagtem Gefühl. Es war der Sommer 1954. Mein Vater hatte die Nachbarin geheiratet und war mit ihr auf die Zirkusstraße gezogen, in eine gerade neu erbaute Wohnzeile der Dresdner Innenstadt, welche so ziemlich der erste Lichtblick des Neuaufbaus nach dem Krieg war. Da die vereinbarten Treffen immer bei meinen Großeltern stattfinden sollten, musste auch er sich rechtzeitig auf den Weg machen. Mit der Straßenbahn fuhr er von der Innenstadt bis zum Warthaer Platz und lief dann hoch zu seinem Elternhaus.

    Und auch wir Kinder waren auf dem Weg, ohne Straßenbahn. Fein herausgeputzt mit blinkenden Schuhen und sauberen Fingernägeln lief ich an der Hand meiner Schwester die Gottfried-Keller-Straße entlang. Da es Sommer war, hatte ich kurze Lederhosen an. Ich erinnerte mich an das Drama, welches jedes Jahr begann, wenn es kalt wurde. Dann musste ich im Herbst lange Strümpfe zu den kurzen Hosen anziehen, die mit einem Leibchen gehalten wurden. Manchmal schauten die Strumpfhalter unter den Hosen hervor. Wie peinlich! Und im strengen Winter war es noch schlimmer, da wurden mir lange, hässlich kratzende Unterhosen angezogen. Ich weigerte mich mit Tränen und Geschrei dagegen, aber meine Mutter war stärker. Wenn sie auch sonst ein gütiger Mensch war, aber beim Anziehen hörte der Spaß auf. Vor allem auch, weil es keine Wahl, keine Auswahl gab, in den Zeiten der Armut. Meist waren die Sachen schon getragen, von irgendeiner Kollegin gespendet oder billig eingekauft, von dem bisschen Geld, was meine Mutter verdiente. Aber all diese sorgenvollen Umstände waren mir natürlich egal, in diesem Alter. Mich kratzte das Zeug und da wollte ich nicht. Ich weiß allerdings auch noch, dass ich nach einigen Stunden die Unterhosen wie auf wunderbare Weise plötzlich nicht mehr spürte, sie also auf einmal nicht mehr kratzten. Mein Körper hatte sich daran gewöhnt. Darüber war ich froh und meine Mutter auch. Aber jetzt war Sommer und ich fühlte mich, wie immer, in den kurzen Sachen sehr wohl.

    Wir liefen also bis zu dem Platz, wo an der Ecke der große Schuhladen war. Es war der Warthaer Platz, der umringt war von vierstöckigen, aus Klinker gefertigten, Mehrfamilienhäusern der Jahrhundertwende, mehrheitlich bewohnt von Arbeiterfamilien. Es waren geschlossene Häuser mit mehreren Aufgängen, schon fast ein Wohnblock. Unten eingelassen waren mehrere kleine private Läden zur Versorgung der Bevölkerung. Linker Hand von uns der Lebensmittelladen Gräfe, daneben die Bäckerei Kern, wo wir zu Weihnachten unsere leckeren Stollen backen ließen. Mit dem Handwagen fuhren wir die Zutaten hin, die meist aus dem Westen waren, und mit Selbigen holten wir die fertigen Christstollen ab. Gegenüber, über den Platz hinweg, sah man den Milchladen Heinrich. Wir aber bogen jetzt rechts ab in die Weistropperstraße, die leicht bergan ging, und liefen eilig hoch bis zu einem weiteren großen Platz, dem Wilhelm-Raabe-Platz. Wir mussten uns beeilen, denn mein Vater bestand auf Pünktlichkeit. Sicher war er schon längst da. Zehn Uhr war ausgemacht und das hieß nicht fünf Minuten nach zehn. Zehn Uhr ist zehn Uhr. Linkerhand war eine Kneipe aus der schon am Sonntagmorgen Gläserklirren zu hören war und lautes Biertischgemurmel.

    „Die Männer sind zum Frühschoppen", klärte mich meine Schwester auf, die schon immerhin elf Jahre alt war und zur Schule ging.

    „Was ist ein Frühschoppen", fragte ich sie mit meinen fast sechs Jahren.

    „Du dummer Junge, das sagte sie immer zu mir, „das ist eben wenn die Männer in der Kneipe sind. Frag Vati, der geht auch manchmal zum Frühschoppen.

    Nein, den wollte ich nicht fragen, er antwortet mir sowieso nie richtig.

    Wenn wir uns mit unserem Vater treffen mussten, dann sollten wir immer fein angezogen sein und saubere Fingernägel haben. So, wie auch er stets korrekt angezogen war, mit Anzug und Schlips, so wie damals in den Fünfzigern alle Männer herum liefen, egal aus welcher Schicht sie kamen. Nur an der Qualität des Stoffes war der Unterschied zu erkennen. Kein Fleck an der Kleidung wurde geduldet, auch nicht bei uns Kindern. Sonst wurde ganz schnell unsere Mutter oder die Omi Elisabeth beschuldigt und beschimpft.

    Wir bogen in die Straße ein, wo Opa Arnold und Oma Ernestine wohnten. Sie hieß und heißt noch heute: „Auf der Scheibe". Ein seltsamer Straßenname. Keiner weiß mehr, wie es zu diesem Namen kam. In der Hausnummer neun wohnten sie, im Erdgeschoß, in einem dreistöckigen Mehrfamilienhaus, welches vereinzelt da stand, wie auch die anderen Häuser rechts und links davon. Vor Jahren war das Haus noch die Nummer 13. Da verschiedene Häuser inzwischen weggerissen waren, wurde eine Umnummerierung der gesamten Straße durchgeführt. Wahrscheinlich geschah das im Zuge der Eingemeindung von Briesnitz zu Dresden in den zwanziger Jahren.

    Wir waren pünktlich. Mein Opa empfing uns freundlich, wie immer, unsere Oma hingegen, so schien es mir, war nicht so begeistert. Ich glaube sie konnte mich auch nicht leiden. Vielleicht war es ihr auch nur zu viel, immer sonntags für so viele Leute zu kochen. Sie sah schlecht und krank aus. Viele Falten im Gesicht, kleine müde Augen und einen unfreundlichen Mund, deren Winkel stets nach unten zeigten, zum Fußboden, zur Erde, zum Grab. Und sie sollte auch nicht mehr lange leben. Lachen sah ich sie nie!

    Mein Vater saß wie immer auf der Fensterbank mit dem Rücken zum Küchenfenster, was weit geöffnet war und durch das er uns schon hatte kommen hören. Freundlich umarmte er erst meine Schwester, die ihm ein Küsschen auf die Wange gab, die er wie aus Gewohnheit hingehalten hatte und dann mich. Auch ich gab ihm ein Küsschen auf dieselbe Stelle, wobei mich sein Bart unangenehm störte. Es war eigentlich kein Bart, er war nur immer schlecht rasiert. Es biss sich mit seinem tadellosen Äußerem. Wenn er mich ärgern wollte oder necken, das war nicht so ganz klar, dann kratzte er seine alte, harte Wange an meinem jungen zarten Gesicht, was erheblich wehtat. Ich schrie dabei und bekam rote Flecken und er amüsierte sich. Wahrscheinlich war es als Spaß gedacht. Dies will ich ihm mal freundlichst unterstellen.

    Mein Opa saß, auch wie immer, auf dem Sofa in der Küche und zog an seiner Pfeife. Es war nicht anders üblich, als dass wir uns in der kleinen Wohnküche einfanden, dort Mittag aßen und auch unseren Tag verbrachten, was recht langweilig war. Denn eine Kinderbeschäftigung gab es nicht. Manchmal wurden mir ein Block und ein Bleistift gebracht, so dass ich am Küchentisch ein bisschen malen konnte. Das war auch langweilig mit der Zeit. Die 2-Raum-Schlauchwohnung hatte zwar noch ein elegantes, mit Bildern überladenes Wohnzimmer, mit einem alten Plüsch-Chaiselongue, einem verzierten Schreibtisch mit geschwungener Tischlampe und einem großen Ausziehtisch. Jedoch durfte die „Gute Stube" nur zu besonderen Festlichkeiten betreten werden. Ein kitschiges Gemälde aus den Zeiten der Spätromantik mit schweren barockimitierten Goldrahmen hing über dem Chaiselongue und zeigte mehrere Schwäne an einem Teich.

    Mein Opa hatte sich eine Pfeife gestopft und paffte genüsslich. Auch mein Vater hatte sich eine Zigarette angezündet, „Torf, eine übliche DDR-Marke ohne Filter, die zehn Pfennige kostete. Er war ein starker Raucher, was ihn selbst sehr ärgerte. Das abgebrannte Streichholz warf er in den alten Aschebecher von früher, auf dem „Ramses stand. Ich war in einem Alter, wo ich schon vor meinem Schulbeginn versuchte jedes Wort zu buchstabieren. Denn meine Schwester, die ja schon in die vierte Klasse ging, hatte mir viel beigebracht und ich war wissbegierig genug, um jeden Quatsch sofort zu lernen, auch das Lesen und Schreiben. Ich zog mir also den Aschebecher etwas heran, legte das Kinn auf den Tisch und fing mit dem Finger an zu buchstabieren: „R-a-m-s-e-s". Mein Vater beobachtete mich mit stolz:

    „Prima", sagte er und auch mein Opa freute sich:

    „Da brauchst du doch gar nicht mehr in die Schule zu gehen!"

    „Was ist denn Ramses?" fragte ich.

    „Das wirst du alles noch in der Schule lernen. Das war ein ägyptischer König! Und da muss man fragen ‚wer war Ramses’, nicht ‚was war Ramses’."

    Hier, in dem Falle, war es wohl aber die Reklameaufschrift für eine Zigarettenmarke, die es im Dritten Reich gab.

    Ich beobachtete meinen Vater beim Rauchen. Es sah elegant aus und war für mich verlockend.

    „Lässt du mich mal ziehen?"

    Er griente mich an und zog die Stirn in Falten. „Na, da komm mal her! Da musst du dir aber vorher noch die Hosen zubinden."

    Ich wusste zwar nicht, was das miteinander zu tun hatte, ging aber trotzdem hin ohne mir die Hosen zuzubinden. Als ich neben ihm stand, bewegte sich seine Hand mit der Zigarette auf meinen Mund zu. Und plötzlich spürte ich nicht die Zigarette an den Lippen, sondern einen Finger, seinen kleinen Finger. Er lachte schallend über seinen blöden Scherz. Mindestens einmal im Jahr wiederholte sich dieser Betrug, weil ich ihn immer wieder bettelte, mich mal ziehen zu lassen.

    „So weit kommt es noch, dass du an der Zigarette ziehst. Gewöhn dir das ja nie an, war sein Rat. „Es ist furchtbar, man kommt nicht wieder weg davon!

    „Und warum hörst du da nicht auf, wenn es furchtbar ist?"

    „Du dummer Junge, hab ich dir doch gerade gesagt, weil es nicht geht", antwortete er jetzt etwas ärgerlich.

    Als er aufgeraucht hatte, was ja bei der kurzen „Torf nicht lange dauerte, fluchte er wie zum Beweis für seine mahnenden Worte: „Verdammte Rocherei!, und drückte die Kippe im Aschebecher aus. Natürlich war sein Dialekt sächsisch, deshalb sagte er auch nicht „Raucherei sondern „Rocherei, wie alle Sachsen. Mein Opa sprach noch ein viel schlimmeres Sächsisch.

    Auch mein Opa hatte seine Pfeife ausgeklopft, denn der Tisch wurde zum Mittagessen vorbereitet. Es gab Goulasch mit Bohnen und Kartoffeln. Das war ein feines Essen für uns Kinder. Denn daran erinnere ich mich noch sehr genau, an den herrlichen Duft der dicken Schnittbohnen, der köstlich in der ganzen Küche herum schwebte. Niemand konnte diese Bohnen so schmackhaft kochen wie meine Oma. Frische grüne Bohnen aus dem Garten! Nicht von dem kleinen Garten vor dem Haus, nein, aus dem großen Gemüsegarten, den meine Großeltern auch noch bewirtschafteten. Er lag ein Stück vom Wohnhaus entfernt und war ca. 500 qm groß mit etlichen Obstbäumen und mehreren Gemüsebeeten. Solange ich noch Kind war, war dieser Garten für mich sehr nett. Viele Entdeckungen konnte man dort machen, Spiel und Spaß erleben, kleine Tiere beobachten und vernichten. Auch auf dem Weg zum Garten gab es einige interessante Beobachtungen. Gleich an der Ecke zur Warthaer Straße war eine Schmiede. Das laute Ping, Peng, Ping, Peng konnte man schon von weiten hören, wenn die Schmiedegesellen dabei waren, heißes, glühendes Eisen auf dem Amboss zu formen. Am Interessantesten war es jedoch, wenn ein Pferd „besohlt" werden sollte. Mehrere Männer hielten das Bein des Tieres nach hinten gereckt, fest im Griff und der Hufschmied passte das glühende Eisen an den Fuß an, wobei der Huf fürchterlich zu qualmen und zu stinken anfing. Danach schlug der Hufschmied mit gezielten Schlägen die Hufnägel ein, so dass das Hufeisen fest saß. Mehrfach versuchte das Tier, durch Zucken, dem Griff zu entkommen, woraus ich irrtümlich schloss, dass dem Pferd die ganze Prozedur wohl wehtun musste. Aber es war nicht so. Das Tier spürte nichts. Stundenlang konnte ich dabei zusehen, bis mein Opa mich ermahnte, endlich weiter zu kommen, denn wir wollten ja in den Garten. Noch war also der Garten für mich ein interessanter Erlebnisplatz, ein Spielplatz. Später jedoch, als mein Vater sah, dass ich schon zur körperlichen Arbeit in der Lage war, musste ich mithelfen, musste ich arbeiten. Umgraben, welch ein Graus und welch eine Anstrengung, die Wiese mähen, mit der Hand, mit der Sichel, wie denn sonst? Ich drückte mich, sooft ich konnte. Äpfel pflücken, das ging ja noch, auf Bäume klettern machte ich sowieso sehr gern, auch wenn nichts zu pflücken war.

    Also von dort, aus diesem großen Garten, kamen die köstlichen grünen Bohnen. Die Kartoffeln natürlich auch. Einen kleinen Garten vor dem Haus, wie schon erwähnt, hatten meine Großeltern auch noch, ein Handtuch von ca. 30qm, auf dem eine wacklige Sommerlaube stand und zwei Obstbäume. Zwischen den Bäumen war Rasen auf der eine weiße Ziege graste und ein paar Hühner herum rannten. Die Ziege hieß Lola und wurde täglich gemolken. Das war für uns immer der unangenehmste Teil des Besuches. Jedes Mal mussten wir eine große Tasse Ziegenmilch trinken, die fürchterlich schmeckte.

    Aber zurück zum Mittagessen. Die Kartoffeln standen schon dampfend auf dem äußeren Fensterbrett aus Zinkblech und kühlten langsam ab. Dabei bekamen sie schöne, zarte, weiße Flecken. Der Goulasch köchelte noch auf dem zweiflammigen alten Gaskocher. Auch das war eine Seltenheit zu jener Zeit, Fleisch zu bekommen. Sicher hatte es mein Opa vom Schlachthof mitgebracht, wo er noch immer zeitweise arbeitete, als Trichinenbeschauer. Er war ja inzwischen neunundsechzig Jahre alt, also schon Rentner. Jedoch von der kleinen Rente konnte niemand leben. Also gingen die Meisten solange arbeiten, bis sie nicht mehr konnten, oft bis sie starben. Wie er als gelernter Fräser und Feinmechaniker zu dem völlig nebenorientierten Beruf des Trichinenbeschauers gekommen ist, war nie klar und wird nun auch nicht mehr geklärt.

    Dann endlich kam meine Oma mit dem Töpfchen, worin die duftenden Bohnen brodelten, fast zum Brei zerkocht, so sollte es sein, so schmeckten sie am Besten. Jeder bekam auf seinen Teller ein paar Löffel davon. Danach kam sie mit dem Goulaschtopf und wir genossen das Sonntagsmahl, schweigend. Es war ein Gaumenschmaus. Gesprochen werden durfte während des Essens nicht, bestenfalls Bemerkungen über das Essen selbst waren erlaubt; positive, kurz und leise. So waren die einzigen Geräusche, die nach außen durch das offene Fenster in den Hof drangen, das handwerkliche Klappern

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