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Jakobs kleiner Koffer
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eBook318 Seiten4 Stunden

Jakobs kleiner Koffer

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Über dieses E-Book

Im Mai 1945 steht eine junge Frau in der Uniform der englischen Besatzungsarmee im zerstörten Deutschland an einem Grab und nimmt endgültig Abschied.
45 Jahre später wird eine andere junge Frau, die Rechtsanwältin Johanna Oldenburg, durch den Brief einer ihr unbekannten Frau nach Cornwall eingeladen. Zögernd folgt sie dieser Einladung, voller Unsicherheit, was auf sie zukommen mag und hält plötzlich die Fäden einer sehr geheimnisvollen Geschichte in ihren Händen. Es ist die Geschichte ihrer Familie, aber es ist auch die Geschichte einer dunklen Zeit, in der die Grenzen zwischen Recht und Unrecht nicht erkennbar waren.
Johanna, die weit nach dem Krieg geboren wurde, hat wenig Interesse an der Vergangenheit und lebt in der Gegenwart. Umso mehr erschüttern sie diese Informationen, sie gerät in mehr als einer Hinsicht in Turbulenzen. Sie weiß nicht, was sie mit ihren Informationen anfangen soll und muss feststellen, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht ungefährlich ist.
Sie wird konfrontiert mit einem Ausmaß an Verrat, das sie nicht für möglich gehalten hätte und muss mühsam ihren Weg aus dieser verworrenen Situation finden, was auch für sie nicht ohne Verletzungen möglich ist.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Juli 2013
ISBN9783847644002
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    Buchvorschau

    Jakobs kleiner Koffer - Ute Janas

    Prolog Mai 1945

    Der englische Armee-Jeep rumpelte über die zerstörten Straßen der westdeutschen Großstadt. Am Steuer saß ein Corporal, im Fond ein Offizier im Rang eines Colonels, neben ihm eine schlanke, blonde Frau, ebenfalls in der Uniform der englischen Armee. Der Wagen verließ das, was einmal eine blühende Innenstadt gewesen war und fuhr vorbei an einer unendlichen Reihe von Ruinen, die anklagend ihre Stümpfe in den Himmel reckten. Die Straßenränder waren gesäumt von weg­geräumten Panzersperren und Schuttbergen, ärmlich gekleidete Menschen hasteten durch die Stadt, schauten sich ängstlich um und verschwanden unvermittelt hinter Trümmern. Ein alter Mann, der einen klapprigen Leiterwagen hinter sich herzog, verharrte am Straßenrand, um den Jeep vorbeizulassen. Sein Gesicht war grau, und seine Augen blickten leer. Seine Gesichtszüge schienen das Geschehen der letzten Jahre zu spiegeln und offenbarten Angst, Verzweiflung und Resignation.

    Die Wageninsassen fuhren schweigend durch die Stadt und die junge Frau wirkte mit ihrem regungslosen Gesicht, als ob sie ihre Umwelt gar nicht wirklich wahrnehmen würde.

    Nach einer Weile bog der Corporal von der Hauptstraße ab und lenkte den Wagen in einen holprigen Weg. Sie befanden sich nun außerhalb der Stadt und durchfuhren kleine Orte, begleitet von Spuren des Krieges.

    „You´re quite sure, Darling?", fragte die Frau auf dem Rücksitz ihren Begleiter.

    Dieser nahm ihre Hand in die seine und nickte nur, die Augen besorgt auf die junge Frau gerichtet. Sie nickte nun ebenfalls und bat dann den Fahrer, an der nächsten Ecke links abzubiegen. Dieser tat, wie ihm geheißen und brachte den Wagen kurz danach neben einer kleinen Kirche, die ebenfalls von den Spuren des Krieges gezeichnet war, zum Stehen. Das Kirchenschiff war aufgerissen, die Fensteröffnungen hohl und schwarz, nur der Turm hatte überlebt und es klang wie ein irrwitziges und unpassendes Zeichen der Hoffnung, als plötzlich die Stundenglocke verkündete, dass es elf Uhr sei.

    Der Colonel und seine Begleiterin stiegen aus und gingen um den Wagen herum, um unter der Plane einen Kranz hervorzuholen, schlicht geschmückt mit gelben Schlüsselblumen.

    Gemeinsam wandten sie sich zu dem kleinen Kirchhof, der nur wenigen Gräbern und Gruften eine Heimstatt bot. Das Tor hing schief in den Angeln und die meisten Grabsteine waren alt und verwittert und viele Inschriften nur noch mühsam lesbar.

    Zielstrebig durchschritt die junge Frau den Kirchhof und blieb vor einem großen Grabmal stehen.

    „Hier ist es", sagte sie leise, diesmal auf deutsch.

    Der Colonel trat neben sie und legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern.

    „Letzte Ruhestätte der Familie Heimberg" war mit bronzenen Lettern auf eine schwarze Marmorplatte geschrieben. Darunter folgten viele Namen; die letzte Inschrift lautete:

    Lotte Heimberg

    geb. 1930, vermißt 1944

    Der Mann legte den Kranz nieder und beide schauten stumm auf das Grab. Sie hielten sich bei der Hand und waren lange in ihre Gedanken versunken.

    Schließlich atmete die junge Frau tief durch und wandte sich von dem Grab ab.

    „Komm Jordan, ich habe jetzt endgültig Abschied genommen und kann dieses Land für immer verlassen. Und ich schwöre dir, ich werde es nie wieder betreten"

    Kapitel 1 Mai 1990

    Johanna Oldenburg betrat mit der Anwaltsrobe über dem Arm das Café und schaute sich suchend um. Offensichtlich war ihr Mandant noch nicht da und sie hatte noch einen Augenblick Zeit, sich alleine und konzentriert auf die heutige Urteilsverkündung vorzubereiten. Wieder mal verfluchte sie den Tag, an dem sie sich von ihrem Verlobten hatte überreden lassen, diesen Fall zu übernehmen, eine Tatsache, die im wesentlichen darauf zurückzuführen war, dass Ludwig nicht nur ihr persönlicher Partner, sondern auch Chef der Kanzlei Dr. Steifflinger, Kant & Kollegen war und erheblichen Druck auf sie ausgeübt hatte. Irgendwann hatte sie sich diesem Druck gebeugt, weil sie spürte, dass es ihm ein wirkliches Anliegen gewesen war, den Prozess in ihre und keine anderen Hände zu legen, nachdem er selbst wegen anderer Termine nicht in der Lage gewesen war, die Verteidigung zu übernehmen.

    Der Mandant war ein alter Freund der Familie Steifflinger, ein Internist, der von einer Krankenkasse des Abrechungsbetrugs beschuldigt worden war - nach Johannas Auffassung zu Recht, nach Ludwigs Auffassung zu Unrecht - und diese Meinungsdiskrepanz hatte ihre persönliche Beziehung in den letzten Monaten ziemlich erschwert. Vielleicht war sie aber auch nur ein Vorwand gewesen für den eigentlichen Konflikt. Seit geraumer Zeit verstärkte Ludwig seine Bemühungen, Johanna nach dreijähriger Verlobungszeit endlich zu heiraten und sie in das Haus seines Vaters einzuquartieren, eine Vorstellung, die Johanna eher abschreckend fand. Sie mochte ihren zukünftigen Schwiegervater zwar, war aber weder bereit, sich seinem diktatorischen häuslichen Führungsstil, noch dem Villenleben im Vorort hinzugeben und zögerte die Entscheidung immer wieder hinaus. Hunderte von Diskussionen über alternative Wohnlösungen waren im Sande verlaufen, weil Ludwig sich von seiner Familienvilla mit 16 Zimmern und entsprechendem Personal nicht trennen wollte, wofür Johanna, wenn sie ehrlich war, sogar Verständnis hatte. Sie hatten in dieser Frage ein stillschweigendes Moratorium erzielt, das immer dann ins Wanken geriet, wenn ein anderer Konflikt das Gleichgewicht gefährdete, so, wie jetzt.

    „Tag Hanni", sie schreckte hoch und sah ihren Mandanten, Dr. Idel, der deutlich weniger nervös wirkte, als sie selbst.

    „Hallo Wolfgang, setz dich, wie geht es dir?"

    „Gut natürlich, wir werden heute gewinnen und das verdanke ich dir, meine Prinzessin", sagte Dr. Idel charmant und zog ihre Hand an seine Lippen.

    „Hör auf damit, sagte sie ärgerlich, „ich kann diesen Schmusekurs nicht leiden.

    „Pardon", erwiderte er und setzte ein ernstes Gesicht auf.

    „Gibt es noch was zu besprechen?"

    Johanna stand auf, nahm ihre Robe und sagte: „Nein, ich denke, wir gehen."

    Urteilsverkündung! Wie immer bedeutete das Warten auf den Spruch des Richters für Johanna eine endlose Qual. Hatte Sie alles getan, um ihrem Mandanten zu helfen? Hatte sie vielleicht Fehler gemacht, die ihm den Hals brechen würden? Hatte sie die Richter überzeugen können? Und wie jedes Mal dachte sie auch jetzt wieder: „Warum bin ich bloß nicht ins Hotelfach gegangen?"

    Johanna wurde durch das Eintreten des Gerichts abgelenkt. Die Anwesenden erhoben sich und lauschten den Worten des Vorsitzenden:

    „Der Angeklagte Dr. Wolfgang Idel wird von dem Vorwurf des Betruges freigesprochen, die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse."

    Aufatmend wandte sich Johanna ihrem Nachbarn zu. Er lächelte sie triumphierend an, und es machte ihr in diesem Moment nichts aus, dass er sie umarmte.

    Die Staatsanwältin, eine Studienkollegin von Johanna, schien sich noch nicht klar darüber zu sein, ob sie Berufung einlegen sollte und wollte zunächst die schriftliche Urteilsbegründung abwarten. Sie winkte Johanna freundschaftlich zu und verließ den Saal.

    Johanna packte ihre Tasche und wandte sich ebenfalls dem Ausgang zu. Das Gericht befasste sich bereits mit der nächsten Sache und andere Anwälte saßen neben ihren Mandanten mit mehr oder weniger angespannten Gesichtern auf den harten Bänken der Gerechtigkeit.

    „Das müssen wir unbedingt feiern", sagte Wolfgang und hängte sich bei ihr ein.

    „Aber nicht heute, ich habe schon was anderes vor", erwiderte Johanna.

    „Dienstlich oder privat? fragte er, was sie ziemlich aufdringlich fand, dennoch antwortete sie kurz: „Privat.

    „Wieso, Ludwig ist doch in Hannover bei der Aufsichtsratssitzung", sagte Wolfgang.

    „Eben, lächelte Johanna ihn an und verließ den Gerichtssaal. „Prinzessin, bist du auf Abwegen?, fragte Wolfgang mit gerunzelter Stirn, aber sie winkte ihm nur noch freundschaftlich zu und ließ ihn stehen.

    Mit dem Aufzug fuhr sie in die Tiefgarage, warf ihre Akten und ihre Robe in den Kofferraum ihres Wagens und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte eigentlich gar nichts anderes vor, als endlich mal einen halben Tag nichts zu tun, sich zu entspannen, auf ihrer Terrasse zu sitzen und ihren Träumen nachzuhängen. Aber genau das wollte sie Wolfgang nicht erzählen, er hätte es ohnehin nicht verstanden. Er gehörte - genau wie Ludwig - zu der Gruppe der Macher, Leute, die keine Auszeit kannten, es sei denn, sie gehörte ins Programm. Ein Dienstagnachmittag war zum Arbeiten da und für Träume nicht gedacht, die hatten Zeit bis zum Wochenende oder bis zum Urlaub. Basta. Johanna hingegen gönnte sich hin und wieder diese kleine Flucht aus dem Alltag und verheimlichte sie gerne, dann waren sie umso wertvoller.

    Sie hatte ohnehin eine schwere Zeit vor sich, denn ab dem nächsten Freitag stand der traditionelle Maiurlaub an, ein Segeltörn mit Ludwigs Freunden und deren dauerhaften oder wechselnden Begleiterinnen. Johanna freute sich nicht besonders auf diesen Urlaub, denn für sie war Segeln keine Erholung, eine Erkenntnis, die sie selber überrascht hatte. Während ihres Studiums hatte sie oft neidisch den Schilderungen einer Kommilitonin gelauscht, die ihre Ferien auf der Segelyacht ihrer offensichtlich wohlhabenden Eltern verbrachte. Sie hatte dann auch von romantischen Fahrten über eine liebliche See geträumt, vor einer traumhaften Kulisse am Mittelmeer, mit stimmungsvollen Aufenthalten in pittoresken Häfen. Sie hatte sich in ihrer Vorstellung in gelbe Kissen gebettet gesehen, einen Drink in der Hand haltend und das Panorama von Monte Carlo hinter der Buglinie gelangweilt betrachtend.

    Als sie dann vor Jahren von Ludwig tatsächlich auf einen Segeltörn ins Mittelmeer eingeladen worden war, wähnte sie sich am Rande der Glückseligkeit. Der Schock kam jedoch schon beim Einpacken, als Ludwig den größten Teil ihrer Kleider wieder aus dem Koffer holte und sie nach einer vergeblichen Suche in ihrem Kleiderschrank in ein Sportgeschäft schleppte. Dort sah sie sich in einen Faserpelz gehüllt, unkleidsame Troyer in Tüten verschwinden, gefolgt von Overalls aus wasserfestem Material. In diesem Moment hatte sie zum ersten Mal geahnt, dass das mit den gelben Kissen und den Drinks womöglich ein Missverständnis gewesen sein könnte. Dieser Eindruck wurde in den nächsten Wochen zur schauerlichen Gewissheit. Beim Betreten des Bootes in Bandol, einer entzückenden Hafenstadt an der französischen Mittelmeerküste, musste sie bereits erhebliche Abstriche an ihren Vorstellungen von der Größe eines Schiffes machen. Ludwigs Boot war eine 15 - Meter - Yacht, also ein durchaus geräumiges Schiff - aber die Vorstellung mit sieben weiteren Menschen drei Wochen hier verbringen zu müssen, schreckte sie ab. Dann der 24-Stunden-Schlag, so nannten das die versierten Segler, und Johanna fand diesen Ausdruck überaus passend, nach Korsika bei Windstärke 8. In ihrer Erinnerung war ihr so, als hätte sie mehr als die Hälfte der Zeit über der Reeling hängend verbracht, grün im Gesicht und weitgehend unbeachtet von den anderen, die sich lediglich noch vergewissert hatten, dass sie angeseilt war. Sie hatte Todesängste ausgestanden, ohne eine Chance zu haben, sie erwähnen zu können, sie hatte Angst vor der Tiefe und der unübersehbaren Weite des Meeres. Sie verabscheute die Enge der Kojen und hatte ständig das Gefühl, als tropfe ihr irgendwas auf den Kopf. Nachts lag sie wach und lauschte dem nervigen Geräusch Hunderter von Fallen, die unablässig an die Masten klickten. Für Ludwig war Angst vor dem Wasser ein unbekanntes Phänomen. Er schlüpfte in sein Ölzeug wie in eine zweite Haut und stand bei Wind und Wetter glückselig an der Pinne oder hinter dem Steuerrad, wo er - zugegebenermaßen - eine hervorragende Figur machte. Je härter das Wetter, desto fröhlicher wurden Ludwig und seine Freunde. Er war der festen Überzeugung, Johanna brauche sich nur zusammen­zureißen, um damit zurechtzukommen. Deshalb hatte er auf ihren zaghaften Vorschlag, in diesem Jahr eine andere Art von Urlaub zu machen, mit recht wenig Verständnis reagiert.

    „Du weißt, dass ich mich nur beim Segeln richtig entspannen kann, also verhalte dich bitte ein bisschen kontrollierter, wenigstens mir zuliebe", hatte er die Diskussion abgebrochen, und sie hatte das Thema nicht mehr aufgegriffen.

    Die Reise sollte in diesem Jahr von der holländischen Küste durch den Ärmelkanal zu den Scilly-Islands gehen, mit Stops auf den Kanalinseln, eine Tatsache, die Johanna ein wenig mit ihrem Schicksal versöhnte. Sie liebte diese Inseln, besonders Guernsey und freute sich auf die wenigen Tage, die sie dort verbringen konnte. Das einzige, was sie überhaupt schön am Segeln fand, waren die Abende in den kleinen Häfen, in denen man vom Boot aus eine ganz andere Perspektive genoss. Nach einem langen Segeltag abends in einen Hafen einzulaufen und dort erschöpft an Deck zu sitzen, gemeinsam ein Glas Wein zu trinken und den Sonnenuntergang zu beobachten, das war schon ein tolles Erlebnis und versöhnte sie ein wenig.

    Johanna fädelte sich langsam in den Verkehr ein, der zu dieser Mittagsstunde noch sehr moderat war. Sie freute sich auf ihr Heim, ein kleines Haus in einem grünen Viertel, das sie mit ihrem jüngeren Bruder Martin be­wohnte. Es hatte ihren ver­storbenen Großeltern, den Eltern ihres Vaters, gehört. Nach deren Tod hatte ihr Vater vor der Entscheidung gestanden, das Haus zu verkaufen. Irgendwie hatte er sich nicht entschließen können, sich von dem Haus seiner Kindheit zu trennen und die Entscheidung so lange hinausgezögert, bis seine Tochter begann, in der Stadt zu studieren. Da gab es dann plötzlich einen Grund, das Haus zu behalten, und als ein Jahr später der jüngere Sohn Martin ebenfalls ein Studium begann und zu Johanna in das Haus zog, wurde über einen Verkauf nicht mehr geredet. Die beiden hatten sich das Anwesen im Laufe der Jahre stückweise nach ihren Bedürfnissen umgebaut und hingen sehr daran. Manchmal fragte sich Johanna, ob sie wohl mit der betonten Gemütlichkeit ihres Umfeldes das Fehlen von Geborgenheit in ihrer gemeinsamen Kindheit zu kompensieren versuchten.

    Das Leben mit Martin funktionierte sehr gut, sie kamen sich selten in die Quere. Sie lebten zusammen und doch wieder nicht, sie waren sich nahe, ohne sich zu bedrängen und respektierten streng die Privatsphäre des jeweils anderen. So hatten sie es schon als Kinder praktiziert, und so hielten sie es auch jetzt.

    Johanna parkte ihren Wagen auf dem Kiesplatz vor dem Haus und schloss die Tür auf. Im Flur hinter dem Briefschlitz lag eine Menge Post, die sie erst einmal auf die Anrichte im Flur legte, weil sie ihren Kater begrüßen musste, der ihr freudig um die Beine schnurrte. Sie kraulte Othello ein bisschen und ging dann in die Küche, um die Kaffeemaschine einzuschalten. Das ganze Erdgeschoß bestand - abgesehen von einer kleinen Toilette - eigentlich nur aus einem einzigen L-förmigen Raum. Martin und sie hatten die alte Wand zwischen Küche und Wohnraum herausnehmen lassen und den früheren Eindruck von Dunkelheit und Enge beseitigt. Das Wohnzimmer war auf der Rückseite völlig verglast und eine große Schiebe­tür führte auf eine großzügige, mit roten Terra­kottafliesen gepflasterte Terrasse, die im Schatten eines alten Kastanienbaums lag. Daneben bestand der Garten eigentlich nur noch aus ein paar Blumenbeeten, die Martin mit Geschick so angelegt hatte, dass es dort fast das ganze Jahr blühte.

    Johanna öffnete die Schiebetür und ließ die warme Frühlingsluft in die Wohnung. In diesem Jahr war der Mai wieder sehr mild, und die ersten Blumen an der Terrasse verströmten bereits ihren Duft. Der Lavendel, eine Urlaubserinnerung aus der Toskana, hatte sich ungewöhnlich schnell ausgebreitet und sorgte im Sommer mit seinem unverwechselbaren Geruch für ein fast südliches Flair.

    Johanna mochte den Süden, die kleinen Städte und Dörfer in der Emiglia Romana oder in Südfrankreich, in denen man stundenlang auf einem schattigen Marktplatz sitzen konnte, Wein trinken und dazu würzigen Käse essen. Früher war sie in jedem Jahr zu einem anderen südlichen Ziel gefahren, manchmal mit Freunden, manchmal auch allein und oft mit Martin, den auch das Fernweh und die Sehnsucht nach Wärme gefangen hielt, und der so oft nach Süden reiste, wie ihm sein Beruf als Journalist die Möglichkeit dazu gab.

    Während die Kaffeemaschine lief, ging sie in die erste Etage. Hier war ihr Reich. Sie hatte sich in zwei kleinen Räumen Schlaf- und Arbeitszimmer eingerichtet. Von dem ehemals übergroßen Bade­zimmer hatte sie eine Ecke abgetrennt und sich den besonderen Luxus eines kleinen Ankleidezimmers gegönnt. Hier oben fühlte sie sich so heimisch, wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse, und sie war gar nicht erfreut, wenn jemand sie hier besuchte. Mit Martin, der das Dachgeschoß bewohnte, hatte sie ein Abkommen, wonach sie fast ausschließlich in Wohnzimmer oder Küche aufeinandertrafen - sie hatten sogar eine hausinterne Telefonleitung installiert, um miteinander sprechen zu können, ohne in des anderen Intimsphäre eindringen zu müssen.

    Johanna schälte sich aus ihrem Kostüm und warf ihre Pumps in die Ecke. Wie immer hatte sie dabei das Gefühl, aus ihrer offiziellen Haut zu schlüpfen und eine andere, private und viel intimere Gestalt anzunehmen. Es war, als verjünge sie sich jedesmal, wenn sie ihr berufliches Outfit ablegte und in Jeans und Pulli schlüpfte.

    Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging sie hinunter, holte ihren Kaffee aus der Küche und trat mit der Post auf die Terrasse. Dort legte sie sich in einen Liegestuhl und schaute in den Kas­tanienbaum, der sich wie ein Dach über ihr wölbte. Sie genoß diesen Anblick und den Duft der Blumen, die hier in diesem kleinen, geschützten Paradies immer ein wenig eher blühten, als woanders. ‚Welch ein schöner Tag‘, dachte sie und fand es sehr erholsam, dass Ludwig für eine Woche in Hannover war.

    Johanna nahm die Post vom Tablett. Zwei Reklamesendungen legte sie gleich ungeöffnet zur Seite, es folgte ein an Martin adressierter Brief, der leicht nach einem Parfum duftete und keinen Absender trug. „Natürlich nicht", dachte Johanna belustigt. Der rasante Wechsel von Freundinnen war einer der wenigen Störfaktoren in der entspannten Beziehung zwischen ihr und ihrem Bruder. Immer, wenn sie sich gerade an eine Martina, Marion oder Petra gewöhnt hatte, war diese schon wieder out, und sie musste sich auf eine neue Flamme einstellen.

    Johanna legte den duftenden Brief zur Seite und wandte sich dem nächsten zu. Er war an sie gerichtet und recht schwer, sie wog ihn in der Hand und stellte mit Erstaunen fest, dass er aus England kam, aus Plymouth, und zwar - wie der Absender verriet - von einer Anwaltssocietät St.Kendall, St.Kendall & Sons.

    Neugierig riss sie ihn auf und las:

    Sehr geehrte Frau Oldenburg,

    wir legitimieren uns als Anwälte der verstorbenen Mrs. Christina Brandwell. Nach dem Wunsch der Erb­lasserin setzen wir Sie darüber in Kenntnis, dass Sie in ihrem Testament bedacht sind.

    Wir laden Sie weiterhin ein, sich auf Brandwell Manor einzufinden, um an der Testamentseröffnung am 15ten dieses Monats teilzunehmen. Mrs.Brandwell hat uns ausdrücklich gebeten, Ihnen nahezulegen, schon einige Tage vorher anzureisen, damit Sie Gelegenheit haben, sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen.

    Wir haben uns erlaubt, ein Flugticket beizulegen und bitten Sie, uns über Ihre Ankunft in Plymouth in Kenntnis zu setzen, damit wir veranlassen können, dass Sie abgeholt werden.

    Mit Hochachtung verbleiben wir

    gez. St. Kendall, Barrister & Solicitor

    Johanna ließ den Brief sinken. Sie konnte damit überhaupt nichts anfangen. Wer um Himmels willen war Christina Brandwell? Sie kramte in ihrem Gedächtnis, fand aber keinen Anhaltspunkt. Sie kannte ihres Wissens niemanden in England und der Name sagte ihr auch nichts. Sie musste ihre Mutter fragen, die kannte jeden. Sie schaute auf die Uhr - halb zwei, jetzt würde die Familie noch beim Mittagessen sitzen. Im Lerchenhof war alles immer strikt organisiert, in einem großen Hotelbetrieb war das wahrscheinlich auch gar nicht anders möglich.

    Johanna wählte die Nummer und ließ sich von Carla an der Rezeption mit der Wohnung ihrer Eltern verbinden.

    „Hallo Mama", sagte sie, als ihre Mutter sich meldete.

    „Ach, Johanna, hast du etwas Wichtiges, du weißt, wir essen gerade", hörte sie ihre Mutter so antworten, wie sie es erwartet hatte.

    „Ich störe nicht lange, ich wollte dich nur schnell fragen, ob du eine gewisse Christina Brandwell kennst?"

    Am anderen Ende entstand eine unerwartete Pause und Johanna vermutete, ihre Mutter dächte über ihre Frage nach. Umso erstaunter war sie, als diese nach einigen Sekunden fragte:

    „Wie kommst du darauf?"

    Täuschte sie sich, oder klang die Stimme ihrer Mutter heller und vielleicht auch aufgeregter als sonst? Ihrem Vater musste das wohl auch aufgefallen sein, denn Johanna hörte ihn im Hintergrund besorgt fragen:

    „Was ist denn Liebes, du bist ja ganz blass?"

    „Johanna fragt nach Christina Brandwell", hörte sie ihre Mutter tonlos sagen. Wieder entstand eine Pause, dann sagte ihr Vater:

    „Dann sag´ es ihr endlich, sag´ es allen dreien, ich empfehle dir das schon seit Jahren."

    „Du hast gut reden, um deine Familie geht es ja nicht", jetzt klang ihre Mutter regelrecht hysterisch. Johanna hielt den Hörer ein wenig von ihrem Ohr weg und betrachtete ihn, als ob er ihr das Rätsel auf der anderen Seite enthüllen könnte.

    „Haallooo, rief sie schließlich in den Hörer. „Ich bin auch noch da, was ist denn los?

    Offensichtlich hatte ihr Vater beschlossen, die Sache in die Hand zu nehmen, denn Johanna hörte ihn jetzt sagen:

    „Tag Hanni - er nannte sie immer Hanni, wie die meisten Menschen, die ihr nahestanden - „deine Mutter hat einen kleinen Schwächeanfall, sie muss sich hinlegen.

    „Aber wieso denn, was hat sie denn so schockiert? War es dieser Name? Wer ist denn eigentlich Christina Brandwell?"

    „Sie ist deine Großmutter, Hanni", sagte ihr Vater ruhig.

    Wieder entstand eine Pause am Telefon und als Johanna zu einer Erwiderung ansetzte, klang ihre Stimme etwas schrill:

    „Quatsch, meine Großmütter sind beide tot, und drei Großmütter hat kein Mensch, er­zähl mir doch keinen Unsinn."

    „Hanni, Christina war die erste Frau deines Großvaters Heimberg, dem Vater deiner Mutter. Sie hat ihre Familie verlassen, als deine Mutter noch ein Kind war, Opa Heimberg hat dann wieder geheiratet."

    „Warum weiß ich denn nichts davon, was ist an einer solchen Sache so geheimnisvoll, dass ich mehr als dreißig Jahre alt werden musste, um das zu erfahren?"

    Johanna war ausgesprochen irritiert über diese Information und legte einen reservierten Unterton in ihre Stimme.

    Als sie wieder zu sprechen anfangen wollte, sagte ihr Vater sanft:

    „Mädchen, wir sollten das nicht am Telefon besprechen. Ich muss mich jetzt um deine Mutter kümmern. Ich glaube, sie braucht einen Eis­beutel."

    „Versuch‘s doch mal mit einem Sandsack, ich komme zu euch, und zwar jetzt gleich", versetzte Johanna giftig und warf den Hörer auf die Gabel.

    Am anderen Ende legte ihr Vater ebenfalls den Hörer auf.

    „Was sagt sie?", fragte ihn seine Frau mit matter Stimme vom Sofa her, auf das sie sich inzwischen gelegt hatte.

    „Sie kommt zu uns", erwiderte er.

    „Das habe ich befürchtet", murmelte Lotte und verlangte nach einem Eisbeutel.

    Philipp, der älteste Sohn und seine Frau Daisy, die eigentlich Martha hieß, saßen ratlos am Tisch.

    „Um was geht es denn eigentlich hier, fragte Daisy ihre Schwiegereltern. „Ja, das möchte ich auch wissen, ergänzte Philipp und schaute seine Eltern fragend an.

    „Du hast doch gehört, was ich Hanni erzählt habe. Ich schlage vor, den Rest be­sprechen wir, wenn Hanni gleich kommt, solange kümmere ich mich um Mutter."

    „Ich habe aber heute nicht viel Zeit", warf Philipp noch muffig ein, bevor er mit seiner Frau das Zimmer verließ.

    Nachdem Johanna den Hörer auf die Gabel geworfen hatte, blieb sie reglos sitzen, den Brief aus England in der Hand. Was war denn das für eine vertrackte Geschichte. Wieso hütete ihre Familie, die sie immer für bemerkenswert unspektakulär gehalten hatte, ein solches Geheimnis? Was mochte der Grund dafür sein, dass sie von dieser merkwürdigen Großmutter gar nichts wusste?

    „Sie hat ihre Familie verlassen, wiederholte Johanna murmelnd die Worte ihres Vaters, „verlassen, als meine Mutter noch ein Kind war. Also, vor mindestens 50 Jahren, wie ungewöhnlich. Damals blieben Frauen doch bei ihren Männern, egal, wie miserabel das Leben auch sein mochte. Und ihre Großeltern hatten sicher nicht unter wirtschaftlicher Not gelitten, wie viele andere Menschen in

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