Weißwasser: Novelle
Von Kirsten Döbler
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Kirsten Döbler
Kirsten Döbler, gebürtige Hamburgerin, lebt in Braunschweig. Slawistin und Anglistin. Seit 2005 ist sie als Internetredakteurin und freie Autorin tätig. Weitere Informationen zur Autorin unter www.kirstendoebler.de
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Buchvorschau
Weißwasser - Kirsten Döbler
Motto
»Wozu der Haarschopf dort vorne?«
»Da soll, beim Kroniden, mich packen, wer mir begegnet.«
»Warum zeigt sich der Hinterkopf kahl?«
»Wenn ich erst einmal vorbeischoß mit meinen geflügelten Beinen, hält mich niemand mehr fest, wenn er es dringend auch wünscht.«
Poseidippos über die Skulptur des Kairos
(Die Griechische Anthologie Bd. 3, Berlin 1991, S. 333/4)
1
Atlantischer Ozean, La Gomera
Der Wind treibt das Wasser nach Osten und überzieht es mit Riefen; so wirkt die Meeresoberfläche wie welke Haut, die man mit den Fingern ein wenig zusammengeschoben hat. Malte tritt an die Balkonbrüstung, stützt sich mit den Unterarmen auf die weiß getünchten Steine und blickt über den Atlantik, wo er im Morgendunst die Silhouette von El Hierro zu erkennen meint. Aus der Talmündung des Valle Gran Rey dringt ein Hahnenschrei zu ihm herauf. Maltes Gedanken kreisen um die Zahl siebzig, er versucht, sie in Relation zu seinem Lebensgefühl zu setzen – es will ihm nicht gelingen. Stattdessen zählt er im Geiste weiter: fünfundsiebzig, achtzig, neunzig. Und früher oder später, denkt er, ist das Leben ein anderes: Man sabbert einer Pflegekraft auf die Finger und liegt sich den Rücken wund.
Zielsicher spuckt er einen Apfelsinenkern in den Blumenkübel im Garten unter sich. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht keine Veranlassung für ihn, das Alter zu beklagen. Zu bejubeln übrigens auch nicht, das entspricht nicht seinem Temperament. Und dennoch hat er am Vorabend zu einer Geburtstagsfeier geladen, hat Wein besorgt und Tapas für die Freunde vorbereitet. Er hat es getan, um Laura eine Freude zu machen, nur deshalb.
»Moin!« Sie schlingt ihre Arme um Maltes Bauch, er hat sie nicht herankommen hören, richtet sich erschrocken auf und legt den Kopf nach hinten, bis seine Wange ihr Gesicht berührt. Von der Dachterrasse des Nachbarhauses wehen Duftpartikel eines spanischen Waschpulvers herüber und vermengen sich mit der Parfümmischung aus Lauras Bananenshampoo.
»Moin, moin!« Er dreht sich in ihren Armen um und reibt seine Nase an ihrer sonnengebräunten Stirn. Sie hat länger geschlafen als üblich, denn der Abend mit den Freunden war spät zu Ende. Malte hat nichts trinken können, da sein Magen wieder einmal rebellierte. Und so hat er sich an seinem siebzigsten Geburtstag mit einer Meute angeheiterter Gäste konfrontiert gesehen, deren weinselige Scherze ihn zunehmend langweilten. Dabei kann er die Freunde gut leiden. Er hatte nur keine Lust, sich mit einem Glas Wasser in der Hand bis zum bitteren Ende all ihre Witzeleien anzuhören, also ist er irgendwann ins Bett gegangen. Laura aber hat zu fortgeschrittener Stunde sicherlich eine Anekdote nach der anderen erzählt. So ist es immer: Je lauter die Freunde losprusten, desto mehr Geschichten fallen ihr ein, bis sie mit Lachtränen in den Augen die Welt umarmt.
»Hast du Kopfschmerzen?«, fragt er sie. Dabei weiß er die Antwort bereits. Laura ist nicht in bester Verfassung, und sein Vorhaben, an diesem Abend das Gespräch mit ihr zu führen, dessen Ausgang er sich immer wieder vorzustellen versucht, muss er vertagen. »Ich mach dir Kaffee«, sagt er.
Laura schüttelt das Badetuch mit dem Geckomuster aus und legt es auf den Liegestuhl, bevor sie sich selbst darauf fallen lässt und ihn bittet, ihr eine Tasse seines Magentees aufzugießen. Die Morgensonne wird jeden Moment hinter der Kuppe des Teguergenche hervorkommen und den Balkon grell ausleuchten. Balkon ist ein zu bescheidenes Wort für diese riesige rot geflieste Fläche, auf der Malte sich vorzugsweise aufhält. Man könnte dort Tischtennis spielen, war ihm bei ihrer ersten Besichtigung des Hauses in den Sinn gekommen, während Laura ein anderes Bild vor Augen hatte: Man könnte dort