Wasserstandsmeldungen: 14 Episoden
Von B.K. Musial
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Über dieses E-Book
Ich werfe in hohem Bogen den Tag hinein.
B.K. Musial
Kriegskind des 2. Weltkriegs. Geografische Lebenslinie: Berlin, Bonn, Bayern. Familie: Zwei Töchter, ein Enkel. Lebenseinstellung: politisch, sozial, weltoffen.
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Buchvorschau
Wasserstandsmeldungen - B.K. Musial
Die Autorin hat den Dank an die Freunde lose gebündelt
und schließlich im Text verknotet,
mit der Bitte umzublättern.
Inhalt
780 Seemeilen
Le Phare rouge
Besuch bei der Freundin
Von der Pfaueninsel bis ans Rote Meer
Professor Konrad M.
Das Rote Haus am Fluss
Galia-Inara
L & L
Erinnerung zurückholen
Dieser Freitag
Am Vogelbrunnen
Meira
Klara
Eine dreiviertel Stunde
Nachwort
Anmerkungen / Quellen
780 Seemeilen
Dieser Text soll die Aufgabe haben, Ihnen eine Geschichte zu erzählen. Sie müssen den Text nicht mögen, nein, das verlange ich nicht von Ihnen. Lesen Sie nur zu Ihrer Unterhaltung.
Also. Das Ich, das ich bin, ist ein Nichts. Ich bin in dieser Kapsel. Ich habe keinen Namen. Ich spreche mit dem Rhythmus der Wellen. Wie lange ich schon in dieser Kapsel bin, kann ich nicht sagen. Obwohl diese Kapsel klein ist, empfinde ich keine Enge. Kommen Sie trotzdem mit mir, wir gehen gemeinsam durch die Handlung und teilen miteinander das Erleben der Geschichte.
Wenn ich Ihnen erzähle, dass auf einem Geländer dort an der Steilküste, wo die Felsen ins Meer stürzen, eine Möwe sitzt, können Sie sich das vorstellen. Die Möwe gehört hierher. Sie ist Bestandteil der Meeresküsten und Element der Farbgebung dieser Landschaft mit ihrem hellen Gefieder, den gelben Schwimmhäuten zwischen den Zehen. Ihre schmalen Augen blicken ein wenig verschmitzt. Könnte man sie begleiten, hinaus aus diesem Bild, was würden wir alles mit ihr erleben?
Also. Die Möwe sitzt auf einem Geländer an den Klippen und neigt ihren Kopf in Richtung Leuchtturm. Lautlos schwingt sie sich auf, mit gemächlich kraftvollem Flügelschlag erhebt sie sich in einen blassblau wolkenlosen Himmel. Das wenige Licht streift ihr silbergraues Federkleid.
Der Leuchtturm steht auf einer kleinen Felseninsel noch in Sichtweite zum Ufer, vor dem Horizont im Meer. Sein Fundament ist tief im Fels verankert. Die Wellen umspülen die Insel, bei Flut überschlagen sie sich. Bei Ebbe sieht man den felsigen Untergrund im ablaufenden Wasser. Der Leuchtturm ist in roter Farbe gestrichen. Viele Kilometer weit ins Meer hinein sind seine Lichter zu sehen. Das Blinklicht wandert rotierend über das Wasser, um der Seefahrt beim Navigieren zu helfen.
In kurzer Entfernung von der Möwe steht das Mädchen Meribelle. Sie hat den Vogel im Blick. Vielleicht ist sie zehn oder elf Jahre alt. Über ihrem Kleid trägt sie einen indigoblauen Pullover, der ihr viel zu groß ist, fast bis zu den Knien reicht. Sie hat ihn aus dem Schrank der Mutter genommen. Damit hält sie die Erinnerung fest. Fühlt die warmen Arme der Mutter, wie sie sich um ihren Körper schmiegen. Hat Meribelle ein Recht auf Traurigkeit? Ja, verlassen zu sein, ist schmerzhaft.
Ihre Haare flattern ein wenig im Seewind. Am Meer ist immer Wind. Sie steht ganz still. Das Mädchen spürt die Vielfalt des Augenblicks der Gegenwart, die Harmonie der Stille. Der Duft der Nadelbäume ist selbst hier oben noch gegenwärtig. Der Geruch des Meeres ist tief in ihr verwurzelt, sie empfindet keinerlei Bedrohung.
Einen Sommer lang läuft sie jeden Tag diesen schmalen, steilen Weg nach oben zum höchsten Punkt am Felsen, um den Leuchtturm zu sehen. Weiter geht es nicht. Was will sie hier? Das Mädchen sammelt Träume. In einem dieser Träume ist ihr die Mutter erschienen. Sie stand am Fuß des Leuchtturms und winkte ihr zu. Kann ein Traum denn Wirklichkeit sein? Die Möve sitzt auf dem Geländer am Abgrund. Das Mädchen möchte die Hand austrecken, langsam, ganz langsam und den Vogel berühren. Sie traut sich jedoch nicht. Ist es immer dieselbe Möwe, die hier sitzt, wenn sie kommt? Welche Geschichte verbindet der Vogel mit dem Leuchtturm?
Das Mädchen denkt nicht an die lebensfeindliche Umwelt, nicht an die Vergiftung des Meeres, in dem mehr Plastik als Plankton schwimmt. Nein, nur zur See, zur Insel schaut sie. Ohne Groll. Das ist ihr ganzer Fokus. Hinter ihr, auf der einzigen Bank an diesem Weg, sitzt ein Gitarrenspieler. Die Klänge der Gitarre, leise, melodisch. Die Akkorde erzählen Geschichten vom Meer, vom Flügelschlag der Seevögel, von Wellen, Stürmen und untergehenden Schiffen. Die Melodien hallen von den Felsen dort draußen wider. Sie wird sich nicht umdrehen, um den Gitarrenspieler zu betrachten. Er ist ihr vertraut. Seine langen schwarzen Haare hat er unter einem Hut mit breiter Krempe versteckt. Über seiner Hose trägt er einen Kittel, oder ist es ein Kleid? Schwarz ist es mit gelbgrüner Musterung, sehr weit mit tiefem Ausschnitt. Eine Kette mit einem grünen Stein schmückt seinen Hals. Dieser Stein ist ein Smaragd, der in allen Grüntönen von Gelbgrün bis zu einem dunklen Blaugrün schimmert, je nachdem wie das Licht auf den Stein fällt. Er ist barfuß. Der Mann und das Mädchen, sie kennen sich.
Wo kommen die beiden her? Hinter den Felsen in der Ebene, im flacheren Land, da kriecht der Schatten des Berges abends über das Dorf. Im Hintergrund die alte Windmühle, die keine Flügel mehr hat und davor das Bauerndorf mit der Kirche und dem Friedhof. Auf den Weiden vereinzelt Schafe und Ziegen. In einem dieser Häuser wohnt Meribelle mit Sebastien, dem alten Fischer, der Tante und dem Gitarrenspieler. Sebastien erzählte einmal von Inseln, die 780 Seemeilen vom Land entfernt liegen. Er erzählte von Sturmwellen, die bis zu neun Meter hochschlagen können. Sebastien hat Meribelle viele Geschichten aus seinem Leben als Seemann erzählt. Ihr erklärte er auch, welche Aufgabe Leuchttürme haben. Aufmerksam hat sie ihm zugehört.
So wird es sein. Ich weiß das. Nochmal, ich bin ein Nichts, ich bin nicht existent, noch nicht am Leben, schwimme in Flüssen, in Seen, im Meer, in Rinnsalen, in dieser kleinen Kapsel. Am liebsten mag ich es ganz tief unten im Meer, dort wo die alten Wracks der Schiffe liegen.
Ich, das Nichts, kenne viele dieser Leuchttürme. Ihre Lichtstrahlen warnen die Schiffe vor Gefahren, sie leiten sie. Damals, vor langer Zeit, gab es noch Leuchtturmwärter. Heute wird alles automatisch geregelt. Im Moment verfolgen mich in meiner kleinen Kapsel die Lichter des Leuchtturms und halten mich fest. Wenn ich müde bin, falle ich in einen Schlaf und wenn ich wieder aufwache, dann bin ich woanders. Absurd, nicht? Ich kann den Regen spüren, wenn er auf das Wasser prasselt, er fließt von oben nach unten. Das ist der Ablauf. Es ist eine Wandlung. Von trocken zu nass. Von oben nach unten. Selbst am Grund, spüre ich noch die Regentropfen.
Es ist das Ende des Sommers. Warme Luft bringt Nebel über das kalte Meer. Meribelle weiß trotzdem, dass da hinten im Meer die Leuchtturminsel ist. Das Nebelhorn ertönt als die Möwe ihren Kopf wendet, sich zu dem Mädchen umdreht und anfängt zu sprechen. Für einen kurzen Augenblick verstummt das Gitarrenspiel. Meribelle erschrickt, weiß nicht, was sie denken soll.
»Weißt du es nicht, hat es dir keiner erzählt?,« brummt die Möwe. »Weit draußen auf dem Meer, ich habe es nicht mit angesehen als damals die Fähre unterging. Es ist mir berichtet worden. Viele von meinen Freunden hatten die Fähre begleitet. Sie war von Süden kommend