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Die Waltänzerin
Die Waltänzerin
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eBook247 Seiten3 Stunden

Die Waltänzerin

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Über dieses E-Book

Kaiana besitzt eine besondere Gabe: Sie gehört zur Gruppe der Waltänzer. Seit Urzeiten suchen die Wale Kontakt mit einzelnen Menschen, die direkt mit ihnen kommunizieren können. Kaiana ist einer dieser Menschen. Sie lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter Seloina und ihren Geschwistern Roko und Aisha zusammen in einer kleinen Küstenstadt. Zwischen ihr und Seloina kommt es immer wieder zu Spannungen. Seloina ist häufig überfordert mit Kindereziehung, Haushalt und Arbeit und kann ihre träumerische Tochter nicht wahrnehmen und verstehen. Zum Glück gibt es Risa, Kaianas Großmutter. Risa weiß, dass Kaiana eine besondere Gabe besitzt. Doch bevor Kaiana ihre einzigartige Aufgabe erfüllen kann, muss sie zunächst vieles lernen und einige Initiationen überstehen. Gemeinsam mit Toroa, einer schwangeren Buckelwalin, die vor der Geburt ihres Kalbes fast an Komplikationen stirbt, und durch Risas Unterstützung findet Kaiana das Selbstvertrauen und die Stärke, zu sich zu stehen und auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen. Auch wenn es ihr nicht immer leicht fällt, erkennt sie nach und nach, dass sie ihr Glück nur findet, wenn sie sich selbst treu bleibt.

Die Waltänzerin ermutigt Heranwachsende, ihre Eigenheiten und Gefühle anzunehmen und sich nicht von ihrem Weg ablenken zu lassen. Wer seine Talente erkennt und sie gezielt einsetzt, unabhängig von äußerer Akzeptanz und Unterztützung, findet sein Lebensglück. Kinder werden körperlich immer früher reif und zum Erwachsenen. In ihrer emotionalen und spirituellen Entwicklung sind sie jedoch häufig auf sich alleine gestellt. Ihr Umfeld versteht sie entweder nicht oder ist zu sehr mit sich selbst und anderen Dingen beschäftigt, um einen verlässlichen Rahmen bieten zu können. Die Folge sind dramatisch ansteigende Zahlen von Jugendlichen mit mentalen Störungen, die seelisch und geistig aus der Balance geraten sind.

SpracheDeutsch
HerausgeberBirgit Baader
Erscheinungsdatum24. Feb. 2020
ISBN9780473511562
Die Waltänzerin
Autor

Birgit Baader

Birgit Baader writes books and articles about topics such as Conscious Birth, Interspecies communication, holistic education, sustainable & future gen life styles and shamanism. She has published several books and documentaries.Birgit is also active in women’s and youth work. Amongst other things she holds Red-Tent circles, vision quests (transition rituals) for young women and other courses and ceremonies to nurture female energies and the power of the womb. One of her main intentions is to assist people to (re)connect with their inner power center and their innate “dream power” to find balance and inner peace and to feel the interconnectedness of all life.Birgit currently has her "base camp" in Aotearoa, New Zealand. She loves the close connection to nature living in a cottage in the bush.Relevant websites:http://www.moemoea-dreamspace.com/http://www.power-tools-for-power-kids.com/http://www.birgitbaader.com/

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    Buchvorschau

    Die Waltänzerin - Birgit Baader

    „Kaiana! Wo warst du so lange?"

    Ärgerlich greift Seloina nach dem Korb mit dem Gemüse.

    „Jetzt habe ich kaum mehr Zeit zum Kochen, bevor die Kleinen heimkommen."

    Kaiana runzelt die Stirn. Die Worte ihrer Mutter Worte dringen nicht bis zu ihr. Wieder einmal scheint es ihr, als lebten sie in verschiedenen Welten. Zeit – für Kaiana ist dieser Begriff immer noch nicht greifbar. Vor allem ist er ihr nicht besonders wichtig. Das bringt sie immer wieder in Schwierigkeiten. „Wieso hast du dir nicht mehr Zeit gelassen für deine Hausaufgaben? – „Beeil dich, du hast keine Zeit mehr zum Trödeln, in fünf Minuten fährt der Bus! – „Schnell, es ist Zeit, die Kleinen ins Bett zu bringen." Nicht leicht, den Erwartungen der anderen gerecht zu werden. Hinzu kommt, dass jeder eine andere Auffassung von Zeit zu haben scheint.

    „Nur die Ruhe, wir haben noch Zeit", hatte ihr Vater oft gebrummt, wenn ihre Mutter hektisch die Familie antrieb.

    „Haben wir nicht, schimpfte ihre Mutter. „Wir sind viel zu spät, und du sitzt immer noch hier rum.

    Vielleicht ist ihre unterschiedliche Auffassung von Zeit einer der Gründe, warum sie sich schlieβlich trennten?

    Der Gemüsegarten liegt hinter dem Haus auf einer flachen, sonnigen Terrasse, von der aus man einen freien Blick übers Meer hat. Kaiana liebt diesen Platz. Manchmal sitzt sie stundenlang auf der kleinen Steinmauer, die die Beete umrahmt und Wärme an die Pflanzen abgibt. Wenn der Wind die salzige Meerluft zu ihr trägt und sie die weiβen Schaumkronen auf den Wellen tanzen sieht, fühlt sie sich frei und glücklich. Während der Wind in ihren Haaren spielt, steigen ihre Gedanken mit den Kormoranen in die Luft und segeln hoch über dem Wasser dahin.

    Ihr Element ist die Luft, doch tief unter den blaugrünen Wasserhügeln spürt sie die Gegenwart von anderen Lebewesen. Sie gleiten ebenso leicht und schwerelos durch ihre Wasserwelt wie die Vögel oben am Himmel durch die Luft. Kaianas Herz macht einen Freudensprung...

    Zusammen mit den Kormoranen lässt sie sich vom Himmel fallen. Wie ein Pfeil schieβt sie senkrecht nach unten ins Wasser. Sobald sie die Wasseroberfläche durchbricht, befindet sie sich in einer glasgrünen gedämpften Welt – wie in einer riesigen Luftblase. Ihr Körper scheint sich aufzulösen. Sie kann sein Gewicht nicht mehr spüren. Ihre Ohren füllen sich mit Wasser und ein allumfassendes Rauschen beruhigt ihre Sinne. In der Unterwasserwelt scheint alles in einem langsameren Tempo abzulaufen, wie in Zeitlupe.

    Kleine Luftbläschen steigen aus Kaianas Mund an die Wasseroberfläche. Sie glitzern in der Sonne wie kleine Silberperlen. Unter ihr hat ein Kormoran einen Sandaal erwischt und schwimmt mit kräftigen Schägen seiner Schwimmhautfüβe nach oben. Kaiana bewundert die schlanken wendigen Vögel, die bis zu 45 Meter tief tauchen können. Sie kreisen mit ausgebreiteten Schwingen ruhig über dem Wasser, bis sie einen Fisch entdecken. Wie ein Stein lassen sie sich dann mit angewinkelten Flügeln fallen. Kurz bevor sie die Oberfläche durchbrechen, legen sie ihre Schwingen eng an den Körper und stoβen wie ein Torpedo direkt auf ihre Beute hinab.

    Die Strahlen der Sonne bilden einen durchscheinenden Lichtkegel, in dem das Blau des Himmels matt leuchtet. Kaiana lässt sich auf dem Rücken treiben und genieβt das Gefühl, mit dem Wasser zu verschmelzen. Auf einmal fühlt sie ein Prickeln in ihrem Körper. Jede einzelne Zelle scheint zu vibrieren. Das Wasser um sie herum fühlt sich an wie elektrisch geladen. Kaiana kennt dieses Gefühl. Sie sind da! Sie hat ihre Anwesenheit die ganze Zeit gespürt...

    „Kaiana! Ich habe dich was gefragt!"

    Seufzend bürstet ihre Mutter die Karotten, bis statt der braunen Erdschicht nur das leuchtende Orange übrig ist. „Du warst über eine Stunde weg!" Die dunkelbraunen Augen blitzen sie vorwurfsvoll an und versuchen Kaianas Blick einzufangen.

    „Ich weiβ nicht, Mama", sagt Kaiana müde.

    Es hat keinen Sinn, ihrer Mutter etwas zu erklären. Sie hat es schon oft vergeblich versucht.

    „Es tut mir Leid", fügt sie automatisch hinzu, in dem Versuch, eine Verbindung zu knüpfen. Sie weiβ nur zu gut, was nun unweigerlich folgt. Es ist nicht das erste Mal. Irgendwie scheinen sich die immergleichen Szenen endlos zu wiederholen, wie in einem Film, der sich immer wieder von vorne abspult. Wo war die Stopptaste?

    „Was heiβt hier ‚ich weiβ nicht’? Ich kann mich einfach nicht auf dich verlassen. Jedes Mal, wenn ich etwas von dir brauche, ist es dasselbe. Wo hast du nur deinen Kopf? Immer muss ich alles alleine machen..."

    Die Worte prasseln auf Kaiana ein wie ein heftiger Frühlingsregen. Der Tonfall ihrer Mutter folgt einem bestimmten Ablauf, der meistens gleich bleibt.

    ‚Vielleicht sollten wir das Ganze aufnehmen und einfach Abspulen beim nächsten Mal. Würde uns viel Energie sparen’, denkt Kaiana. Doch sie hält wohlweislich ihren Mund – der Vortrag würde sonst doppelt so lange ausfallen. Egal, ob sie etwas sagt oder nicht: Ihre Mutter scheint das immer gleiche Programm abspulen zu müssen, bevor sie sich leer redete und zu sich selbst zurückfand. Jedes Mal wenn sie ihren Kopf heftig schüttelt, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, fallen ihre schwarzen Locken wie Wellen um ihr Gesicht...

    Durch das eintönige Unterwasserrauschen hört Kaiana plötzlich eine Reihe lang gezogener eigenümlicher Töne. Die gurrenden Töne dringen tief in ihre Seele. Bevor sie weiβ, wie ihr geschieht, taucht neben ihr ein riesenhafter grauschwarzer Schatten auf. Ohne das Wasser zu zerwirbeln, gleitet er geschmeidig und still an ihr vorbei.

    Kaiana treibt vollkommen ruhig an der Oberfläche. Trotz der gigantischen Gröβe des Tieres fühlt sie sich sicher und gelassen. In ihr ist eine tiefe Freude, als würde sie einen lange vermissten Freund wiedertreffen. Die Walin wendet mit einem kräftigen Schlag ihrer gespaltenen Schwanzflosse. Ihr strahlendweiβer Unterbauch leuchtet wie Schnee in der Sonne. In einem Halbkreis schwimmt sie um Kaiana, bis ihr riesiges Maul direkt vor ihr schwebt. Kaiana sieht kleine Krustentiere und Parasiten, die an der Oberseite festgewachsen sind. Langsam und behutsam nähert die Walin sich bis auf wenige Zentimeter. Kaiana streckt ihre Hand aus und streicht mit ihren Fingerspitzen sanft über die glatte Nase. Ihre groβe Freundin scheint darauf gewartet zu haben. Genussvoll reckt sie ihren Kopf in die Höhe und lässt sich streicheln. Dabei achtet sie sorgsam darauf, Kaiana nicht mit ihrem massigen Körper zu bedrängen. Vollkommen bewegungslos schweben sie nebeneinander im Wasser. Das sanfte Auf und Ab der Wellen ist die einzige Bewegung...

    „... jetzt hilf mir wenigstens beim Kochen. Du kannst die Karotten schneiden."

    Ihre Mutter scheint am Ende ihrer Tirade angekommen zu sein. Energisch streicht sie sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und reicht ihrer Tochter auffordernd das scharfe Gemüsemesser. Sie seuftzt tief.

    Kaiana nimmt das Messer und konzentriert sich darauf, die langen orangefarbenen Finger in gleichmäβige dünne Scheiben zu schneiden. Sie ist froh, da sie weiβ, dass sie wieder einmal einen der vulkanartigen Ausbrüche ihrer Mutter hinter sich gebracht hat. Für die nächsten Minuten kann sie ihre Gedanken ziehen lassen. Ihre Mutter ist mit anderen Dingen beschäftigt und saust geschäftig in der kleinen Küche hin und her. Kaiana staunt immer wieder: Ihre Mutter kommt scheinbar nie zur Ruhe. Nur selten sieht man sie irgendwo still sitzen.

    „Friede mit euch, donnert eine raue, tiefklingende Stimme fröhlich und unterbricht ihre Gedanken. „Na, wie schwingen die Geister?

    „Risa!"

    Ein Leuchten erhellt Kaianas Gesicht.

    „Kaiana hat wieder mal über eine Stunde gebraucht, nur um ein paar Sachen aus dem Garten zu holen. Jetzt bin ich viel zu spät mit–"

    „Das ist ja nichts Neues. Du scheinst immer zu spät dran zu sein", unterbricht die alte Frau Seloina ungerührt.

    Hunderte von Falten laufen kreuz und quer über ihr Gesicht. Nur über ihre hohen Wangenknochen spannt sich die braungebrannte Haut wie dünnes Pergament bei einem Papierdrachen. Ihre dunklen Augen blitzen wach und klar. Obwohl sie schon ziemlich alt zu sein scheint, ist ihr Haar voll und kräftig. Es fällt ihr in langen grauweiβen Wellen über die Schultern. Auch ihre Haltung ist aufrecht und kraftvoll. Ganz anders als bei vielen alten Leuten, denkt Kaiana. Sie liebt ihre Groβmutter. Risa blinzelt ihr kaum merklich zu.

    „Was von Toroa gehört?" fragt sie ihre Enkelin.

    „Wer ist Toroa?" fährt ihre Mutter schnell dazwischen.

    „Das ist unser Geheimnis, Seloina. Kümmere dich um dein Essen."

    Risa blickt ihre Tochter streng an, doch die Falten um ihre Augen lächeln. Sie sieht Kaiana forschend an.

    „Komm. Ich muss dir etwas zeigen. Lass uns zum Sonnenfelsen gehen" fordert sie ihre Enkelin auf.

    „Kaiana, warte, hält ihre Mutter sie zurück. „Bist du mit den Karotten fertig?

    „Wir sind gleich wieder da." Risa schiebt Kaiana sanft aus der Tür, auβer Reich- und Hörweite ihrer Mutter. Sie kennt ihre Tochter. Auch wenn sie alle rumkommandiert und antreibt, ist sie im Grunde ihres Herzens zart und verletzlich. Um ihre Familie durchzubringen arbeitet sie viel, nachdem sie sich vor zwei Jahren von Kaianas Vater getrennt hat. Sie hat sich eine raue Schale zugelegt, die viele abschreckt. Risa ist eine der wenigen, die ihre stachelige Auβenhaut zu ignorieren weiβ. Sie setzt ihrer Tochter Grenzen, damit sie sich nicht in ihrer Härte verliert, sondern ihre Zartheit durchscheinen kann.

    Risa und Kaiana gehen ein kurzes Stück die wenig befahrene Straβe entlang, die hinunter in die Bucht führt. Kowharewa Bay ist eine kleine längliche Bucht, die sich wie ein gefüllter Weihnachtsstrumpf in das hügelige Grün des Landes stülpt. Üppiger Busch erstreckt sich bis hinunter zum Wasser. Nach einigen Metern verschwindet Risa hinter einem hochaufragenden Flachsbusch. Kaiana folgt ihr. Ein kaum sichtbarer Pfad windet sich zwischen den Bäumen hindurch den Hügel hinauf. Kleine Fächerschwänze schwirren neugierig um sie herum.

    Der Busch ist eine Welt für sich. Er umhüllt Kaiana mit einem Mantel, in dem sie sich geborgen fühlt. Wie im Meer findet sie hier eine kraftvolle Ruhe, die tröstlich und stärkend ist. Der Weg unter ihren nackten Fuβsohlen fühlt sich weich und kühl an. Durch das dichte Dach aus Blättern, Farnwedeln und Ästen fallen einzelne Sonnenstrahlen wie Scheinwerfer, die eine magische Bühne beleuchten. In solchen Momenten kommt Kaiana die Welt übersprudelnd und voller Leben vor. Sie fühlt sich wie ein praller Luftballon, rund und bis zum Bersten angefüllt mit Lebensfreude. Risa dreht sich um und lächelt sie an.

    Nach einiger Zeit führt der Pfad aus dem Busch auf offenes Grasland hinaus. Kaiana blinzelt. Nach den sanften Schatten der Bäume erscheint ihr die Sonne auf einmal grell und blendend. Unter ihnen erstreckt sich glitzernd die blaugrüne Ebene des Meeres. In der Ferne sieht sie Philip Island, eine kleine unbewohnte Insel, die sich dunkel gegen die Helligkeit der Sonne abhebt. Sie gehen bis zu einem mächtigen Baum, der etwas abseits auf einer Anhöhe steht. Seine Äste ragen hoch in das Blau des Himmels. Risa legt ihre Stirn an die fasrige Rinde des alten Baumes und lässt ihre Hand sanft den Stamm auf und ab gleiten. Kaiana wartet still. Sie weiβ, dass der alte Kauri ein besonderer Freund ihrer Groβmutter ist. Sie kennen sich seit Risa ein kleines Mädchen war. Seit über tausend Jahren steht der Baum an dieser Stelle, weit übers Meer hinausblickend, lange bevor Menschen das Land besiedelten. Sein gewaltiger Stamm ist so dick, dass elf Menschen sich an den Händen fassen müssen, um ihn zu umspannen.

    Kaiana betrachtet ihre Groβmutter. Einen kurzen Moment lang scheint sie mit der Rinde des Baumes zu verschmelzen und eins mit dem Stamm zu sein. Ihre Arme verbinden sich mit den Zweigen und strecken sich dem Himmel entgegen – knorrig und braun heben sie sich gegen das helle Blau ab...

    Kaiana schüttelt den Kopf. Langsam unterscheiden ihre Augen die alte Frau und den Kauri. Risa richtet sich auf. Ihre klaren Augen lachen fröhlich.

    „Sie hat mir von Toroa erzählt", sagt sie und zwinkert Kaiana zu.

    Für Risa sind Bäume, wie auch alle anderen Lebensformen, Persönlichkeiten mit eigenen Fähigkeiten und Wesenszügen. Sie spricht mit ihnen wie mit anderen Menschen.

    „Komm’, lass uns zum Sonnenfelsen gehen. Dann kannst du mir alles erzählen", ruft sie Kaiana zu und läuft mit federnden Schritten über die Wiese wie eine junge Frau.

    Kaiana ist stolz auf ihre Groβmutter. Mit ihr verbindet sie ein tiefes Verständnis. Sie muss sich nicht erklären und rechtfertigen. Risa scheint in sie hineinzublicken und weiss, was in ihr vorgeht. Sie muss ihr unbedingt von ihrem Traum erzählen...

    ***

    Kaiana begegnete der Walin vor einigen Wintern zum ersten Mal. Sie hatte sich mit ihrer Mutter gestritten und war weit ins Meer hinausgeschwommen, um ihre Gefühle loszuwerden. Sie schwamm und schwamm, und ihre Sinne waren vollkommen mit ihrem Inneren beschäftigt. Auf einmal hatte ihr Körper angefangen zu kribbeln. Das Kribbeln war immer stärker geworden, bis es fast schmerzte. Erschrocken hatte Kaiana festgestellt, dass sie viel weiter vom Land entfernt war als sonst. Sie erinnert sich daran, wieviel Angst sie damals gehabt hatte, als sie auf einmal einen Sog unter sich spürte und gleich darauf ein riesiger dunkler Schatten unter ihr durchs Wasser glitt. Sie senkte den Kopf ins Wasser und sah das Schönste und Eindrucksvollste, was sie je gesehen hatte: Einige Meter unter ihr schwebte ein gigantischer Körper wie ein flugzeuggroβer Vogel durchs Wasser. Seine weiβen Flügel erfüllten den ganzen Raum. Die Sonnenstrahlen malten flackernde Muster auf den von feinen schwarzen Linien durchzogenen hellen Bauch. Und Kaiana hörte Töne, die nicht von dieser Welt zu kommen schienen. Alles verwandelte sich auf einen Schlag. Ihr ganzes Wesen war erfüllt von der Schönheit und Anmut des riesigen Tieres, das da unter ihr durchs Wasser zu fliegen schien.

    Die Walin hatte Kaiana an diesem Nachmittag bis fast an die Küste zurückbegleitet. Sie hatte Kaianas Innerstes berührt. Und Kaiana hält seitdem nach ihr Ausschau, wann immer sie ans Meer geht. Sie war traurig, als die Wale die Küste verlieβen, um in die arktischen Gewässer weiterzuziehen, und auch Toroa eines Tages verschwunden war. Nie hätte sie erwartet, ihre Freundin wiederzusehen.

    Kaiana lächelt still in sich hinein, als sie daran denkt, wie Toroa sie im zweiten Winter begrüβte. Sie schwamm auf Kaiana zu, ihr Maul von der Gröβe eines Garagentors weit geöffnet, und jagte ihr einen riesigen Schrecken ein. Seither wartet Kaiana jeden Winter auf die Ankunft ihrer groβen Freundin.

    Kaiana empfängt Toroas Botschaften in ihren Gedanken klar und deutlich. Und auch Toroa scheint zu verstehen, was sie ihr sagen will. Die Walin brachte ihr viel bei. Nicht nur, wie man sich in den Wellen bewegt und die Zeichen der verschiedenen Strömungen liest. Sie hat Kaiana tief innen verändert. Kaiana ist selbstbewusster geworden. Ausgeglichener und zufriedener.

    Doch dies ist nicht alles...

    In regelmäβigen Abständen klatscht die alte Walin mit ihrer Brustflosse auf die Wasseroberfläche. Trotz der Brandung und dem Tosen des Windes ist das Geräusch weithin zu hören. Die Walin weiss, dass Töne unter Wasser weiter und besser hörbar sind als an der Luft. Sie hofft, dass ihr Signal ihre zweibeinige Freundin erreicht. Mit ganzer Kraft sendet sie ihre Gedanken über die Wellen und vertraut sie dem Wind an.

    Dann wartet sie...

    ***

    Sie ruft uns!"

    Lange Schatten tanzen im Schein des Feuers durch die tief gefurchte Haut auf dem Gesicht der alten Frau. Ihre dunkelgrauen Haare sind in einem langen Zopf zusammengeflochten, der ihr bis zu den Hüften reicht. Die kleinen Chrysopale auf den groβen silbernen Ohrringen blitzen jedes Mal auf, wenn sie den Kopf bewegt. Ihr sandfarbenes Kleid aus festem Leinenstoff ist mit leuchtendbunten Symbolen und Figuren bestickt, die im Tanz der Flammen zum Leben zu erwachen scheinen. Bedächtig streicht die Frau mit ihren schlanken Händen über einen groβen runden Obsidianspiegel. Er glänzt wie flüssiges Silber.

    Hier, sagt sie und reicht der jungen Frau neben ihr den Spiegel. „Es ist Zeit. Schau hinein!

    Schweigend nimmt die Jüngere den Spiegel entgegen. Er ist schwer. Durch ihren Kopf wandern so viele Fragen, doch die Augen der Alten sind geschlossen. Die junge Frau blickt auf die blank polierte Scheibe in ihrem Schoβ. Das dunkle Silber schimmert im Schein des Feuers. Es sieht aus, als würden Wellen über den glatten Stein wogen. Er scheint zum Leben zu erwachen...

    Plötzlich hört sie seltsam vertraute Klänge. Töne, die mal knarrend wie eine alte Tür, mal wie ein Möwenschrei frei durch den Raum schweben. Tief in ihrem Inneren wecken die Melodien Bilder und Gefühle. Sie tauchen unklar wie durch dichten Nebel in ihrem Bewusstsein auf. Die Wellen auf der Steinscheibe verschwimmen, das Wasser teilt sich – und ein hühnereigroβes dunkles Auge erscheint an der Oberfläche.

    Die junge Frau kann ihren Blick nicht von dem Auge lösen.

    Komm, Waltänzerin!" hört sie eine Stimme, zart und rauschend wie eine Welle.

    Sie fühlt Wasser, das sanft ihren Körper umspült. Schwerelos schwebt sie an der Oberfläche. Neben ihr treibt ein riesiger Wal. Sein Blick ist so intensiv, dass ihr Tränen in die Augen treten. Tief in sich fühlt sie ein groβes Verständnis, eine Verbundenheit, die alle Grenzen überwindet. Sie fühlt den Wal, sie ist der Wal. Töne steigen aus ihrem

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