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Ausweglos
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eBook273 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

In drei Büchern schildert der Roman in einer Mischung aus Polizei- und Detektivstory, Wissenschaftskrimi und Gesellschaftsroman die Entwicklung des jungen Biowissenschaftlers Johannes Bergius, der auf Druck seines Vaters eine Promotion "Summa cum laude" abliefern soll, damit er mit diesem Titel dessen Nachfolger an der Spitze seiner Pharmafirma werden kann. Johannes, dessen intellektuelle Fähigkeiten für die vom Vater geforderte Leistung nicht ausreichen, verstrickt sich in seiner bisexuellen Labilität und der Liebe zur japanischen Kunst derart, dass es für ihn keinen anderen Weg zu geben scheint, als den, sich mit einer gestohlenen Dissertation ins gemachte Nest zu setzen. Und die Kluft vom Diebstahl zum Mord ist nicht weit.

Die Handlung spielt hauptsächlich an einem renommierten Forschungsinstitut, wo die zweite Hauptperson, Georg Kolbe, als Wissenschaftlicher Bibliothekar arbeitet. Seiner Spürnase ist es zu verdanken, dass der getürkte Selbstmord als Mord aufgedeckt wird, wobei die Kripo nicht gerade vorteilhaft dasteht. Beharrlich sammeln Kolbe und seine Mitstreiter Indiz um Indiz, doch der Fall kann erst geklärt werden, als Kolbe bei einer Dienstreise nach Russland in den Besitz der gefälschten Dissertation kommt und Johannes entlarvt werden kann.

Obwohl die Protagonisten im Umfeld der modernen Biowissenschaften agieren, wo Rationalität gefragt ist, sind sie dennoch Personen aus Fleisch und Blut, deren Leben zum großen Teil von Liebe, Lust und Leidenschaft geprägt sind. Georg Kolbe liebt seine Freundin Paula, Prof. Brettschneider ist mit seiner Wissenschaft verheiratet, und der Elitestudent Tanaka widmet sich mit Leidenschaft der Neurochemie, was für ihn tödlich endet. Johannes Bergius verliebt sich in den Japaner Hiroshi, durchlebt aber mit anderen Partnern triebhafte Augenblicke, und ist bereit, für seine Sammlung japanischer Farbholzschnitte alles Andere stehen und liegen zu lassen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Feb. 2014
ISBN9783847661962
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    Buchvorschau

    Ausweglos - Jürgen Block

    -Danksagung-

    Es gibt nur eine Person, der ich von ganzem Herzen Dank sagen möchte: meiner Freundin Cara. Ohne sie würde es diesen Roman nicht geben. Als ich ihr davon erzählte, dass ich die ersten Sätze für einen Roman im Kopf habe, aber mich nicht trauen würde, sie auch nieder zu schreiben, ließ sie nicht locker, bis ich schließlich den Mut aufbrachte, und zu schreiben begann. Von da an begleitete sie die Personen und mich jeden Tag, oft per Email, mit ihrer konstruktiven Kritik durch die Handlung. Viele ihrer Ideen sind in die Geschichte eingeflossen.

    Einer Institution im Internet zu danken, die Stapel von Nachschlagewerken auf dem Schreibtisch überflüssig macht, bereitet mir besonders großes Vergnügen. Die Rede ist von Wikipedia und seinen zahllosen Autoren. Manche Anregung und zahlreiche Fakten haben das Schreiben zum Vergnügen gemacht. Danke, dass es euch gibt.

    Erstes Buch

    -1-

    Behände nahm Georg Kolbe die letzten Stufen zur Pforte des Paracelsus-Instituts für Systemforschung, die Glastüren glitten lautlos zur Seite, freundlich begrüßte er Renate, die Frau am Empfang, und wechselte ein paar unverbindliche Worte mit ihr. Bevor er seine Schritte in Richtung Bibliothek lenkte, ließ er seinen Blick durch das gewaltige Foyer schweifen, dessen einziger Zweck darin bestand, den Mitarbeitern und Besuchern klar zu machen, dass sie sich in einer Kathedrale der Wissenschaft befanden, in der der einzelne Mensch sich klein fühlen sollte angesichts der internationalen Bedeutung der hier geleisteten biomedizinischen Forschung.

    Etliche Mitarbeiter, denen die Ehrfurcht schnell abhanden gekommen war, sahen das ganze realistischer und klagten, dass die Architekten aus so vielen Kubikmetern ungenutzten Raums sehr gut noch Labore hätten schaffen können, denn in den Laboren des Instituts, das für einhundertundfünfzig Mitarbeiter konzipiert worden war und nun dreihundertundfünfzig Mitarbeiter beherbergte, trat man sich gegenseitig auf die Füße und ging sich auf die Nerven.

    Kolbes Blick fiel auch auf das große Blumenge-steck in einem quadratischen Blechkübel, das als Dankeschön für die Organisatoren eines Studenten-Symposiums stehen geblieben und vergessen worden war. Einsam und verloren stand es da, und hätte jemand einen schwarzen Stoffstreifen angebracht, würde sich das Foyer in eine Trauerhalle verwandelt haben.

    Der Weg in „seine Bibliothek führte Kolbe an der Büste des Namenspatrons der Paracelsus-Gesellschaft vorbei, und er grinste das versteinerte Antlitz an, weil seine Freundin, die einen gehörigen Schuss gesunden Humors besaß, oft morgens zu ihm sagte: Nun arbeite mal schön fleißig, damit Paracelsus mit dir zufrieden sein kann!"

    Im Gang zur Bibliothek lag ein Teppich aus gelben Blütenpollen und er schloss das Oberlicht im ersten großen Fenster. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein, was wie jeden Tag etwas später vom Sicherheitsbeauftragten des Instituts wieder rückgängig gemacht werden würde, mit dem Argument, das Institut müsse Strom sparen. Dabei übersah der gute Mann allerdings, dass die Lampen auch Licht für eine Überwachungs-Kamera spendeten, die über einem Portrait des Namenspatrons angebracht war, hinter dem sich ein Wandsafe befand.

    In diesem Safe lag eine weitere Zugangskarte für den Eingang und die Bereiche des Instituts, die abends ab neunzehn Uhr für unbefugten Zutritt gesperrt wurden. Mitarbeiter, die spät in der Bibliothek gearbeitet und ihre persönliche Zugangskarte in ihrem Labor oder dem Büro liegen gelassen und sich also ausgesperrt hatten, sollten mithilfe dieser Ersatzkarte in ihre Räume zurück gelangen können. Alle Vorgänge an diesem Safe würden von der Kamera aufgezeichnet, hieß es von den Sicherheitsexperten, und sie versuchten, dabei ganz wichtig auszusehen. So weit er wusste, hatte noch niemand Gebrauch von dieser Karte gemacht und es gab Gerüchte im Institut, dass der Safe leer sei, was ihm den Spitznamen „Potemkin-Safe" eingebracht hatte.

    Dr. Kolbe betrat den Lesesaal der Bibliothek, in dem bereits einige eifrige Studenten an der Abfassung ihrer akademischen Qualifikationen arbeiteten, schaltete auch hier die Neonröhren ein und schloss die Tür zu seinem Büro auf. Er wunderte sich, dass seine Assistentin Petra noch nicht an ihrem Schreibtisch saß, doch dann studierte er den Jahresplaner an der Wand und schlug sich an die Stirn, sie hatte ja Urlaub.

    Kolbe ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen, schaute missbilligend seine enorme Unordnung links und rechts von seinem PC an, streckte und reckte sich, was zu einem Knacken in den Halswirbeln führte – dreiundsechzig Jahre waren eben nicht spurlos an ihm vorüber gegangen – und fuhr seinen PC hoch. Browser und Emailprogramm starteten automatisch, nur das Bibliotheksverwaltungsprogramm Pegasus musste er von Hand aufrufen.

    Seit über dreißig Jahren arbeitete er nun schon in diesem Institut, oft schien es ihm, als gehöre er bereits zum lebenden Inventar. Nach langer Laborarbeit als Molekularbiologe wurden seine Aktivitäten in eine Richtung gelenkt, die er nicht vorausgeplant hatte. Die Direktoren des Instituts hatten beschlossen, ihn aus dem Zentrallabor für Bioanalytik in die Bibliothek zu versetzen, nicht zuletzt auch deshalb, weil seine Analysen bereits damals mit umfangreichen Recherchen in Datenbanken verbunden waren. Sie gaben ihm vierzehn Tage Bedenkzeit, doch weil seine wissenschaftliche Karriere zu jener Zeit stagnierte, brauchte er nicht lange zu überlegen.

    Den Nobelpreis würde er so oder so nicht mehr bekommen, es war an der Zeit, sich von dem gnadenlosen wissenschaftlichen Konkurrenzkampf zu verabschieden. Er nahm die Herausforderung an und es hatte sich ausgezahlt. Nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt begann die digitale Revolution im wissenschaftlichen Publikationswesen.

    Zeitschriftenartikel erschienen nun nicht nur im Druck, sondern wurden online übers Internet im Volltext angeboten und unterschieden sich nicht von den gedruckten Exemplaren. Er war unter den ersten, die für seine Bibliothek Lizenzen zur Nutzung dieser Angebote erwarben.

    Jetzt war die Online-Versorgung mit wissenschaftlicher Literatur zu einem millionenschweren Geschäft geworden, die Öffentlichkeit, Politik und Justiz hatten sich intensiv mit den damit verbundnen Fragen beschäftigt. Die Paracelsus-Gesellschaft hatte eine Dachorganisation eingerichtet, die sich mit Mitteln aus jedem Institutshaushalt finanzierte, mit den großen wissenschaftlichen Verlagen verhandelte und Lizenzen für mittlerweile über zwanzigtausend Zeitschriften verwaltete.

    Weil jeder Institutsangehörige, vom Bachelor-Studenten bis hin zum Professor, an seinem Arbeitsplatz-PC auf diese Inhalte zugreifen konnte, wurde bald von etlichen Seiten geäußert, dass man nun Bibliothekarinnen und Bibliothekare nicht mehr brauche, es sei ja alles online. Und tatsächlich ging der Trend in einigen Bibliotheken der biowissenschaftlichen Institute der Paracelsus-Gesellschaft dahin, OPL (One Person Libraries) zu NPL (No Person Libraries) zu machen.

    Es wurde aber auch deutlich, dass Bibliothekare ihr Handwerk nicht nur mit penibler Professionalität ausübten, sondern darüber hinaus auch die Kunstfertigkeit entwickelten, sich schlichtweg unentbehrlich zu machen. Kolbe hatte diese Kunst bis zur Perfektion entwickelt: es gab nach wie vor wissenschaftliche Literatur, die nicht im Buch- und Zeitschriftenbestand der Bibliothek vorhanden war und für die es keinen Online-Zugriff gab. Moderne Bestellsysteme erlaubten es dem pfiffigen Bibliothekar, dem Nutzer diese Informationen in wenigen Stunden zur Verfügung zu stellen, und wenn er Fragen wie „Wie macht ihr das nur so schnell? mit hintergründigem Lächeln beantwortete „Na ja, wir haben halt so unsere speziellen Quellen!, dann hatte er seinen großen Auftritt als Merlin der Informationstechnik.

    Zu Sternstunden des Recherchierens und Bibliographierens kam es, wenn der ehemalige Geschäftsführer des Instituts vorbeischaute und neue Literaturwünsche hatte. Dr. Robert Fahlmann war Physiker und mutierte nach seiner Pensionierung zum Haushistoriker des Instituts. Das jetzige Paracelsus-Institut hatte mehrere Vorläufer gehabt, von denen die während der Nazi-Diktatur existierenden historisch die interessantesten waren. Fahlmann hatte dazu mehrere Beiträge in populären Zeitschriften geschrieben und arbeitete nun zusammen mit anderen Historikern an einer umfassenden Darstellung der Institutsgeschichte. Er war ständig agil und auf dem Sprung, brachte kaum einen Satz vernünftig zu Ende, nahm sich aber die Zeit, die neuesten Geschichten zu erzählen, die er dem Dunkel der Vergangenheit entrissen hatte.

    Ohne sich angekündigt zu haben, stand Fahlmann heute um zehn Uhr in Kolbes Büro. Er scherte sich nicht darum, dass Kolbe gerade mit anderer Arbeit beschäftigt war, erzählte sofort Geschichten von Leuten, die Kolbe vollkommen unbekannt waren und kam dann zum Kern seines Besuches, was er wie immer mit den Worten einleitete:

    „Sagen Sie, Herr Kolbe, kommen Sie an so was ran?".

    Er reichte Kolbe einen Zettel herüber, auf dem Folgendes zu lesen war: „Jendrassek, Das Le Chateliersche Prinzip ..., Studia Biologica Hungarica".

    Kolbe, der ein hervorragendes visuelles Gedächtnis besaß und jedes Buch in der Bibliothek nicht nur einmal in der Hand gehabt hatte, schaute enttäuscht auf seinen Besucher. Dessen Wunsch brachte ihn leider um den Genuss, nach Herzenslust bibliographieren zu können, denn das gesuchte Heft befand sich in der Gleitregalanlage des Magazins im Keller des Instituts, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

    „Herr Fahlmann, das Heft ist bei uns vorhanden, ich muss es nur aus dem Magazin holen., sagte er. „Haben Sie noch etwas anderes im Haus zu tun? Es dauert nur ein paar Minuten.

    „Einverstanden, freute sich Fahlmann, „ich habe noch eine Besprechung mit einem der Direktoren. In einer Stunde bin ich wieder da. Damit verschwand er auf leisen Sohlen wie er gekommen war.

    Kolbe schaute noch kurz auf seine aktuellen Emails, dann machte er sich auf den Weg ins Magazin. Vom Schreibtisch loszukommen, das konnte seinen alten Knochen nur gut tun.

    -2-

    Das Magazin einer Bibliothek ist so etwas wie seine Schatzkammer und liegt wie bei der Krypta einer Kirche zumeist tief unter der Erde als Teil des Gebäudefundaments. Auch das Magazin des Paracelsus-Instituts lag zwei Etagen unter dem Lesesaal und beherbergte ebenfalls einige Schätze, so Zeitschriftenbände aus dem neunzehnten Jahrhundert, die in Deutschland kein zweites Mal vorhanden waren. Aber sie waren für die Forscher im Institut noch nicht einmal von bibliophilem Interesse. Wer beschäftigte sich schon mit physiologischer Literatur aus der Anfangszeit dieser Wissenschaft, in einer Zeit, in der sich die Biowissenschaften alle 10 Jahre selbst revolutionierten? Gegen massiven Widerstand, vor allem der Direktoren des Instituts, war es Kolbe trotzdem gelungen, den Bestand im Magazin zu wahren. In dieser Hinsicht war er ein Konservativer, dem es in der Seele wehtat, wenn Bücher vernichtet wurden.

    Als Kolbe die Stahltür zum Gang in das Magazin öffnete, fiel ihm ein Geruch auf, den er vorher noch nie wahrgenommen hatte. Er hatte nichts mit den Gerüchen zu tun, die üblicherweise in diesem Kellergeschoss vorhanden waren. Die Handwerker rauchten hier, obwohl das Rauchen im ganzen Institut verboten war, es roch nach aufgewärmtem Essen, und wenn Löt- oder Schweißarbeiten ausgeführt wurden, lag dieser typische metallische Geruch in der Luft. Aber diesen stechenden, jedoch auch süßlich-sauren Geruch kannte Kolbe, der als Nichtraucher eine empfindliche Nase hatte, überhaupt nicht. An diesem Montagmorgen wurde hier nicht gearbeitet, niemand war zu sehen, doch der Geruch wurde intensiver, als er sich der Tür zum Magazin näherte.

    „Verdammt!, dachte Kolbe, „bestimmt haben sich wieder Mäuse oder Ratten im Magazin eingenistet, von denen einige gestorben sind und jetzt in den Ecken vergammeln. Es wird allerhöchste Zeit, Fallen aufzustellen.

    Das Magazin war nämlich beheizt und er hatte den Gebäudetechniker gebeten, die Temperatur etwas zu drosseln, da die Bücher unter der trockenen Wärme litten, aber der sture selbstherrliche Kerl hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, die Temperatur sei so vorgeschrieben.

    Als er die Tür zum Magazin geöffnet hatte, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück, denn der Geruch nahm ihm sofort den Atem. Er hielt sich die Nase zu, schaltete die Beleuchtung im Gang und über den Regalen ein und begann, die Kurbel am Regal Sieben zu drehen. Gleitregalanlagen, auch Compactus genannt, waren schon eine tolle Sache, da hatten Ingenieure und Techniker ganze Arbeit geleistet. Das gesuchte Heft befand sich im Regal Achtzehn links, aber zuerst musste er die kleinen Lücken zwischen den Regalen davor schließen. Die Regale glitten lautlos auf ihren kugelgelagerten Rollen dahin, doch plötzlich gab es einen Ruck, die Kurbel schlug zurück auf seine Hand: die Lücke zwischen den Regalen Dreizehn und Vierzehn ließ sich nicht schließen.

    ‚Ja, ja, es sind wieder einige Bände aus den Regalen gefallen’, dachte Kolbe und bewegte sich auf die Lücke zwischen den Regalen Dreizehn und Vierzehn zu. Seine Augen weiteten sich, die Luft blieb ihm weg und starr blieb er stehen, als er in den Gang schaute.

    Auf einer Isomatte lag in grotesk verkrümmter Haltung ein Mann mit einer großen Wunde in der Bauchregion, aus der sich große Mengen Blut auf den Boden des Magazins ergossen hatten.

    Mit der rechten Hand umklammerte er ein langes gebogenes Messer, die Waffe, die augenscheinlich zu seinem Tod geführt hatte. Kolbe wurde es kurz schwarz vor Augen, doch er zwang sich, ein zweites Mal hinzusehen. „Mein Gott, das war ja Tanaka, der japanische Elite-Student von der Universität Kyoto!", schoss es ihm durch den Kopf, Als er ein weiteres Mal genauer schauen wollte, revoltierte sein Magen, geistesgegenwärtig trat er in den Gang zurück und erbrach sich unter Tränen vor den Regalen.

    Während seiner Ausbildung zum Biologen hatte Kolbe schon so manche Leiche gesehen, zumeist die von Ratten und Mäusen oder anderen kleinenSäugetieren, aber mit einer menschlichen Leiche war er noch nicht konfrontiert worden, mal abgesehen von seinen Eltern, die nach ihrem Tod friedlich in den Betten gelegen hatten. Leichen im Film und Fernsehen führten auch nicht zu umgekehrter Verdauung, aber einen derart massakrierten Menschen zu sehen, verbunden mit dem Geruch, war eben grausame Realität und selbst für einen gesunden Magen zu viel. Wäre dieser Tote ein ihm gänzlich Unbekannter gewesen, hätte ihn das womöglich nicht so emotional aufgewühlt, aber es war ja zweifelsfrei Tanaka, ein Mensch, zu dem er eine enge Beziehung aufgebaut hatte.

    Nachdem er sich erholt hatte, fischte er mit zitternden Fingern sein Handy aus der Gürteltasche und wählte die Nummer vom Empfang. Als Renate abhob, hörte er sich mit tonloser Stimme sagen: „Renate, informiere die Polizei und die Institutsleitung. Wir haben eine Leiche im Keller!"

    -3-

    Die Spurensicherung der Kriminalpolizei hatte einen Scheinwerfer aufgestellt, der die Szenerie gnadenlos ausleuchtete, und alle, die am Tatort unmittelbar nichts zu suchen hatten, aufgefordert, sich im Gang vor dem Magazin aufzuhalten. Dem Geschäftsführer des Instituts stand der Schweiß in kleinen Perlen auf der Stirn und er murmelte immer wieder: Dieser Skandal, davon darf nichts an die Öffentlichkeit gelangen!

    Das war also seine einzige Sorge angesichts der Tatsache, dass ein Mensch keinen anderen Ausweg aus einer verzweifelten Lage gewusst hatte, als den sich umzubringen.

    Die Direktoren des Instituts befanden sich auf Dienstreisen, sollten aber so schnell wie möglich zurückgeholt werden. Die diensthabende Kriminaloberkommissarin Gabriele Richter war noch nicht im Institut erschienen, aber der Gerichtsmediziner hatte bereits mit seiner Arbeit begonnen und nach ein paar Minuten über die verdammte Harakiri-Sauerei geschimpft.

    Kolbe war nur kurz zur Person vernommen worden, und saß nun wie gelähmt auf einem wackeligen Bürostuhl im vorderen Bereich des Magazins, doch in seinem Hirn rasten die Gedanken: ’Tanaka, warum ausgerechnet Tanaka? Was hatte er auf seiner Isomatte im Magazin zu suchen? Und weshalb sah es so aus, als habe er sich nach der Art eines Samurai mittels Harakiri umgebracht? Und vor allem, welchen Grund sollte er gehabt haben?’

    Schließlich hatte der junge lebensfrohe Japaner vor einigen Wochen begonnen, im Lesesaal der Bibliothek seine Dissertation zu schreiben.

    Eines Abends, als der Lesesaal sich bis auf Tanaka geleert hatte, war Kolbe zu ihm gegangen, Tanaka hatte sich gefreut, angesprochen zu werden und Kolbe aufgefordert, sich zu ihm zu setzen. Er begann über seine Arbeit zu sprechen, die so unglaublich gut war, dass Kolbe wie gebannt zuhörte. Tanaka war es als erstem gelungen, den gesamten Stoffwechsel einer Nervenzelle mit allen dabei beteiligten Molekülen in einem dynamischen Modell zu beschreiben, ein Durchbruch in der zellbiologischen Forschung, der bestimmt mit den höchsten wissenschaftlichen Ehren ausgezeichnet werden würde.

    Sie sprachen aber auch über Deutschland und Japan, und schließlich über Gott und die Welt.

    Kolbe schreckte aus seinen Gedanken auf, als ihm ein Kriminalassistent auf die Schulter tippte und mitteilte, dass die Frau Kommissarin noch auf sich warten ließe. Kolbe nickte nur müde und hing weiter seinen Gedanken nach. Diesem ersten guten Gespräch mit Tanaka sollten noch viele weitere folgen. Wann immer es ihre Zeit erlaubte, steckten sie ihre Köpfe zusammen, lasen Passagen der Dissertation und diskutierten über Formulierungen.

    Allmählich entwickelte sich so eine Art Vater-Sohn-Verhältnis und Tanaka erzählte mehr und mehr persönliche Dinge. Er hatte eine Frau kennen gelernt und sich in sie verliebt, was er bis jetzt nur seinen besten Freunden erzählt hatte. Kolbe bedankte sich für das Vertrauen, das Tanaka ihm entgegenbrachte, und Tanaka erzählte von seinen Freunden, die mit ihm durch dick und dünn gehen würden. Bei jedem Gespräch kam er allerdings auf seine Familie zu sprechen, auf Eltern, Geschwister und vor allem auf seine geliebten Großeltern, die ihm, dem modernen Japaner, noch etwas von der traditionellen japanischen Lebensweise mitgegeben hatten.

    Sein Großvater litt an Krebs im Endstadium, bestürzt und traurig stellte Tanaka fest, dass es ihm nicht mehr vergönnt sein sollte, seinen Großvater noch einmal lebend zu sehen. Seine Familie war nicht vermögend und konnte ihm die Heimreise nach Kyoto nicht bezahlen. Einem großen deutschen Unternehmen hatte er es zu verdanken, dass er in Deutschland studieren durfte, aber außerordentliche Heimreisen konnten von diesem Stipendium nicht finanziert werden. Als die Geldgeber erkannten, welches enorme wissenschaftliche Potential in Tanaka steckte, hatten sie ihn mit Beginn seiner Studien in Deutschland unterstützt. Ohne dieses Geld hätte Tanaka seine beruflichen Träume begraben müssen.

    Während Kolbes Großhirn diese trüben Gedanken zu verarbeiten versuchte, meldete sich ein anderes Areal seines Gehirns, das mit der Verarbeitung von Gerüchen beschäftigt war. Der Geruch des Todes hatte sich hier schon breit gemacht und sich als Dauerreiz bereits abgeschwächt, aber nun schwebte eine dezente Note von Chanel No. 5 im Raum, ein Stuhl wurde zu Kolbe herangezogen und als Kolbe aufsah, blickte er in das Gesicht einer etwa vierzigjährigen Frau, die ihn aus hellbraunen Augen aufmerksam und ruhig ansah.

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