Nach(t)Klang: Neue Gute-Nacht-Geschichten für Erwachsene
Von Jo Jansen
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Achtung - in diesem Buch sterben nicht nur Nikoläuse!
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Buchvorschau
Nach(t)Klang - Jo Jansen
Ruhestand
Ich schüttete Schokopops in die blaue Müslischüssel. Das klang lustig. Einige dieser braunen Kugeln hopsten wieder heraus, hüpften und kullerten fröhlich über den hellen Holztisch. Zwei, drei besonders vorwitzige, süße Pops sprangen hinab auf den blau-weiß gemusterten Linoleumfußboden und verschwanden unter dem Küchenschrank. Auf Nimmerwiedersehen. Renates vorwurfsvolle Miene sagte mir, dass sie ganz gewiss nicht dort unten putzen würde.
Na und? Ich atmete den Duft des frisch gebrühten Kaffees ein. So liebte ich ihn – türkisch und stark. Jahrelang hatte Renate mir eingeredet, er könnte meinem Herzen schaden. Jetzt ruhte ihr Blick stumm auf mir. Das machte ihn zu einem besonderen Genuss.
„Weißt du, Renate, ich habe mir etwas überlegt", begann ich kauend zu sprechen. Ich wusste, wie sehr sie meine Angewohnheit hasste, mit vollem Mund zu reden. Anders als sonst üblich, fiel sie mir aber nicht ins Wort.
„Ich werde den großen Flachbildfernseher kaufen. Siebzig Zoll ... Genießerisch ließ ich die letzten beiden Worte auf der Zunge zergehen und biss in eine Scheibe Weißbrot mit Orangenmarmelade. Gekaufte Orangenmarmelade! Das kam in Renates Augen einem Sakrileg gleich. „Wir haben den Keller voller selbst gemachter Erdbeer-, Kirsch- und Zwetschgenmarmelade
, hatte ich jedes Mal zu hören bekommen, wenn ich der herben Orangenmarmelade im Ladenregal auch nur einen sehnsüchtigen Blick geschenkt hatte.
„Siebzig Zoll, wiederholte ich. „Das ist ganz großes Kino.
Die jahrelange Gewohnheit veranlasste mich, erklärende Worte nachzuschieben. Zu rechtfertigen, zu beschwichtigen.
„Deine und meine Rente zusammen bringen jeden Monat mehr Geld aufs Konto, als wir zum Leben brauchen. Warum also nicht auf die alten Tage ein paar lang gehegte Wünsche erfüllen?"
Nun musste ich doch lachen. Es war ja nicht so, dass das Erfüllen der Wünsche heute erst begann. Nein, gerade gestern hatte ich mir den ferngesteuerten roten Ferrari gekauft. Ein Kinderspielzeug, von dem ich mein Leben lang geträumt hatte. Genau das war bisher Renates Meinung dazu gewesen – kindisch. Wie die Schokopops, die ich vorgestern statt Schwarzbrot zum Frühstück eingekauft hatte. Oder das Rolling Stones T-Shirt mit der Zunge von Mick Jagger. Ich hatte es am Montag im Schaufenster eines Ladens in der Altstadt entdeckt. Jetzt fiel ein Klacks Orangenmarmelade mitten auf Micks Zunge. Ich nahm den Löffel aus dem Glas, leckte ihn ab und stoppte damit den langsam tiefer rutschenden Marmeladenklecks. Den Kopf noch leicht gesenkt, ließ ich meinen Blick hinüber zu Renate wandern und konnte mir ein leises Lächeln nicht verkneifen.
Ihr tadelnder Blick traf den meinen, doch sie schwieg.
„Ach Renate, sprach ich und spürte so etwas wie Rührung in meinem Herzen. „Du bist und bleibst die einzige Frau in meinem Leben.
Ich sah ihr tief in die Augen. Ja, sie gefiel mir, meine Renate. Heute mehr denn je zuvor. So konnte ich mir einen leisen Vorwurf nicht verkneifen: „Warum konntest du nicht einfach schon früher mal den Mund halten?"
Das Frühstück mit Renate war in fast fünfzig Jahren Ehe zu einem Ritual geworden, das ich nicht mehr missen mochte. Gemeinsam in den Morgen starten, den Tag planen und besprechen, wie es sich für gute Eheleute ziemt. Wobei, wenn ich ehrlich war, hatte in der Vergangenheit meist Renate gesprochen und stets gehorsames Nicken von mir erwartet. Tu dies, vergiss jenes nicht usw. Ansonsten hatte sie mich nicht nur mit vorwurfsvollen Blicken, sondern auch endlosen, nur von Seufzern unterbrochenen, Belehrungen gestraft. Vor allem beim Frühstück. Und auch den Tag über, wann immer sie meine Ohren in Reichweite ihrer schrillen Stimme wähnte. Also immer. Denn in unserem kleinen, gemeinsam geführten Lebensmittelladen gab es für mich kein Entkommen. Vor drei Monaten hatten wir das Geschäft aufgegeben. Wir waren beide über siebzig. Zuletzt hatten sich kaum noch Kunden in unseren Laden verirrt. Zumindest keine, die jünger als wir waren und mehr als ein Stückchen Butter oder ein Päckchen Kaffee kaufen wollten. Und das auch nur, weil sie es im Supermarkt vergessen hatten. Ruhestand nannte man den Zustand, in dem wir uns danach befanden. Wenn Renate doch nur endlich Ruhe gegeben hätte. Stattdessen monierte sie, wie in den Jahrzehnten zuvor, dass mir mein Frühstücksei wohl nicht schmeckte, wenn ich es nicht als Erstes aß. „Erst Herzhaftes auf Vollkornbrot, dann Süßes auf Weißbrot, Bodo", hatte sie mich immer wieder kopfschüttelnd getadelt, wenn ich mich über diese von ihr aufgestellte Regel hinwegsetzte.
Daher hatte ich vor einer Woche einen Entschluss gefasst und direkt in die Tat umgesetzt. Seitdem sprach Renate nicht mehr mit mir. Jetzt erst empfand ich mein Leben als wahren, glückselig machenden Ruhestand. Und nicht nur das.
Unser gemeinsames Frühstück war geblieben. Der Rest des Tages aber gehörte mir allein.
Mit dem Rücken der linken Hand wischte ich ein paar Weißbrotkrümel von meiner Hose und erhob mich. Mit der Rechten tätschelte ich Renate die blasse Wange.
„Nun komm schon, meine Liebe, sonst fängst du noch an zu tropfen", redete ich ihr gut zu. Plopp-plopp, löste mein Fuß die Blockade der Räder. Langsam schob ich Renate in ihrem Rollstuhl aus der Küche und über den Flur. Weiter durch das ehemalige Ladengeschäft hindurch, vorbei an der leeren Kühltheke und den nackten Borden an der Wand. Ich öffnete die schwere Edelstahltür des Tiefkühlraumes. Eisige Kälte schlug mir ins Gesicht. Mit Schwung lenkte ich den Rollstuhl hinein, in die Mitte des ansonsten leeren Raumes.
„Tschüss Renate, bis morgen." Fröhlich winkend verabschiedete ich mich von meiner Frau. Morgen würden wir wieder gemeinsam frühstücken. Für heute traf mich zum letzten Mal der stumme Vorwurf, der unauslöschlich in ihrem Gesicht eingefroren war.
Omis Kekse
„Oma ist tot."
Die Stimme seiner Mutter am Handy war ganz leise, sodass Daniel einen Moment lang hoffte, sich verhört zu haben. Doch dann hämmerte sich das Echo der Worte immer lauter werdend in seinen Kopf. Oma ist tot. OMA IST TOT!
Seine Oma – Omi hatte er immer zu ihr gesagt, die gestern noch die kleinen weißen Kekse für ihn gebacken hatte. Er hatte sich, wie immer, seit er kein kleiner Junge mehr war, zum Abschied zu ihr hinabgebeugt und sie vorsichtig gedrückt. Sie war ja so klein, seine Omi, so zerbrechlich, und sie roch immer nach diesem Oma-Parfüm. Daniel spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Hätte er gestern geahnt, dass dieser Abschied endgültig sein sollte, er hätte seine Omi gar nicht mehr losgelassen.
Die folgenden Tage fühlten sich für ihn an wie in Nebel gehüllt. Er fuhr jeden Tag mit dem Bus in die Firma, verrichtete seine Arbeit und fuhr am Abend wieder nach Hause. Doch er tat dies automatisch, wie ein gut programmierter Roboter, dem kein Fehler unterläuft. In seinem Kopf verwoben sich die Erinnerungen an seine Omi zu einem riesigen, bunten, lebendigen Bild, und er bemühte sich, jeden Zipfel davon festzuhalten.
Die Testamentseröffnung war keine Überraschung. Omi hatte immer gesagt: „Mein Häuschen mit allem, was darin ist, erbt einmal der Daniel. Das ist alles, was ich ihm hinterlassen kann. Wie die Omi war das Häuschen ebenfalls klein, alt und wirkte zerbrechlich. Doch dieses Erbe riss Daniel aus seiner Lethargie. Er sagte zu seinen Eltern: „Ich zieh' in Omis Häuschen. Mein Lehrlingsgeld geb' ich dann eben für Mörtel und Farbe aus, statt für die Disco. Nach Feierabend und an den Wochenenden kann ich am Häuschen reparieren und sanieren, dass es der Omi auf ihrer Wolke ein Lächeln ins Gesicht zaubern wird!
So geschah es. Mit Musikanlage, ein paar Postern, seinen Karategürteln und einem Sack voll Klamotten zog Daniel um. Omis Häuschen lag in einer kleinen Gasse neben dem riesigen Einkaufszentrum, das vor fünf Jahren am Rande der Altstadt gebaut worden war. Für Daniel war das sehr praktisch. So hatte er Supermarkt, Dönerladen und alles, was er sonst noch benötigte, direkt vor der Haustür. Er begann voller Eifer, das Häuschen in Besitz zu nehmen. Die Zimmer waren klein, aber prall gefüllt mit den Erinnerungen, die er seit seiner Kindheit hier gesammelt hatte. Ein Hauch von Omis Parfüm Nonchalance hing noch in der Luft. Daniel fand, dass ihre selbst gehäkelten Deckchen sich durchaus mit seinen Heavy Metal Postern und Karategürteln vertrugen, die er an der Wand aufhängte. Die Dose mit den letzten Keksen, die seine Omi ihm gebacken hatte, bekam einen Ehrenplatz auf dem kleinen Tischchen neben dem Sofa. Jeden Abend öffnete Daniel den Deckel, schnupperte und gönnte sich genau einen seiner Lieblingskekse. Sie waren hell, knusprig und schmeckten ganz leicht nach Zitrone. Am Wochenende öffnete er alle Fenster, drehte seine Musikanlage voll auf und begann, auszusortieren was alt, kaputt und unbrauchbar war. Dabei lächelte er so manches Mal versonnen. Seine Omi! Wenn sie eine kaputte Glühbirne auswechseln musste, hatte sie diese hinterher in die Schachtel der neuen Lampe gesteckt und im Keller gelagert. Daniels Erbe enthielt siebzehn kaputte Glühbirnen. Außerdem gefühlt an die tausend Plastikblumentöpfe, geflochtene Bastkörbchen, wiederverwendbare Einkaufstüten und Keksdosen. Ja, die Omi war in einer Zeit groß geworden, als man alles noch irgendwie gebrauchen konnte. Daniel sah es ihr nach und entsorgte alles bis auf die Keksdosen. Darin fand er ab und zu noch ein Krümelchen seiner Lieblingskekse.
Der Brief von der Bank sah ganz harmlos aus. Daniel, als Erbe der verstorbenen Frau Elsa Dankert, wurde zu einem Gespräch gebeten. Dort eröffnete man dem ahnungslosen jungen Mann, dass er mit dem Haus auch die darauf lastende Hypothek von fünfundsiebzigtausend Euro geerbt hatte, und fragte ihn, wie er diese Schulden abzahlen