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Der Unrealist: Erste Staffel
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eBook337 Seiten4 Stunden

Der Unrealist: Erste Staffel

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Über dieses E-Book

Das Abenteuer beginnt wie üblich:
Mit einem Monster unter dem Bett (missverstanden), einem fremden Schönling (weit unterschätzt) und einer erst wenig aufregenden, dann etwas unerfreulichen Verfolgungsjagd, an deren Ende Stuaire, unsere Heldin, vor ihrem Schöpfer steht.
Sie beschließt mit ihm zu reisen - wenn auch nur für eine Weile, denn schließlich ist da noch ihre unvernünftige kleine Schwester, auf die sie ein Auge haben muss.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Mai 2018
ISBN9783742738806
Der Unrealist: Erste Staffel

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    Buchvorschau

    Der Unrealist - Geraldine Stern

    Episode 1

    Träum weiter

    Guten Abend, lieber Zuschauer.

    Ich möchte Sie Zuschauer nennen, obwohl Sie aktuell nichts sehen. Aber keine Sorge, in wenigen Minuten beginnt das Spektakel.

    Wir befinden uns in der Wohnung von Stuaire Scothdhearg, 23 Jahre alt. Neunter Stock, Aussicht auf den Fluss, es ist Nacht und, wie könnte es anders sein, neblig – keine Sterne, kein Mond, kein Funken Licht zu sehen. Es ist so dunkel, dass sie die eigene Hand nicht vor den Augen sieht.

    Was für ein Mensch ist Stuaire?

    Ihre Wohnung ist winzig – einen einzigen Raum kann man eigentlich nicht Wohnung nennen, zudem sich darin lediglich ein Bett und ein Schrank befinden.

    Wie ihr Name schon vermuten lässt, ist sie rothaarig. Eine nicht zu bändigende Sintflut kupferfarbener Locken wogt auch jetzt wirr und leuchtend über ihr Kissen und ihr Gesicht, obwohl sie am Abend zuvor versucht hat, die Übermacht auf ihrem Kopf mit einem Band zur Räson zu bringen.

    Jetzt ist sie ohnehin wach. Ich muss nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass es kurz nach drei in der Nacht ist. Stuaire ist wach, weil sie ein Geräusch in ihrer Wohnung gehört hat, ein Quietschen wie von Sprungfedern. Sie liegt mit offenen Augen in ihrem Bett, sie atmet ruhig ein und lauscht in der Gewissheit, dass die Dunkelheit nichts Schrecklicheres bergen kann als sie selbst.

    Ich öffne die Augen und plötzlich wird es hell.

    Stuaire war gerade dabei gewesen in die Nacht zu starren und herauszufinden, was sie als nächstes tun sollte, als plötzlich neben ihr zwei Augen geöffnet wurden, von so hellem, durchdringend strahlendem Blau, dass der Raum dadurch zu erleuchten schien.

    Die Augen sahen sie direkt und aufmerksam an. Es gelang ihr nicht, wegzusehen. Der dazu gehörige Mann lag in ihrem Bett, direkt neben ihr, ohne einen Funken von schlechtem Gewissen oder Verlegenheit zu zeigen, den Kopf mit dem Arm aufgestützt, er betrachtete sie nach wie vor, ohne ein Wort zu sagen.

    Sie setzte sich auf, tastete nach ihrem Haarband und stopfte die Strähnen so gut es ging in einen Knoten, der aussah, als würde er jede Sekunde auseinanderspringen.

    „Unbekannter in meinem Bett, sagte sie, „ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen?

    Ihr Gegenüber bewegte sich kein Stück. „Die Dame Scothdhearg dagegen kennt jeder, ihr Ruf eilt ihr voraus, sagte er und lächelte. „Unhöflich, mich nicht vorzustellen, auch wenn du mich schließlich selbst hier hergebracht hast. Er deutete auf ein kleines glitzerndes Objekt, das über ihrem Bett hing.

    Stuaire runzelte die Stirn. „Wie bitte? Endlich setzte er sich auf und streckte ihr die Hand entgegen. „Mein Name ist Fís. Ich bin Traumtänzer. Er musterte sie, als suche er in ihrem Gesicht nach plötzlicher Erkenntnis, aber da suchte er vergebens. Sie sah ihn nach wie vor verständnislos an.

    Trotzdem ergriff sie seine Hand. „Stuaire, sagte sie. „Aber meinen Namen kennst du ja bereits. Woher auch immer! Und was soll das heißen, ich habe dich hergebracht?

    Sie betrachtete ihr Gegenüber eingehend. Nein, er kam ihr nicht bekannt vor – und solche Augen hätte sie sicher nicht vergessen, niemand hätte so etwas fertig gebracht. Sie waren wie Scheinwerfer. Aber auch der Rest war nicht unansehnlich. Sie hatte ohnehin eine Schwäche für Dreitagebärte. Ihr Blick wanderte weiter. Die Schultern waren vielversprechend. Sie merkte erst an der plötzlichen Stille, dass er zuvor wohl geredet haben musste. Ihre Gedanken kehrten widerwillig zum aktuellen Geschehen zurück. Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass ihm ihre Musterung nicht entgangen war. Aber warum auch ein Geheimnis daraus machen.

    „Was hattest du gesagt? Ich war mit den Gedanken gerade woanders."

    „Das habe ich gemerkt, antwortete er spöttisch. Dann deutete er wieder auf das Objekt, das über ihrem Kopf an der Wand hing. „Das dort hat mich hergebracht. Ein Traumfänger. Ich werde davon angezogen und eingefangen wie eine Motte vom Licht.

    Sie betrachtete verwirrt das seltsame Wirrwarr aus Ästen, Schnur, Perlen und Federn, das über ihrem Bett hing, und murmelte geistesabwesend: „Bedauerlich, dass sie dich anziehen und nicht aus … Woher kommt das? Ich habe dieses Objekt vorher noch nie gesehen – gestern Abend war es noch nicht da!"

    Zunächst einmal ignorierte sie seine abstruse Erklärung und konzentrierte sich aufs Wesentliche: neben einem fremden Mann auch noch ein fremdes Objekt in ihrer Wohnung, beides nachts ohne einen Laut materialisiert, das war zu viel des Guten.

    „Du hast es nicht dort aufgehängt?, vergewisserte Fís sich und ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen. Er bedeutete ihr zu schweigen und flüsterte: „Dann ist noch jemand anders hier.

    Sie sah sich um und wies auf den Schrank und unters Bett. Woanders konnte ja niemand sein. Einen Moment saßen sie da und lauschten. Dann zog er aus der Innentasche seines Anzugs eine Brille, nahm die Zeitung von ihrem Nachttisch, schlug sie auf und begann zu lesen.

    Stuaire musterte ihn von Kopf bis Fuß – so viel sie zumindest sehen konnte, den Teil also, der unter ihrer Bettdecke hervorragte. Da sitzen wir, dachte sie, wie ein altes Ehepaar. Interessant.

    Sie gab ihm noch einen Moment Schonfrist, dann räusperte sie sich – und zog an der Bettdecke, denn ihr rechter Arm ragte heraus und fror. „Entschuldigung."

    Er blickte von der Zeitung auf und sah sie über seine Brillengläser fragend an.

    Sie schlug die Decke zurück und stand auf. „Ich weiß immer noch nicht, wer du bist, stellte sie fest. „Wird eigentlich irgendjemand schlau aus deinem Gerede? Außerdem erscheinen seltsame Gegenstände in meiner Wohnung – und hattest du nicht erwähnt, dass sich hier noch jemand aufhält? Steht die Antwort in der Zeitung? Findet hier eine Versammlung statt, von der ich nichts weiß? Ist das hier ein Konferenzraum? In meiner Wohnung?

    Und plötzlich fühlte sie eine kalte Hand, die sich um ihre Fußknöchel schloss.

    Sie quietschte erschrocken auf, zappelte mit ihrem Bein und versuchte sich freizutreten. Die Hand erwies sich als erstaunlich widerstandsfähig. Fís hatte die Zeitung beiseitegelegt, war aus dem Bett gesprungen und hatte sich an ihrer Seite auf den Boden geworfen. Er hatte das Handgelenk gepackt, das an ihr hing, zerrte daran und schimpfte vor sich hin. „Einfach still halten und abwarten, wenn man erfährt, dass sich etwas Unbekanntes in seiner Wohnung aufhält? Was für eine merkwürdige Vorstellung! Damit gelang ihm endlich, die Hand von ihr zu lösen. „Und du, fuhr er das Wesen unter ihrem Bett an, „raus! Aber flott!"

    Etwas flatterte, quietschte und kreischte unter ihrem Bett, Fís konnte nur mit Mühe die um sich schlagende Hand festhalten. Mit einem Ruck zog er das Wesen unter dem Bett hervor. Stuaire trat einen Schritt zurück, als sie es sah.

    Klauenartige Hände und Füße schlugen in die Luft, wo Fís eben noch gestanden hatte. Einen Wimpernschlag zuvor war er über das Bett gesprungen und hatte Stuaire in Richtung Tür gestoßen. Er riss die Tür auf.

    „Lauf!", sagte er und fuhr herum, das Wesen nicht aus den Augen lassend.

    Sie blieb natürlich stehen.

    Zwischen den Krallen, die durch die Luft schnitten wie Sensen, steckte ein irgendwie unproportional wirkender Körper, schwere keulenartige Arme und Beine, dazwischen sah das Wesen eher eingefallen und ausgezehrt, ja, hungrig aus. Ein riesiger lang gezogener Kopf saß darauf, mit Augen wie Kohlen und Zähnen, die wirkten, als könnten sie menschliche Knochen mit Leichtigkeit durchbeißen.

    „Ein Alptraum!", stellte sie fest.

    Das Wesen zuckte und zappelte hin und her, schlug mit den Armen um sich und brüllte. Sie hielt sich die Augen zu. „Die Nachbarn!"

    Fís stand vor dem Wesen, mit erhobenen Händen, geschlossenen Augen und konzentriertem Gesichtsausdruck. Er tappte mit dem einen Fuß auf den Boden, als würde er den Takt zu einer unhörbaren Musik klopfen.

    „Was tust du?, rief Stuaire durch den Lärm. Die Klauen hatten bereits tiefe Risse in die Wand geschlagen. Mit einem Klirren zerschmetterte das Untier jetzt ihr Fenster. Sie hielt sich die Ohren zu. „Was ist das für ein … Ding?

    Aus heiterem Himmel begann er zu singen.

    Nicht nur Stuaire war perplex, auch das Wesen hielt inne und beäugte Fís irritiert.

    Er hatte eine glasklare und beruhigende Stimme. Man fühlte sich sofort in Sicherheit, man wollte sich auf den Boden legen und die Augen schließen und nur zuhören.

    Sie fuhr zusammen, als plötzlich eine Hand die ihre ergriff und sie vom Boden hochzog – erst in diesem Moment merkte sie, dass sie tatsächlich dort gelegen und nur … zugehört hatte. Sie sprang auf.

    „Lauf!", wiederholte Fís und zerrte sie hinter sich her.

    Das Wesen schien in eine Art Spinnennetz eingewickelt und versuchte verzweifelt, sich frei zu kämpfen. Stuaire hatte nicht mehr die Möglichkeit genauere Beobachtungen anzustellen, da sie aus der Wohnung zur Treppe gezogen wurde. Sie schüttelte ihren Kopf und konnte sich endlich von den Ereignissen losreißen.

    Sie rannten die Treppe hinunter auf die Straße. Fís blieb stehen und sah zum Fenster auf. Eine riesige rußig-schwarze Wolke, schmierig irgendwie, waberte durch das zerbrochene Fenster nach draußen. Sie wirkte irgendwie … lebendig.

    „Komm!", rief Fís und rannte wieder los.

    Sie lief hinter ihm her. Atemlos versuchte sie Worte heraus zu bekommen. „Was … ist das? Was sollte das … Gesinge?, brachte sie heraus. „Und wohin laufen wir?

    „Erst mal weg."

    „Klingt nach einem gut durchdachten Plan", keuchte sie.

    „Hier rein." Er zog sie in einen Hauseingang, wo sie sich neben einander kauerten und versuchten, ihre Atemgeräusche zu unterdrücken. Die unförmige schwarze Wolke schwebte langsam durch die Straße. Es schien, als schnüffele sie nach ihnen.

    Stuaire wagte nicht, einen Muskel zu bewegen. Sie beobachtete, wie das Ding sich langsam nach links, nach rechts bewegte, und hielt den Atem an, als es schließlich einen Fingerbreit von ihr entfernt vorüberwaberte.

    Fís legte die Hand über ihren Mund und zeigte an, zu warten. Unnötig. Stuaire war ohnehin wie erstarrt, bis das Ding um die Ecke verschwand.

    Fís sprang auf und half ihr hoch. „Fürs Erste ist er weg, stellte er fest. „Aber er kommt wieder. Er hat noch nicht gefunden, was er gesucht hat.

    „Wer, er?, platzte es aus ihr heraus. „Was ist das für ein … Objekt?

    Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Objekt! Wir sprechen hier von einem lebendigen Wesen! Ich dachte, du wüsstest, was es ist? Du hast doch sofort seinen Namen gerufen!"

    „Ich??", fragte sie irritiert.

    „Ein Alptraum", sagte er.

    „Ein Alptraum?"

    Er nickte.

    „Ein lebender Alptraum?"

    „Er muss sich aus seiner Welt verlaufen haben. Armes Ding! Kein Wunder, dass er hier nicht zurechtkommt."

    „Ist er harmlos?"

    „Abgesehen davon, dass er uns fressen wollte ..."

    „Armes Ding!, wiederholte sie empört. „Armes, armes Ding, das uns fressen wollte!

    Er schüttelte den Kopf und legte ihr den Arm um die Schulter. „Er ist hungrig!"

    „Und jetzt?" Sie schob seinen Arm weg.

    „Ich gehe zurück in meine Welt. Für mich ist es zu langweilig, länger zu bleiben."

    „Deine Welt?"

    „Komm mit mir, sagte er. „Wie kann man nur hier leben? Langweilig und geordnet, nichts passiert.

    Sie verzog skeptisch das Gesicht. „Ich bin hier ganz zufrieden. Mir passiert genug, das kannst du glauben."

    Er musterte sie und nickte langsam. „Rothaarige Stuaire, das glaube ich dir sofort. In unserer Welt bist du bekannt dafür. Er lächelte. „Schade. Es wären sicher interessante Zeiten auf mich zugekommen.

    Er umarmte sie, küsste sie auf die Stirn, drehte sich um und ging davon.

    Sie sah ihm gedankenverloren hinterher. Ihre Welt – langweilig und geordnet? Träume, die in die Wirklichkeit kamen? Ein Traumfänger, der wirklich einen Traum fing? Sie blinzelte verwirrt.

    Er ging die Straße entlang, als würde sie ihm gehören.

    Ohne zu überlegen, folgte sie ihm – zu neugierig darauf, wo er hinging.

    Zwei Straßenblöcke weiter schlenderte er die Treppen zur U-Bahn hinunter. Sie sah, wie er um die Ecke verschwand, und lief so lautlos wie möglich die Treppe hinterher.

    Als sie um die Ecke spähte, sah sie ihn gerade durch eine Tür verschwinden, auf der ein großes Warnschild auf Starkstrom hinwies – Betreten nur für autorisiertes Personal gestattet.

    Kurz bevor die Tür wieder ins Schloss fiel, hatte sie die Klinke in der Hand.

    Sie stand vor der Tür, hielt die Klinke umklammert und zögerte kurz. „Tu das nicht, murmelte sie zu sich selbst. „Tu das nicht. Dann atmete sie tief ein und schob sich durch den Türspalt. Hinter ihr klickte das Schloss zu. Vor ihr war es düster, sie konnte nur Schatten erkennen. Eine Mauer – oder ein Gebäude – zu ihrer Linken. Rechts von ihr schien sich eine weite, leere Fläche zu befinden. Kalte Luft wehte von dort, wie von einem großen Gewässer. Dass sie nicht in einem Wartungsraum der U-Bahn gelandet war, war offensichtlich. Sie drehte sich um – die Tür, durch die sie gekommen war, war verschwunden.

    Irgendwie hatte sie nichts anderes erwartet.

    Sie sah sich um, ob Fís noch zu sehen war, aber er war schon in der Dunkelheit verschwunden. Sie tat ein paar Schritte ins Ungewisse – und stand auf einmal im Regen.

    Leichter Nieselregen fiel wie ein Vorhang über sie. Sie ging weiter, und je länger sie ging, desto stärker wurde der Regen. Bald sah sie keinen Zentimeter weit, die Kleidung klebte an ihrem Körper und ihre Haare an Kopf und Schultern. Es regnete so stark, dass sie kaum atmen konnte. Sie hatte das Gefühl zu ersticken – oder vielleicht eher zu ertrinken? Der Regen lastete so schwer auf ihren Schultern, und die nasse Kleidung zerrte so an ihren Gliedern, dass sie sich jeden Schritt mühsam abringen musste. Ihr Rücken schmerzte, und ihre Haut brannte von den Regentropfen, die gegen ihr Gesicht peitschten.

    Sie hielt ihre Hand über Mund und Nase, um wenigstens Luft holen zu können. Auch das half nicht viel, das Wasser schien von allen Seiten zu kommen.

    Plötzlich leuchteten vor ihr zwei große runde Lichter auf, die direkt auf sie zukamen. Ein stampfendes, ratterndes Geräusch näherte sich. Das Licht blendete sie. Ein hohles, lang gezogenes Tuten erklang, dann quietschten die Bremsen, und direkt neben ihr kam ein Zug zum Stehen.

    Mit einem Zischen öffnete sich die Tür des ersten Waggons, und heraus blickte ein junger Mann – vielleicht fünf Jahre älter als sie, und mit der Figur einer Spaghetti – und streckte ihr die Hand entgegen. „Bitte einsteigen!, rief er durch den Regen. „Wir haben an diesem Bahnsteig keinen Aufenthalt! Er packte ihr Handgelenk und zog sie ins Innere des Zuges. Hinter ihr gingen die Türen zu.

    Sie schnaufte und wischte sich Haare und Wasser aus dem Gesicht. Nachdem sie wieder etwas zu Atem gekommen war, konnte sie sich umsehen. Ihr Retter in der Not tänzelte in dem Waggon herum, der zugleich auch der Steuerungsbereich des Zugs sein musste. Ein normaler Zug konnte das aber nicht sein – so viele kompliziert wirkende Knöpfe und Schalter, eine Art Globus, den er wie ein Steuerrad zu benutzen schien, mehrere Uhren, die in unterschiedliche Richtungen liefen – eine Maschine, die in unregelmäßigen Abständen „Ding" machte – ein Apparat, aus dem ab und an in kurzen Stößen weißer Dampf oder goldener Flitter trat, der sofort in der Luft verschwand …

    Ihr schwirrte der Kopf. Sie sah sich im Rest des Waggons um. Dicker orientalisch wirkender Teppich bedeckte den Boden. Eine Sitzgruppe um einen runden kleinen Tisch befand sich am hinteren Ende. Die Möbel erinnerten sie an gediegene viktorianische Salons. Auch die mit Chintz bezogene Chaiselongue, die gegenüber der Sitzgruppe stand, passte ins Bild. An der Wand stand ein Kamin, in dem Feuer brannte – in einem Zug?, überlegte Stuaire kurz. Daneben ein Tisch mit wissenschaftlich aussehenden Instrumenten, jede Menge spitze Nadeln, Zeiger und Pendel. Sie fuhr herum, als auf einmal hinter ihr eine Geige ertönte. Der Mann hatte tatsächlich eine Geige unters Kinn geklemmt und spielte eine hektische Melodie. Nach ein paar Sekunden brach er ab, der Zug lenkte nach rechts, dann nickte er zufrieden. Er warf die Geige auf einen Sessel und gab dem Rohr, das über ihm aus der Decke ragte, einen Schubs, wodurch es nach oben schwenkte und an der Decke einrastete.

    Theatralisch wirbelte er herum und bemerkte ihren verwirrten Gesichtsausdruck. Er sah sie an, als hätte er sie völlig vergessen gehabt und erinnere sich erst jetzt an sie, und gab sich selbst eine Ohrfeige. „Entschuldige, wie unhöflich! Er eilte auf sie zu, umkreiste sie einmal, den Kopf zur Seite geneigt, und musterte sie von oben bis unten. Sie drehte sich langsam um sich selbst, um ihm zu folgen. „Hallo?, sagte sie.

    Er blieb ruckartig stehen und richtete sich auf. „Hi! Ich bin Astóirín. Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. „Du bist in den Regen gekommen. Er drehte sich wieder um und betätigte einen Schalter.

    „Ja, und ich friere", stellte sie klar.

    Er wandte sich ihr zu. „Natürlich. Nasse Kleidung. Im nächsten Waggon ist ein Bad, glaube ich... aber wenn du zuerst weitergehst, durch den Speisewaggon, findest du den Kleiderschrank … irgendwo da hinten ... Er fuchtelte mit den Händen, drehte sich wieder um, dann schien ihm noch etwas einzufallen. „Wie ist dein Name?

    „Stuaire, sagte sie. „Stuaire Scothdhearg.

    „Das sieht man, erwiderte er. „Gut, Stuaire Scothdhearg, das hier ist mein Zug, er umfasste den Raum mit einer großartigen Geste, „die nächste Station erreichen wir in, er warf einen Blick auf seine Uhr, „etwa vierzig Minuten. Er sah auf und bemerkte, dass sie immer noch nass war. „Deine Kleidung ist voll Regen, stellte er fest; es klang überrascht. „Ab ins Bad. Du holst dir eine Lungenentzündung!

    Völlig verwirrt stolperte sie durch den Zug, durch verschiedene seltsame Abteile, bis sie eine Tür öffnete und auf einmal zwischen Reihen und Reihen von Kleidern stand.

    Die Ordnung war undurchsichtig. Sie griff sich das erste Kleidungsstück, das aussah, als wäre es für eine Frau bestimmt, ein dunkelblaues gemustertes Cheongsam mit hochgeschlossenem Stehkragen und Schlaufenverschlüssen an der Schulter. Unter den Kleiderbergen fischte sie ein paar dunkelrote High Heels hervor. Sie klemmte sich die Sachen unter den Arm und ging durch die Waggons zurück, bis sie auf das Badezimmer stieß.

    Der Zug schien gerade über unebenen Boden zu fahren, sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.

    Irgendwie fühlte sie sich völlig erschlagen, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Sie konnte nicht mal einen klaren Gedanken fassen. Im Bad schälte sie sich aus den nassen Sachen und warf sie in eine Ecke. Sie war zu erschöpft sich über Kleiderschränke und Bäder in einem Zug zu wundern, der durch Geigenspielen gesteuert wurde.

    Nachdem sie den Regen von Haut und Haaren gewaschen und ihre neuen Kleider angezogen hatte, fühlte sie sich wie ein anderer Mensch.

    Und dann blickte sie in den Spiegel.

    Sie blinzelte. Dann rieb sie sich die Augen und zwinkerte ein paar Mal. Kein Unterschied.

    Im Spiegel schaute sie ein dreißig Jahre älteres Spiegelbild an.

    Sie hob langsam die Hand und befühlte ungläubig ihr Gesicht. Um ihre Augen hatten sich leichte Krähenfüße gebildet. Sonst hatte sie zwar keine Falten, aber die Haut war nicht mehr so straff, trockener, und wie sie sich auch drehte und wendete, sie hatte einen leichten Ansatz zu einem Doppelkinn bekommen.

    Sie schluckte. Dann trat sie ein paar Schritte und drehte sich langsam vor dem Spiegel. Wenigstens hatte sie nicht zugenommen! Ihre Figur war optisch weitgehend unverändert, aber jetzt war ihr klar, woher das ungewohnte Müdigkeitsgefühl in ihren Gelenken kam.

    Sie trat nochmal an den Spiegel heran und zog besorgt ihre Haare auseinander. Keine grauen Strähnen, stellte sie erleichtert fest. Sie drehte die Locken ineinander und steckte sie mit zwei langen Nadeln am Hinterkopf fest. Dann straffte sie die Schultern und ging zurück in den Steuerungsbereich.

    Der Raum war leer, und es schepperte und pfiff ohrenbetäubend. Der Globus rotierte wie verrückt. Sogar durch den allgemeinen Lärm hörte sie die Lager kreischen. Ohne lange zu überlegen rannte sie durch den Waggon und umklammerte den Ball mit beiden Händen. Die Bewegung ließ nur widerwillig nach, ihre Handflächen brannten, trotzdem ließ sie nicht los. Endlich drehte sich der Globus langsamer.

    Auf einmal tauchte kopfüber Astóiríns Kopf über ihr auf. „Mille grazie." Erst jetzt merkte sie, wo der Lärm herkam – über ihr stand eine Klappe offen.

    Astóirín kletterte durch die Luke zurück in den Zug und schüttelte ihr die Hand. „Wir haben es stabilisiert."

    Er klopfte sich Staub und Ruß von den Kleidern und strubbelte sich durch die Haare. Es regnete schwarze Flocken.

    „Der arme Teppich." Sie verzog das Gesicht.

    Er wirbelte herum und zog hektisch an verschiedenen Schaltern und Hebeln, dann zog er mit einem Haken die Klappe zu. Endlich ließ der Lärm nach.

    „Der Kamin war wieder verstopft, erklärte er. „Dann kommt der Globus jedes Mal durcheinander. Fast wäre das Gleichgewicht gestört worden.

    „Und was wäre dann passiert?"

    „Ich habe es noch nicht ausprobiert. Mein armes Baby. Er tätschelte die Zugwand. „Vielleicht gar nichts. Vielleicht wäre der Zug implodiert. Wie auch immer. Jetzt sind wir wieder auf Kurs!

    „Auf Kurs wohin?" Stuaire musste sich an der Wand festhalten, als der Zug mit einem Ruck nach links abbog.

    „Ich weiß nicht. Er kratzte sich nachdenklich an der Stirn. „Die Anzeige ist mal wieder unscharf.

    Er schlug ein paar Mal gegen das Rohr über sich, dann zuckte er mit den Schultern. „Das sehen wir dann schon."

    Stuaire ließ sich in einen Sessel fallen und atmete tief durch.

    Der kleine Tisch klappte plötzlich auf und ein Tablett fuhr nach oben, mit zwei Tassen, einer Kanne Tee und einem Teller mit Keksen.

    „Tee! Astóirín rieb sich die Hände. „Genau die richtige Zeit dafür!

    Er sprang in den zweiten Sessel, die Beine über die Lehne geschlagen, und nahm sich eine Tasse.

    Stuaire starrte einen Moment vor sich hin und klopfte nachdenklich auf die Tischfläche, dann setzte sie sich plötzlich auf. „Hah! Jetzt weiß ich wieder, was … Sie wandte sich zu Astóirín und deutete auf ihr Gesicht. „Wie ist das passiert?

    „Genetik?", schlug er verzagt vor.

    „Nicht das! Ich meine das … eben war ich noch Mitte 20, jetzt sehe ich aus wie 50?"

    „Du hast dich gut gehalten", versuchte er sein Glück.

    „Darum geht es nicht! Wie kann so etwas passieren? Wo bin ich hier überhaupt? Was ist das für ein Zug, und wer – in Gottes Namen – bist du?"

    „Den Zug habe ich gefunden, behauptete er. „Oh, Kekse! Er nahm einen. „Was waren die anderen Fragen? Ah! Das Alter. Der Regen war das! Du bist nicht von hier, oder? Der Regen verfolgt dich … und du wirst älter und älter … bis nicht einmal mehr Staub von dir übrig ist. Naja! Er hob die zweite Tasse hoch. „Tee?

    Sie streckte automatisch die Hand aus.

    „Ich würde sagen, ich bin noch rechtzeitig gekommen. Solange du noch jung und knackig bist."

    Stuaire richtete sich geschmeichelt auf.

    „Keks? Er nahm noch einen. „Was wolltest du noch wissen? Ach ja – wo du hier bist, sagte er mit vollem Mund. „Du bist hier in der Traumwelt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie du hier hergekommen bist. Normalerweise können nur die Traumtänzer die Türen zwischen Traum und Wirklichkeit öffnen."

    „Das heißt, ich träume?"

    „Nein. Du bist gerade in der Traumwelt. Sowas gab es noch nie, soweit ich weiß … und ich weiß eigentlich alles – ohne eingebildet zu sein!"

    „Wenn ich in einem Traum bin, bist du doch auch in einem Traum."

    „Ich bin ja auch von hier – im Gegensatz zu dir. Aber wie gesagt – wir sind hier nicht in einem Traum."

    Sie kniff skeptisch die Augen zusammen. „Du bist von hier? Du meinst, du lebst in einem Traum?"

    „Ich lebe da, wo die Träume herkommen, erklärte er. „Nochmal – wir sind hier nicht in einem Traum, sondern in der Traumwelt. Die Traumwelt ist die Welt, aus der die Träume kommen. Wie soll ich das erklären. Du zum Beispiel – bist ein Traum.

    „Danke. Dem kann ich nur zustimmen."

    „Also, ursprünglich warst du mal ein Traum. Die Menschen waren ursprünglich ein Traum, den eure Welt

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