Die kurzen 1000 Jahre: Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend im Dritten Reich
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Und mir fällt eines Tages auf, daß überall in den Straßen Männer mit braunen Uniformen und schwarzen Stiefeln herumlaufen. Als ich meinem Papa davon erzähle, meint er:
"Zu denen mußt Du immer 'Heil Hitler' sagen, das hören sie gerne!"
***
Wir haben Herrn Rektor Lenz gerne als Klassenlehrer. Er ist noch jung und nett und redet viel und begeistert von unserem Führer Adolf Hitler und seinen großartigen Ideen. "Wir können unserem Führer gar nicht genug danken, dass er unser deutsches Vaterland gerettet hat!" verkündet er mit leuchtenden Augen und erzählt uns von den tapferen deutschen Soldaten, die vom bösen Feind nicht besiegt werden konnten und trotzdem das schändliche "Diktat von Versailles" hinnehmen mussten. Und dann erzählt er von der schlimmen Zeit nach dem Krieg, wo Hunger, Arbeitslosigkeit und überall ein großes Chaos herrschten.
***
Die Tieffliegerangriffe, die ich bei der Sanddornbeerenernte kennengelernt habe, fangen jetzt auch hier an. Und eines Tages - wir haben Ende Januar 1945 - erschüttert ein dumpfer Schlag das ganze Dorf. Die Eisenbahnbrücke, die von Wimpfen nach Jagstfeld führt, ist bombardiert worden und liegt jetzt zerstört im Neckar. Kein Zug wird mehr darüberfahren.
***
"Ich habe jetzt Anweisung vom Bezirk. Wir fahren übermorgen alle nach Teplitz-Schönau. Dort werden wir unseren weiteren Einsatz erfahren."
Wir eilen zur Landkarte im Tagesraum. Bestürzte Rufe werden laut:
"Himmel! - So weit oben!" – "Das ist ja beinahe bei den Russen!" – "immer weiter von zu Hause weg!"
Am nächsten Morgen hat Fräulein Schreiner jedoch schon wieder eine andere Nachricht.
"Über Nacht hat sich die Situation geändert," sagt sie, "wir fahren nicht morgen nach Teplitz-Schönau, sondern heute noch nach Staab bei Pilsen. Sie werden im Rüstungswerk in Holleischen arbeiten."
***
Wir haben Frieden. Die schreckliche Dunkelheit der vergangenen Jahre ist vorüber.
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Buchvorschau
Die kurzen 1000 Jahre - Gerlinde Schnittler
Gerlinde Schnittler
Erster Teil
DIE KURZEN TAUSEND JAHRE,
DIE VIEL ZU LANGE DAUERTEN
Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend
Im „dritten (dem „1000-jährigen
) Reich
Die tausend Jahre beginnen im Jahr 1933. Damals war ich fünf Jahre alt.
Und mir fällt eines Tages auf, dass überall in den Straßen Männer mit braunen Uniformen und schwarzen Stiefeln herumlaufen. Als ich meinem Papa davon erzähle, meint er:
„Zu denen mußt Du immer 'Heil Hitler' sagen, das hören sie gerne!"
Ich schaue Papa etwas ungläubig an - man weiß bei ihm nie, ob er Witze macht oder ob er es ernst meint . . .
So haben die tausend Jahre begonnen. Die paar Jahre, die außerdem zu meinen Erinnerungen gehören, sind schon vorher gewesen. Und ich werde sehr oft ungläubig angesehen, wenn ich sage, dass ich mich an diese frühe Zeit erinnern kann. Es muss das Jahr 1929 gewesen sein, in dem meine erste, unauslöschliche Erinnerung liegt.
* * * *
Da ist eine große, graue Gießkanne aus Blech. Sie ist fast so groß wie ich selbst und wenn Papa sie aufnimmt und dann wieder hinstellt, gibt es ein lautes, schepperndes Geräusch. Papa ist groß, sehr groß, und deshalb kann er auch die große Gießkanne tragen. Papa ist so groß, dass meine Nasenspitze gerade bis zu seinen Knien reicht. Ich umfasse sein Bein, während er mit der großen, lauten Gießkanne hantiert . . .
Und da ist die steile Treppe. Unten wird gelacht und gesprochen. Ich bin über das hohe, weiße Geländer aus meinem Bettchen geklettert - das war sehr schwierig, aber ich habe es geschafft. Und nun stehe ich im weißen Nachthemd oben an der steilen Treppe und habe Angst. Ich weiß nicht, warum ich mich fürchte, aber ich muss weinen. Aber da kommt Mama, sieht mich oben stehen, holt mich herunter, trägt mich warm und lieb und gut. Unten ist sehr helles Licht. Fremde Leute sind da, die schauen mich an und sprechen vieles, was ich nicht verstehe. Ich vergrabe mein Gesicht in Mamas Schulter . . .
Da, wo wir wohnen, sind Gärten, viele Gärten. Und zwischen den Gärten sind Wege. Meine Schwester Hanna geht mit mir auf diesen Wegen. Hanna ist schon groß. Sie ist so groß, dass sie mit anderen Kindern sprechen kann. Wir stehen auf einem Weg herum und Hanna spricht mit einem Mädchen, das genau so groß ist, wie sie. Ich kann nicht verstehen, was sie sprechen und zerre an Hannas Hand. Es ist langweilig, hier zu stehen. Aber Hanna lässt meine Hand nicht los. Sie weiß, dass sie auf mich aufpassen muss und mich nicht fortlaufen lassen darf.
Eines Tages wache ich auf und es ist alles anders als sonst. Alles sieht fremd aus.
Da, wo ich laufen will, versperren Kisten und Möbelstücke den Weg. Die Wände sind kahl und leer. Aber Mama ist da. Sie setzt mich auf einen Tisch und gibt mir warmen Kakao zu trinken.
Wir sind an diesem Tage von der Gartenstadt in den Erlenhof umgezogen. Ich bin zwei Jahre alt.
* * * *
Im Erlenhof nehmen die Erinnerungen festere Formen an. War in der Gartenstadt noch alles verschwommen, verwirrend und ohne festen Grund - Erinnerungsfetzen in einer mehr oder weniger unverständlichen Lebensphase - so beginnt im Erlenhof langsam ein bewusstes Erleben.
Wir wohnen in einem großen Haus in der Waldhofstraße und viele andere Leute haben im gleichen Haus eine Wohnung. Alles erscheint mir hier riesengroß, hell und schön. Hinter dem Haus ist ein Hof und noch weiter hinten sind Wiesen, Wege und Bäume. Hier kann ich mit den anderen Kindern spielen. Es gibt sehr viele Kinder hier. Und es gibt auch nette große Leute, die einem Bonbons und Kuchen schenken und sich zu einem herabbeugen und fragen: „Ja, gehst Du denn nicht in den Kindergarten?"
Ich habe Mama gefragt und sie hat gesagt, der Kindergarten würde zu viel Geld kosten. Und Spielen und Lernen könnte ich auch zu Hause. Sie singt mit mir Hänschen klein
und ich kann dieses Lied sehr schnell - obwohl ich die Worte nicht alle richtig verstehe. Hänschen läuft fort mit Stock und Hut und seine Mama weint sehr. So weit ist alles klar.
Aber - was ist ein D a b e s i n n t? Das verstehe ich nicht und muss immer wieder darüber nachdenken. Ich habe Hanna gefragt: „Was ist ein Dabesinnt?" — Aber sie hat es auch nicht gewusst . . . Obwohl Hanna viel größer ist als ich und im Erlenhof sogar in die Schule kommt. Jeden Morgen muss sie mit dem Schulranzen auf dem Rücken zur Humboldtschule gehen. Man kann auch mit der Straßenbahn, die immer an unserem Haus vorbeifährt und so lustig klingelt, zu dieser Schule fahren. Aber Hanna muss laufen, denn das Straßenbahnfahren kostet Geld.
Wenn man bei uns vorne zum Fenster hinaussieht, kann man die Straßenbahn sehen. Außerdem sieht man den Vorgarten mit der Hecke und manchesmal kommt ein Mann mit einer ganz großen Schere und schneidet diese Hecke kurz. Dann nimmt mich Papa auf den Arm, trägt mich zum Fenster und sagt: „Siehst Du, da draußen ist der Mann, der den Daumenlutschern den Daumen abschneidet! - Paß' nur auf, dass du nicht mehr am Daumen lutschst" — Ich kenne den Schneider mit der Schere aus dem Struwwelpeterbuch und weil die Schere von dem Mann an der Hecke genau so groß aussieht, ist es ganz klar, dass das wirklich der Daumenabschneider ist. Aber eigentlich fürchte ich mich nicht sehr. Wenn ich mit den anderen Kindern draußen bin, dann gehen wir zu dem Mann mit der Schere und rufen laut: R Schneid' mir mal den Daumen ab! n - wenn er sich umdreht, schreien wir laut und rennen ganz schnell fort . . .
Manches Mal nimmt mich Mama mit in die Stadt zum Einkaufen. Dann fahren wir mit der Straßenbahn bis zur Friedrichsbrücke und gehen in die Warenhäuser in der Breiten Straße. Unglaublich viele Leute sind da, und einmal deutet Mama auf eine breite Treppe im Kaufhaus, auf der besonders viele Menschen herunterkommen und sagt: „Siehst Du, die kommen alle von da oben, wo die schönen Puppen sind! Willst du nachher auch die schönen Puppen sehen?"
Ich nicke eifrig und will sofort hinauf zu den Puppen. Aber Mama hat es nicht so eilig. Sie läuft mit mir zwischen den Tischen herum, und guckt sich die Stoffe an, die da liegen. Und dann lässt sie ganz plötzlich meine Hand los, weil sie einen Stoff genauer ansehen will. - Wie ein Pfeil schieße ich auf die Treppe zu und steige hinauf. Ich will die Puppen sehen. Im Stockwerk oben sind aber gar keine Puppen, sondern auch nur Tische mit irgendwelchen Sachen darauf und überall sind fremde Menschen. Ich laufe eine Zeitlang zwischen den Tischen herum und dann wird mir ganz plötzlich bewusst, dass ich gar nicht mehr bei Mama bin. Und ohne Mama möchte ich die Puppen eigentlich gar nicht ansehen. Also gehe ich die Treppe wieder hinunter. Aber ich kann Mama nicht mehr finden. Wo ich auch hinschaue, überall sind nur fremde Gesichter. - Vielleicht ist sie mir nachgelaufen und ist jetzt oben? Ich steige die Treppe wieder hinauf, laufe oben zwischen den Tischen herum, gehe wieder hinunter, laufe unten herum. Nichts. Mama ist verschwunden. Ich komme zu den großen Glastüren, die zur Straße hinausführen. Sie sind so schwer, dass ich sie nicht aufdrücken kann. Aber es gehen ständig Leute ein und aus und ich schlüpfe mit ihnen durch. Hinaus auf die Straße, wieder zurück, wieder hinaus, wieder zurück. Und dann muss ich ganz stark weinen und laufe die Straße entlang. Aber da eilen auch schon zwei Frauen herbei.
„O, die arme Kleine weint! - Wo ist Deine Mutti? Hast Du sie verloren?" Sie bringen mich in ein kleines, rundes Haus an der Friedrichsbrücke, da sind ganz richtige Schutzmänner in Uniform drin.