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O Du Fröhliche: Gesammelte Weihnachtsgeschichten aus sieben Jahren
O Du Fröhliche: Gesammelte Weihnachtsgeschichten aus sieben Jahren
O Du Fröhliche: Gesammelte Weihnachtsgeschichten aus sieben Jahren
eBook271 Seiten3 Stunden

O Du Fröhliche: Gesammelte Weihnachtsgeschichten aus sieben Jahren

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Über dieses E-Book

Von Weihnachtsliedern inspirierte Weihnachtsgeschichten – 2009 erschien das erste Weihnachtsheft mit dem Titel "Alle Jahre wieder". Seither entstehen jedes Jahr neue Geschichten, jede ungefähr 1000 Worte lang. Sieben Weihnachtshefte wurden so mit über 50 Geschichten gefüllt, die hier in einem Buch versammelt sind. Alle Genres von Fantasy und Science-Fiction bis Familien- und Liebesgeschichten sind vertreten, klassische Kurzgeschichten, Gedichte, sogar Weihnachtsbriefe sind mit dabei. Von dramatisch bis humorvoll, von besinnlich bis politisch engagiert – in diesem ungewöhnlichen Buch finden Sie Weihnachtsgeschichten, wie Sie sie sonst noch nirgends gelesen haben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Dez. 2016
ISBN9783738095807
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    Buchvorschau

    O Du Fröhliche - Lisa Kuppler

    Wie es zur Weihnachtshefttradition kam

    Es war einmal vor unendlichen Zeiten ...

    Nein, ganz so lange zurück liegt die Idee zum Weihnachtsheft dann doch noch nicht. Es war im düsteren November 2009, da saßen drei von uns zusammen, Weihnachten nahte, und in den Kassen herrschte Ebbe. Wir blickten der Tatsache ins Auge, dass wir unseren Liebsten nichts würden schenken können. Kein schöner Gedanke. Was tun?

    Da ist diese eine Sache, die wir können: Geschichten erfinden. Geschichten lektorieren. Geschichten Korrektur lesen. Eine Buchidee umsetzen. Cover designen. Mit dieser Expertise musste sich doch ein Weihnachtsgeschenk machen lassen. Und so entstand das erste Weihnachtsheft.

    Als Thema und Titel wählten wir das Weihnachtslied »Alle Jahre wieder«, ein paar weitere Mitschreibende und eine Grafikerin für die Covergestaltung waren schnell gefunden. Um den Umfang des Hefts überschaubar zu halten, begrenzten wir die Länge der Geschichten auf tausend Worte.

    Und weil das Weihnachtsheft bei den Beschenkten so gut ankam, machten wir im nächsten Jahr noch eins (»Leise rieselt der Schnee«) und im folgenden Jahr das nächste (»Stille Nacht«) und – so wurde daraus eine Tradition, der wir noch immer die Treue halten. Diesen Dezember erscheint das inzwischen achte Weihnachtsheft.

    Im vorliegenden eBook versammeln sich 51 Geschichten aus den Weihnachtsheften der Jahre 2009 bis 2015.

    Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und fröhliche Weihnachten!

    Im Dezember 2016

    Die Autor*innen

    Alle Jahre wieder

    2009

    Nun nieset und seid froh

    Sabine Hübner

    Alle Jahre wieder trifft sich unsere Großfamilie und feiert gemeinsam Heiligabend. Alle Jahre wieder bedaure ich, nicht Medizin studiert zu haben. Allergologie. Unsere Familie wäre ein Eldorado für jeden Allergologen.

    Ursprünglich wollte ich Psychologie studieren. Zwei Jahre vor dem Abitur stand für mich das Thema meiner Doktorarbeit fest: Saisonales weihnachtliches Irresein und dessen Ursachen in der elterlichen Kindheit. Nach eigener Aussage war die Weihnachtszeit für beide ja die glücklichste Zeit ihrer Kindheit gewesen. Beleuchtet man dies näher, lautet die Erklärung bei Mutti, dass ihre ungeliebten Pflegeeltern im Dezember immer nach Davos flogen und sie über Weihnachten gemütlich im Internat bleiben durfte. Und die Erklärung bei Vati (dem multiallergischen Kind): Dezember war der einzige Monat, wo endlich mal nichts blühte.

    Es ist früher Nachmittag. Einige von uns wollen später vielleicht in die Kirche gehen oder auch nicht. Max und Minni sitzen am Tisch und malen. Minni ist ein bisschen erkältet, aber zum Glück fieberfrei. Meine Schwester Pia hat sich mittags mit Tomatensuppe bekleckert (sie hat schon vor dreißig Jahren gegessen wie ein Ferkel), und Mutti hat ihre Jeans gewaschen. Jetzt blafft Pia Mutti an, weil die statt allergiegetesteter Waschnüsse Persil benutzt hat. Das Hasswort. Pest, Lepra, Cholera – Persil.

    »Du weißt doch«, schreit Pia, »dass ich von Persil Ausschlag kriege!«

    »Du weißt doch«, schreit Mutti zurück, »dass von diesen blöden Waschnüssen die Heizstäbe verkalken! An so was denkt ihr natürlich nicht! Außerdem braucht’s für hartnäckige Flecken schon was Stärkeres als Bio!«

    Was in Mutti an Weihnachten vorgeht, ist unergründlich. Das ganze Jahr über verwendet sie das geschmähte Biozeug, aber an Weihnachten soll alles »einmal ganz normal« zugehen. Und das gilt nicht nur fürs Waschmittel.

    »Du hast doch keine Ahnung«, schreit Axel aus dem Bad, »Waschnüsse besitzen sogar noch bessere Waschkraft. Die Saponine werden aus den Schalen rausgekocht und lösen Dreck besonders gut aus den Fasern.«

    Natürlich hat er recht. Und Mutti weiß das auch. Waschnüsse sind ein Lichtblick für Allergiker wie Vati und mich und Tilde, Jonas, Mäxchen, Pia und Axel, auf Hautfreundlichkeit getestet. Die Waschnüsse, nicht Axel. Obwohl bestimmt auch Axel hautfreundlich ist, sonst wäre Pia nicht schon so lang mit ihm zusammen. Vor fünf Jahren haben sie sich auf Station C der Universitätshautklinik kennengelernt, im dermatologischen Hochsicherheitstrakt. Kontaktallergiker, zusätzlich geplagt mit allerlei Kreuzallergien. Beiden geht es mittlerweile besser. Also keine Chemiewaschmittel, damit es so bleibt.

    Mutti schüttelt den Kopf und zischt in Richtung Bad, »Bellum omnium contra omnes!«, weil sie Axel ärgern will, der kein Latein kann. Dann geht sie in die Küche, um Kartoffeln zu schälen.

    Jemand niest im Treppenhaus. Vati muss gar nicht erst klingeln. »Opa!«, ruft Minni glücklich. Minni ist meine Tochter und völlig aus der Art geschlagen. Fünf Jahre und noch keine Allergie. Muss ich mir Sorgen machen? Kleiner Scherz.

    Mutti kommt aus der Küche, gibt ihr ein Hustenbonbon und fragt, ob sie ihr beim Kartoffelschälen helfen mag.

    Vati ist leicht angesäuert. Jemand hat ›exotisches Weihnachtsgestrüpp‹ durchs Treppenhaus getragen. Sonst müsste er ja nicht niesen. Er hat verdrängt, dass er schon seit vier Wochen schniefend unterm einheimischen Adventskranz sitzt und Muttis Weihnachtsplätzchen nur unter gleichzeitiger Gabe von Cortison probieren kann. Vati ist gegen fast alles allergisch. Auch gegen Anis, Zimt und Koriander, Nuss und Mandelkern, Kokos, Rosenwasser, Rumaroma, also sämtliche Zutaten, die ins Weihnachtsgebäck so reinkommen. Übers Jahr niest und schnieft er zwar auch, aber kein Vergleich zu Dezember! Zwar blüht im Dezember nichts, doch über diesen Umstand setzt sich Vatis Immunsystem souverän hinweg. Es identifiziert alle Wintersubstanzen als feindlich und körperfremd. Ich stelle mir das so vor: Kaum schwenken Anis, Kokos, Zimt & Co die Tannenzweiglein und rufen zart Advent, Advent!, johlt Vatis Immunsystem April, April und schüttet tonnenweise Histamin aus.

    Mutti ist gegen nichts allergisch außer Hausstaub – das allerdings verschärft. Deshalb wuchsen wir vier Kinder in einer völlig sterilen Umgebung auf und sitzen nun mit im Allergikerboot.

    Früher hegte jedes von uns Kindern seine ganz spezielle Allergie, beharrte auf seinem ureigenen Allergieprofil. Selbst wenn es Überschneidungen gab, hätte das keiner von uns je eingestanden. Streiften Tilde und ich laut niesend durch die Wiesen, schob ich mein Gerotze trotzig auf Tierhaare oder Schimmelpilzsporen.

    Doch nun sind wir erwachsen, und diese Form der Abgrenzung spielt keine Rolle mehr. Da ständig neue Allergene und Kreuzallergien hinzukommen, verliert man irgendwann den Überblick.

    Ich packe die mitgebrachten Plätzchen aus. Mutti hätte die Wahl, entweder gar nicht zu backen oder mindestens zwanzig verschiedene Diät-Varianten. Sie hat sich für die dritte Möglichkeit entschieden: Sie backt Plätzchen nach traditionellen Rezepten, mit allem drum und dran und drin und stellt einen riesigen Weihnachtsplätzchenteller auf den Tisch, von dem nur sie selber essen darf (keins der Rezepte enthält nennenswerte Hausstaubmengen). Was sie nicht schafft, wird an allergiefreie Freunde, Nachbarn, Kollegen, Bekannte und Verwandte verschenkt. Für Vati, uns Kinder und Kindeskinder bedeuten Muttis Plätzchen Lebensgefahr.

    Damit wir nicht darben müssen, bringt jeder von uns seine eigenen Weihnachtsplätzchen mit. Von den Zutaten her haben wir uns auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt – minimalistische Rezepte mit sehr überschaubarer Zusammensetzung, von denen jeder gefahrlos essen kann: Weihnachtsplätzchen ganz ohne Eischnee, Milch, Anis, Kokos, Weizen, Hafer, Dinkel, Nüsse, Mandeln, Zimt, um nur einige verbotene Zutaten zu nennen. Unsere allgemeinverträglichen Plätzchen bestehen aus Reismehl, Zucker und Wasser. Sie sehen alle gleich aus und schmecken nach nichts.

    Keiner von uns kapiert, was an Weihnachten mit Mutti los ist. Als wir Kinder noch zu Hause wohnten, hat sie trotz Berufsstress täglich Diätmenüs für uns gekocht. Jetzt kocht sie täglich antiallergene Schonkost für Vati. Nur am Heiligen Abend müssen es traditionell Wiener Würstchen sein und Kartoffelsalat mit Ei, Speck & Mayonnaise. Pia nennt es Killerwürstchen mit Knockoutsalat: Eiweiß, Phosphat, Stabilisator E 327, Antioxidationsmittel E300 bis E403, Geschmacksverstärker E 621 und vieles mehr; ein Füllhorn möglicher Symptome, von Nesselsucht bis Asthma, von Niesattacken bis zum anaphylaktischen Schock.

    Vermutlich ist das eine besondere Form des Protests. Mutti hat es satt, seit vierzig Jahren müde aus der Schule zu kommen und dann zu Hause Ökotrophologin und Diätköchin zu spielen. Sie streikt. Einmal im Jahr. Streik muss schmerzhaft sein. Und da Muttis Pflichtgefühl es ihr verbietet, den Streik in die Länge zu dehnen, macht sie’s kurz, aber da, wo’s wirklich wehtut. In der Weihnachtszeit, an Heiligabend.

    Mutti kocht also für sich und Minni, ihre Enkelin, Wiener Würstchen und Kartoffelsalat. Minni ist ihr Herzblatt. Wenigstens ein normaler Mensch in dieser Familie.

    Wir Kinder bringen an Weihnachten das Essen mit, für uns und Vati. Damit jeder von allem probieren kann, einigen wir uns auch hier auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Alles ist für alle gefahrlos genießbar. Das schmeckt bescheiden, und wir verlieren über die Festtage locker ein paar Pfunde.

    Mutti hat Minni gerade ein Glas heiße Milch mit Honig gebracht. Wir anderen, die wir gegen Milcheiweiß allergisch sind, kriegen sogenannten Weihnachtstee – frei von künstlichen Aromastoffen, frei von natürlichen Aromastoffen, also quasi Schwarztee, aber aus sternverzierten Weihnachtstassen.

    Dass wir alle unter Allergien leiden, ist ja eigentlich zum Heulen, aber wir haben uns daran gewöhnt. Manchmal lachen wir sogar darüber. Es gibt gewisse Highlights – letztes Weihnachten zum Beispiel, als der vierjährige Max seine Version von »Stille Nacht, heilige Nacht« vortrug. Statt »Gottes Sohn, o wie lacht«, sang er inbrünstig, »Cortison, o wie lacht« – klar, das Medikament steht ihm näher.

    Ein anderer Knaller, viele Jahre her, war mein Versuch, mich während des Studiums als Weihnachtsmann zu verdingen. Das amüsiert die lieben Geschwister heute noch, wenn sie angesäuselt unterm Christbaum sitzen. Wisst ihr noch? Ein Schenkelklopfer, der seit Jahren für Heiterkeit sorgt und inzwischen ebenso fest zum Ritual gehört wie anderswo die Lesung der Weihnachtgeschichte: Es begab sich aber zu der Zeit …

    Ich kriegte den Job übers Studentenwerk, am 24. Dezember. Da ich vor Dienstantritt eine kleine Stärkung brauchte, kaufte ich mir im Supermarkt den Schlemmersalat Nizza, wegen des eingeschweißten Plastiklöffels. Im Eilschritt löffelte ich den Becher auf dem Weg zum ersten Einsatzort leer. Im Treppenhaus streifte ich das Nikolauskostüm über und klingelte im dritten Stock. Das Kind hieß Emu. Eigentlich ein flugunfähiger Laufvogel mit drei Buchstaben, in diesem Fall jedoch ein kleiner Junge. Mein Auftrag bestand darin, ihm zu drohen: Wenn er noch einmal im Kindergarten auf die Bauklötzchen pinkle, würde ich ihn für immer ins Weihnachtsland holen. Dort müsse er in der Engelsbäckerei heiße Bleche schleppen, dürfe aber kein einziges Plätzchen naschen.

    Psychologisch fand ich das natürlich bedenklich. Wenn ein Kind auf Bauklötzchen pinkelt, will es doch etwas sagen, also ist Strafandrohung völlig deplatziert. Mit dem Weihnachtsland zu drohen, schien mir besonders verwerflich.

    Lag es an den Allergenen im vollsynthetischen Nikolauskostüm? Wahrscheinlich hatten sich im Schlemmersalat Nizza Spuren von Muscheln versteckt.

    Kaum hatte ich dröhnend gerufen »Wohnt hier der kleine Emu?«, wurde mir höllenheiß, und ich begann zu würgen. Ich sehe noch die vergnügte Miene der Mutter, die das für eine gelungene Show-Einlage hielt. Ich riss mir den Bart ab, rang keuchend um Luft und fiel um. Die Mutter rannte zum Telefon. Nur der kleine Emu fragte sachlich: »Papa, ist der Weihnachtsmann betrunken?« Es war das Letzte, was ich hörte, Stunden später erwachte ich im Krankenhaus.

    Vati steht mit ärgerlicher Miene im Flur. Er ist nicht nur sauer wegen des ›exotischen Weihnachtsgestrüpps‹, sondern auch wegen der leckeren Essensdüfte, die durch die Wohnung ziehen. Aber jetzt versucht er seine schlechte Laune zu überspielen. »Mmmh, riecht das köstlich!«, sagt er. Er guckt in die Küche und reibt sich die Hände, um trotz milder Außentemperaturen ein Gefühl von knackiger Kälte aufkommen zu lassen. Auch Mutti trägt zur Steigerung der Weihnachtsstimmung bei: Sie macht den Kartoffelsalat an und rezitiert Von drauß vom Walde. Als Deutschlehrer kennen sie solche Gedichte noch.

    21 Uhr. Wir sind dann doch nicht in die Kirche gegangen. Das Abendessen ist vorbei. Vati war – wie jedes Jahr – stocksauer, dass Mutti sich Kartoffelsalat und Würstchen schmecken ließ, während er unsere fade Schonkost runterwürgen musste.

    Auch die Bescherung wie gehabt. Mutti kriegt den neuesten Antiallergie-Staubsauger, Vati einen ungegerbten, chromfreien Ledergürtel mit Riegel-Knopfverschluss. Ansonsten gibt es massenweise Diät-Kochbücher, allergenfreie Gesichtscremes und Bio-Textilien, Deos und Rasierwässer, Allergikerkissen und nickelfreie Emailkochtöpfe. Pia kriegt für ihre schwarz gefärbten Haare ein Produkt ohne Cetylstearylalkohol.

    Nun aber naht der dramatische Höhepunkt des Weihnachtsabends. Mutti und Vati graben an Heiligabend nämlich ihre Instrumente aus. So wie die Königin der Nacht nur eine Nacht pro Jahr erblüht, erklingt das elterliche Geigenspiel am 24. Dezember gegen 21 Uhr, um dann wieder für 364 Tage zu verstummen. Der Vergleich hinkt, Blüten sind ja etwas Wunderschönes.

    Zu den Mysterien unseres Familienweihnachtsfests zählen die Fragen: Warum üben Mutti und Vati eigentlich nie?

    Warum lässt man die Geigen nicht dort, wo sie sind?

    Zum Ritual gehört es aus unerfindlichen Gründen, dass Vati die Instrumente erst an Heiligabend vom Speicher holt. Nach der Bescherung schleicht er auf Zehenspitzen ins Treppenhaus und zum Dachboden hinauf. Er holt die Geigenkästen, entstaubt sie im Treppenhaus, bringt sie herein und legt sie leise, leise unter den Weihnachtsbaum. Bald ist’s soweit!

    Nun schnappen die Schlösser auf, die Instrumente werden vorsichtig entnommen, es wird ein paar Sekunden lang gestimmt, und dann beginnen Mutti und Vati zu streiten, wer dieses Jahr die erste Stimme spielen darf.

    Auf dem Notenheft steht Bekannte Weihnachtslieder für zwei Geigen oder andere Melodieinstrumente. Wobei das Gefiedel die Assoziation ›Melodieinstrument‹ nicht unbedingt nahelegt. Unserer Schätzung nach hatten Mutti und Vati als Kinder vielleicht zwei Wochen Geigenunterricht. Angeblich sollen es bei Mutti zwei Jahre gewesen sein, bei Vati sogar zweieinhalb. Das kann natürlich niemand überprüfen. Ich denke, Mutti hat irgendwann »zwei Jahre« gesagt, und Vati hat spontan ein halbes Jahr draufgesetzt. Auf diese willkürliche Differenz beruft er sich nun immer.

    »Also, Schatz, los geht’s, Es ist ein Ros …«

    Beide beginnen unisono die erste Stimme zu kratzen.

    »Halt«, ruft Vati nach zwei Takten. »Du bist in der Zeile verrutscht. Ich spiel doch oben.«

    »Dann spielst du aber bei O Tannenbaum unten!«

    Wir Kinder grinsen betreten.

    »Hör mal, Schatz«, doziert Vati, »ich hatte ja bedeutend länger Unterricht als du. Die exponierte erste Stimme sollte doch derjenige spielen, der –«

    »Ich seh nicht ein«, faucht Mutti, «warum wir die Stimmen nicht gerecht aufteilen sollten. Es sind sechs Lieder. Du drei oben, ich drei oben, ja?«

    Vati lächelt spöttisch, reißt die Geige ans Kinn und spielt los, die erste Stimme von Es ist ein Ros. Um des lieben Friedens willen fällt Mutti nach ein paar Takten mit der zweiten Stimme ein.

    Sie spielen schauerlich. Ich schaue zu Minni hinüber. Sie hustet mit gequältem Lächeln vor sich hin. Wäre sie ein kleiner Hund, würde sie jetzt unters Sofa kriechen.

    Wenn das Lied nicht so bekannt wäre, würde man es nicht erkennen. Vati fiedelt sich in Schwung und hängt gleich noch die zweite und dritte Strophe an. Mutti hat nach der ersten Strophe erleichtert den Bogen sinken lassen, spielt dann aber, wieder um des lieben Friedens willen, weiter.

    Vierte Strophe. Minni schleicht Richtung Tür. Ich schüttle den Kopf und winke sie zu mir. Sie klettert auf meinen Schoß.

    Fünfte Strophe. Vati versucht Zeit zu gewinnen, klar. Er will nicht bei O Tannenbaum die zweite Stimme spielen.

    Sechste Strophe. Minni seufzt und ächzt und legt den Kopf an meine Schulter.

    Siebte Strophe. Ich wusste gar nicht, dass Es ist ein Ros entsprungen so viele Strophen hat. Minni niest und hustet, nimmt meine Hand, legt sie sich auf die Stirn. Sie glüht. Minni hat Fieber. Ich überlege, ob ich mit ihr rausgehen soll. Nein, Mutti und Vati reagieren da empfindlich, ich warte lieber, bis das Lied zu Ende ist. Vierzehnte Strophe. Mutti spielt nicht mehr mit. Vati schrappt alleine weiter. Ich halte die ächzende Minni im Arm und komme mir wie der Vater im Erlkönig vor. Sechzehnte Strophe. Ich stehe auf und trage sie hinaus. Minni atmet schwer. Sie reibt sich die Augen und sieht schon wie ein blasses, rotäugiges Kaninchen aus. Jetzt kratzt sie sich am Arm. Alles voller Quaddeln. Mir kommt ein schrecklicher Verdacht – Minni hat eine Weihnachtsallergie!

    Ein neuer Name

    Kim Skott

    Betsabie läuft durch den Schnee die Straße entlang. Es ist ihr üblicher Rundgang, und sie hofft auf reiche Beute. An den Weihnachtstagen sind Abfalltonnen immer besonders ergiebig. Voll von Knochen und Saucenresten, in Bratensaft getränkten Knödelbrocken, an denen noch Rosenkohlblätter kleben. Sie ist nicht wählerisch um diese Jahreszeit und frisst auch Rosenkohlblätter. Am besten ist die Tonne vor dem Eckhaus: da gibt es nämlich häufig Fisch. Der Geruch ist dann so intensiv, dass sie ihn schon von der Straße aus wahrnimmt. Zum Beispiel Lachs mit Käsedillsauce und dazu Bratkartoffeln mit Krabben. Nordisch-deftig, aber genau das mag sie. Was kümmern sie die eleganten Häppchen von den Stehpartys bei Kaisers, wenn im Winter doch alle Türen geschlossen sind? Betsabie liebt Lachs in Sauce.

    Betsabie – sie hat nicht immer so geheißen. Früher hieß sie mal Susi, Schnuckelkatze, meine Schöne. Das war in einem anderen Teil der Stadt. Aber dieses Leben ist vorbei. Eines Tages lagen die vertrauten Hände zu still auf der Decke, und dann waren da andere Hände, die viel zu sehr nach Chemie und Desinfektionsmitteln rochen, nach Sauberkeit aus der Dose. Biest. Da hat sie gekratzt und gefaucht, und dann ist sie gerannt. Katzenvieh. Weit fort ist sie gerannt, bis über die Grenze ihres Streifgebiets hinaus und weiter. Seitdem heißt sie nicht mehr Susi, Schnuckelkatze, meine Schöne. Seitdem heißt sie Betsabie. Sie hätte wohl noch zurückgefunden – doch wozu? Und so ist sie hiergeblieben, in diesem neuen Stadtteil. Er ist nicht so ärmlich

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