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Hinter unserem Horizont: Die Suche nach der Endstation
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Hinter unserem Horizont: Die Suche nach der Endstation
eBook364 Seiten4 Stunden

Hinter unserem Horizont: Die Suche nach der Endstation

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Über dieses E-Book

Bevormundende Eltern, eine herrische Schwester und eine böse Ahnung verfolgen Benjamin bis ins Erwachsenenalter. All das macht es ihm unmöglich, ein selbstständiges und geregeltes Leben zu führen. Begleitet von einer grausamen Kindheit und geplagt von Depressionen trifft er eine Entscheidung. Für eine verheiratete Frau, seine erste große Liebe, zieht er nach Solingen und ist bereit für einen Neuanfang. Weg von seinen Eltern, weg von seiner Schwester, doch der Schatten seiner Vergangenheit begleitet ihn, ohne dass er es ahnt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Juni 2020
ISBN9783752902136
Hinter unserem Horizont: Die Suche nach der Endstation

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    Buchvorschau

    Hinter unserem Horizont - Elias J. Connor

    PROLOG

    Der nasse Regen plätscherte auf sein Gesicht. Seine Kleidung war dreckig und vom Wasser durchtränkt. In seiner Jeans war ein Riss, aus dem Blut austrat. Seine Jacke war offen, trotz der Kälte, und hing ihm halb vom Körper herunter.

    Er lag da, mitten auf der Straße, regungslos und ohnmächtig. Sein Kopf befand sich mitten in einer großen Blutlache, die bereits auch schon seine Haare rot färbte. Das Blut lief langsam den Bordstein herunter, in einen nah gelegenen Kanal hinein.

    Er bewegte sich nicht. Würde man genauer hinsehen, könnte man allerdings merken, dass seine Lippen leicht bebten.

    Ein anderer Mann hechtete plötzlich aus einem Kiosk heraus, der keine zehn Schritte von der Stelle entfernt war, wo der Mann lag. Sofort packte er einen seiner Arme und versuchte, ihn anzuheben.

    „Hallo?, fragte er. „Können Sie mich hören?

    Der Mann reagierte nicht.

    „Hallo", sagte der andere Mann wieder, der offenbar in dem Kiosk arbeitete.

    Dann nahm er das Handy aus seiner Tasche und wählte die Nummer des Notrufs.

    „Ja, sagte er schließlich ins Telefon. „Ich bin gerade vor meinem Kiosk in der Nähe vom Bahnhof. Hier liegt ein unbekannter Mann, vielleicht Mitte bis Ende 30, verletzt auf dem Bürgersteig. Er ist wahrscheinlich gestürzt und hat eine ziemlich schwere Kopfverletzung. Er reagiert nicht, wenn ich ihn anspreche.

    „Wo sind Sie genau?", fragte die Frau am anderen Ende des Telefons.

    „In der Buchenstraße 120 in Solingen", antwortete der Kioskbesitzer.

    Dann sendete die Frau einen Notruf aus und wandte sich schließlich wieder dem Mann zu, der den Fremden auf der Straße liegend fand.

    „Okay, meinte sie. „Liegt der Mann bereits in der stabilen Seitenlage?

    Daraufhin legte der Kioskbesitzer das Handy weg und drehte den Verletzten seitlich zu sich. Dann nahm er das Telefon wieder in die Hand.

    „Atmet er?", wollte die Frau wissen.

    „Ja, stellte der Kioskbesitzer fest. „Er ist zwar ohnmächtig, aber er atmet. Er blutet aber ziemlich stark, können Sie sich bitte beeilen?

    „Wir sind in zwei bis drei Minuten da, spätestens", sagte die Frau.

    Der Kioskbesitzer lief dann in sein Geschäft rein und holte ein Handtuch. Vorsichtig versuchte er damit die blutende Stirn des Mannes abzutupfen. Währenddessen probierte er immer wieder, ihn anzusprechen, aber der Mann zeigte keinerlei Reaktion.

    Eine junge Frau kam vorbei, die die Szene beobachtet hatte.

    „Haben Sie den Notarzt schon gerufen?, fragte sie. „Was ist passiert?

    „Er muss gestürzt sein, klärte der Kioskbesitzer sie auf. „Rettungswagen ist unterwegs.

    „Er riecht nach Alkohol", sagte die Frau.

    „Ja, stellte der Kioskbesitzer fest. „Ich meine mich zu erinnern, dass er wenige Stunden vorher bei mir zwei Dosen Bier gekauft hatte.

    „Wissen Sie, wer er ist?"

    „Er muss hier in der Nähe wohnen. Ich kenne ihn vom Sehen, er kauft manchmal in meinem Kiosk ein."

    Die Frau kramte daraufhin in der Tasche des Unbekannten und fand sein Portmonee. Aber die Geldbörse war völlig leer, keine Papiere, kein Ausweis und auch kein Geld.

    „Ich vermute, er ist niedergeschlagen worden", mutmaßte die Frau schließlich.

    „Glaube ich nicht, sagte der Kioskbesitzer. „Für mich sieht es eher danach aus, als wäre er aus der Kneipe gefallen, vielleicht konnte er dort nicht bezahlen und die haben dann seine Papiere als Pfand einbehalten. Er schien schon angeheitert gewesen zu sein, als er vorhin bei mir Bier kaufte. Ich glaube, dass er gefallen ist.

    Die Frau versuchte dann, den Puls des Fremden zu messen.

    „Puls ist vorhanden, sagte sie. „Sehr schwach, aber er ist da.

    Wenig später – kam der Rettungswagen mit Blaulicht angefahren. Kaum angekommen, stiegen gleich zwei Sanitäter aus.

    „Hallo, sagte der Eine. „Können Sie mich hören? Sind Sie ansprechbar?

    „Er reagiert nicht, erklärte der Kioskbesitzer. „Ich habe es bereits versucht.

    Während einer der Sanitäter die Wunde versorgte und desinfizierte, kam der Notarzt schließlich mit einem separaten Auto an.

    Die Sanitäter bereiteten eine Trage vor. „Wir werden ihn ins Krankenhaus mitnehmen", sagte der Eine.

    Der Notarzt setzte dem Fremden eine Infusion, und zeitgleich legten die Sanitäter ihn auf die Trage.

    „Puls?", sagte einer von ihnen.

    „Schwach, aber ja, sagte der Notarzt. „Sehr schwache Atmung. Weiß man, wer er ist oder wo er wohnt?

    „Nein, keinen Schimmer. Der Kioskbesitzer, der uns gerufen hatte, kennt ihn offenbar auch nur vom Sehen", sagte der Sanitäter.

    Als die Trage mit dem Verletzten im Wagen war, setzte sich der Notarzt wieder in sein Auto und fuhr bereits vor.

    „Okay, wir werden Sie benachrichtigen, wenn wir mehr wissen", verabschiedete sich der eine Sanitäter vom Kioskbesitzer und der Rettungswagen fuhr davon.

    Im Krankenwagen schlossen die Sanitäter den Fremden an Kontrollgeräte an, die seinen Herzschlag und seinen Puls maßen. Noch immer schien der Patient nicht ansprechbar und regungslos zu sein.

    Einer der Sanitäter notierte sich etwas auf einem Block: „12. Juli 2016. Name: Unbekannt. Status: Schwere Kopfverletzung, komatös durch Alkoholeinfluss. Möglicherweise innere Verletzungen", konnte man dort lesen.

    Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte nur wenige Minuten. Kaum angekommen, wurde die Trage mit dem Unbekannten direkt auf die Intensivstation gebracht, in einen Raum, der nach einem OP-Saal aussah. Sofort kamen mehrere Ärzte und bereiteten sich darauf vor, die schwere Kopfverletzung zu behandeln. Die Maschine, an die der Patient angeschlossen war, zeigte, dass der Herzschlag leicht schwächer und langsamer wurde.

    Schließlich kam auch der Oberarzt, den man zuvor gerufen hatte.

    „Name?", fragte er.

    „Unbekannt, antwortete einer der Ärzte. „Herzschlag unrhythmisch, wahrscheinlich ein Schock, hervorgerufen durch zu viel Alkohol.

    Der Narkosearzt setzte den Patienten unter Betäubung, und fast zeitgleich begann der Oberarzt, die Wunde mit mehreren Stichen zu nähen.

    „Ich vermute, dass innere Verletzungen vorhanden sind, stellte er fest. „Kann mir jemand sagen, was passiert ist?

    „Der Mann scheint auf der Straße zusammengebrochen zu sein, klärte ihn einer der Ärzte auf. „Die Sanitäter sagen, ein Kioskbesitzer habe ihn gefunden, aber wir wissen nicht, wie lange er schon da lag.

    „Der Herzschlag ist unregelmäßig, sagte der Oberarzt. „Möglicherweise müssen wir ihn in ein künstliches Koma versetzen.

    Zur gleichen Zeit betrat eine junge Frau, mittellange, dunkle Haare und eher zierlich, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, das Krankenhaus und lief aufgeregt zum Empfang. Ihr Körper schien zu zittern und einige Tränen liefen ihre Wangen herunter. „Ist er hier? Ist er eingeliefert worden?", fragte die Frau.

    „Beruhigen Sie sich, sagte die Dame am Empfang. „Wen genau suchen Sie?

    „Benjamin Foster, sagte die junge Frau. „Er war nicht zu Hause, als ich heute Abend dort ankam. Ein Mann sagte mir, dass es vor seinem Haus einen Verletzten gab. Er lässt sein Handy nie zu Hause, aber es lag da, als ich kam…

    „Wie ist ihr Name?", fragte die Mitarbeiterin des Krankenhauses.

    „Jennings, sagte die Frau. „Crystal Jennings. Benjamin ist mein Patenonkel.

    „Gut, sagte die Frau. „Bleiben Sie ruhig. Ich sehe nach.

    Dann warf die Mitarbeiterin einen Blick in ihren Computer.

    „Wir haben heute Abend nur zwei Einlieferungen. Eine ältere Frau und einen Mann, dessen Namen wir nicht kennen. Wo wohnt ihr Patenonkel?"

    „In der Buchenstraße, antwortete Crystal. „Nicht weit weg vom Bahnhof.

    „Also, der Unbekannte, der vorhin hier eingeliefert wurde…, begann sie. „Der Notruf wurde tatsächlich von einem Kioskbesitzer in der Buchenstraße abgesetzt.

    „Oh, mein Gott, wisperte Crystal. „Das muss er sein. Wo ist er? Wo ist er?

    „Sie können da jetzt nicht rein, sagte die Angestellte. „Soweit ich informiert bin, befindet sich der Unbekannte mitten im OP.

    „Ich muss zu ihm, sagte Crystal aufgeregt. „Kann ich mit jemandem sprechen?

    „Jetzt nicht", antwortete die Mitarbeiterin fast unhöflich.

    Aber Crystal ließ sich nicht davon abbringen, es zu versuchen. Ohne eine Genehmigung abzuwarten, lief sie den Flur entlang und ging in Richtung des Aufzugs.

    Sie wusste nicht, wohin sie sollte, aber instinktiv drückte sie das Stockwerk an, in dem sich der OP befand.

    „Herz?", fragte der eine Arzt.

    „Schwach", sagte ein anderer.

    Die Wunde war versorgt, aber es schien dem Unbekannten weitaus schlimmer zu gehen, als sie dachten.

    „Ist die Blutuntersuchung fertig?", fragte der Oberarzt.

    Und zugleich kam ein Assistenzarzt mit einem Schreiben rein.

    „Starker Alkoholkonsum, wahrscheinlich über drei Promille", sagte er.

    „Gott, meinte der Oberarzt. „Das überlebt ja fast keiner. Wir werden ihn ins Koma versetzen müssen.

    „Doktor, draußen ist eine junge Frau, begann der Assistenzarzt dann. „Sie vermutet, den Unbekannten zu kennen.

    „Sie soll warten", sagte der Oberarzt, während er eine Infusion vorbereitete.

    Plötzlich wurde der Herzton der Maschine immer unregelmäßiger.

    „Herzrhythmus-Störungen, stellte der Arzt fest. „Bereiten Sie den Defibrillator vor.

    Eilig machten sich zwei Ärzte daran, das Gerät anzuschalten.

    „Geht das nicht schneller?", fragte der Oberarzt.

    Und dann auf einmal kam ein eintöniges Piepsen aus der Maschine.

    „Wir verlieren ihn, sagte der Oberarzt. „Herzstillstand. Schnell, den Defibrillator.

    Die beiden Assistenzärzte hielten die Enden der Maschine aneinander und legten sie dem Patienten auf die nackte Brust.

    „Jetzt", sagte der Oberarzt.

    Ein Stromschlag.

    Nichts. Das Geräusch war nach wie vor monoton.

    „Noch mal!" Sie setzen das Gerät ein zweites Mal an.

    Draußen kam ein Pfleger zu Crystal und setzte sich zu ihr.

    „Was ist passiert? Ist er es?", fragte sie aufgeregt.

    „Nun, sagte der Pfleger. „Wir wissen nicht, wer er ist. Und es sieht nicht gut aus. Sie beleben ihn gerade wieder.

    „Nein…, hauchte Crystal. „Er darf nicht sterben.

    „Wir wissen ja nicht genau, ob es auch Ihr Bekannter ist."

    „Mein Onkel, sagte Crystal. „Ich habe keine Familie mehr, nur noch ihn.

    „Sind Sie verwandt?", wollte der Pfleger wissen.

    „Nein, antwortete Crystal. „Nicht blutsverwandt. Aber er ist mein Patenonkel. Sie holte das Handy, welches sie mitgebracht hatte, und welches ihm gehören musste, heraus und zeigte dem Pfleger ein Foto von ihrem Patenonkel. „Das ist er. Ist das der Mann, der eingeliefert wurde?"

    Der Pfleger sah sich das Foto an.

    „Ja, sagte er schließlich. „Das Bild ist identisch mit dem Verletzten.

    „Ich muss zu ihm.", stammelte Crystal.

    Daraufhin kam der Oberarzt aus dem OP und ging auf Crystal zu…

    KAPITEL 1: NACHTFAHRT

    Wo war jetzt diese verfluchte Tasche?

    Das Wichtigste hatte ich ja eigentlich schon zusammen. Der Fernseher, eine Riesenkiste, war bereits im Auto verstaut. Ein Wunder, dass ich es geschafft hatte, ihn alleine herunter zu tragen. Aber nachts um drei Uhr war ja keiner mehr wach, der mir hätte helfen können.

    Der Koffer mit den wichtigsten Klamotten war ebenfalls bereits gepackt und verstaut. Das hatte ich heimlich gestern Abend schon gemacht. Ich hatte nicht viel eingepackt. Das Meiste würde dann sowieso am Samstag nachkommen. Von den Möbelpackern gebracht, die mein Vater engagiert hatte. Und Mutter würde mir dann alle Klamotten einpacken.

    „Ha, die werden morgen gucken, wenn sie sehen, dass ich bereits weg bin", sagte ich zu mir.

    Jetzt fehlte noch die Tasche mit all meinem persönlichen Kram. Papiere, Geldbörse, Bücher und so weiter. Wo ich die hingelegt hatte, wusste ich im Moment aber nicht mehr. Gestern Abend hatte ich sie noch gehabt.

    Ich suchte im Schlafzimmer. Persönlichen Kram bewahrte ich meistens im Schlafzimmer in der Schublade auf, von der ich immer hoffte, dass sie keiner aufmachte. Besonders nicht meine Mutter. In dieser Schublade hatte ich auch all die geheimen Liebesbriefe von Jenny. Keiner sollte sie sehen. Niemand.

    Die Tasche war dort. Ein Aktenkoffer mit all meinem persönlichen Inhalt.

    Hatte ich noch was vergessen?

    Ach, du meine Güte… Natürlich. Joey. Meinen Beo. Der Vogel, der so wunderbar Geräusche nachmachen konnte. Er sah so schlicht aus, aber er konnte wundervoll singen und sogar pfeifen. Ihn wollte ich auf jeden Fall jetzt schon mitnehmen, mitsamt seinem Käfig.

    Ich machte den oberen Teil des Käfiggestells vom Ständer ab und trug ihn ins Auto. Anschließend lief ich wieder hoch, holte meine persönliche Tasche und sah mich noch mal in meiner Wohnung um.

    „Das war’s, sagte ich. „Bielefeld, ich werde dich garantiert nicht vermissen.

    Nachdem ich das Licht ausmachte und die Türe abschloss, stapfte ich mit der Aktentasche zum Wagen und setzte mich rein.

    Alles leer. Kein Mensch auf der Straße.

    Ich machte den Motor an und fuhr los.

    Ich war ja eigentlich immer eher schüchtern. Zurückhaltend, ein Einzelgänger eben. Ich hatte auch nie viele Freunde, und die, die ich hatte, interessierten sich nur oberflächlich für mich. Waren wohl mit ihrem eigenen Leben und ihrer eigenen Karriere viel zu beschäftigt, um sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen.

    Es fiel mir nicht besonders schwer, das alles hinter mir zu lassen. Freunde. Familie. Mein Leben in Bielefeld.

    Ob sie von Jenny wussten, konnte ich nur erahnen. Offiziell hatte ich einen Jobwechsel als Grund angegeben, aber eigentlich bin ich nur wegen Jenny umgezogen.

    Als ich mit konstanten 130 Stundenkilometern über die fast leere Autobahn bretterte, geriet ich ins Grübeln. Heute war der 22. Dezember 2003, ein kalter Wintertag. Ich hatte es mit 25 Jahren endlich geschafft, von zu Hause wegzukommen. Endlich. Ich hätte es keine Sekunde länger mehr ausgehalten. Nicht in dieser Stadt. Nicht mit dieser Familie. Und nicht in diesem Leben.

    Meine Gedanken schweiften zum gestrigen Abend. Es war eigentlich alles wie sonst. Ich saß im Keller in meinem kleinen Musikstudio, das mir mein Vater eigens eingerichtet hatte. Ich klimperte ein bisschen auf meinem Keyboard, aber etwas wirklich Schönes kam dabei nicht raus. Der Vater unterbrach dann mein Spielen ruckartig, als er – natürlich ohne anzuklopfen – in den Keller hereinkam.

    „Na, Sohn, was machst du?", wollte er wissen.

    „Ich spiele, antwortete ich. „Lässt du mich jetzt bitte alleine?

    „Wir müssen reden", sagte er daraufhin, ohne auch nur einen Hauch Respekt an meinen Wunsch zu verschwenden.

    Genervt drehte ich mich um und sah ihn an.

    „Was ist?", wollte ich wissen.

    „Ich habe dir eine große Wohnung in Solingen gekauft, das weißt du, begann er. „Eine Eigentumswohnung.

    „Ja, sagte ich. „Wir waren vor einem Monat dort und haben den Kauf abgeschlossen. Stimmt was nicht damit?

    „Nun, mein Junge, setzte er wieder an, „Ich bin mir nicht sicher, ob du das ganz alleine schaffst, in einer großen Stadt. Bedenke, du kennst dort niemanden.

    „Schon klar, meinte ich. „Ich werde dort sicher Leute kennen lernen, Papa. Wenn ich es jetzt nicht mache, wann dann?

    „Deine Mutter wäre sehr traurig, wenn du gehst, sagte er. „Sie macht sich große Sorgen um dich. Und für dich ist es doch wichtig, dass sie in deiner Nähe ist.

    So ein Quatsch.

    „Carina ist erst 23, und sie ist mit 19 bereits ausgezogen", sagte ich.

    „Du weißt, dass Carina mit ihrem Freund zusammenlebt. Sie haben sich eine gemeinsame Zukunft aufgebaut."

    Was mein Vater damit sagen wollte, war, dass er Carina in so vielen Dingen für so viel weiter hielt als mich. In Allem. Carina studierte – ich hatte nicht einmal einen vernünftigen Job. Carina hatte einen Freund, seit sie 18 war – ich hatte niemanden. Und wenn sie wüssten, dass ich seit einem halben Jahr Jenny hatte, hätten sie es mir nicht geglaubt. Ganz typisch meine Eltern.

    Erst kürzlich sagte meine Schwester Carina zu mir, dass ich sicherlich nie von zu Hause ausziehen werde.

    „Niemand hält mich für erwachsen. Meine Güte, ich bin 25. Wann soll ich denn sonst mein eigenes Leben beginnen? Ich will dieses Leben hier nicht mehr. Ich will weg von hier. Weg von euch", wollte ich sagen.

    Aber ich sagte nichts.

    „Benjamin, ich kann morgen in Solingen anrufen und den Kauf der Wohnung rückgängig machen, schlug mein Vater mir vor. „Es wäre wirklich viel, viel besser, du würdest hier in der Obhut von mir und deiner Mutter bleiben.

    Obhut. Mutter.

    Vater war ja nie da. Der große, wichtige Alfred Foster hatte ja permanent Termine. Er kam immer erst spät abends vom Büro nach Hause. Und eigentlich wusste ich, dass er sich nie für meine persönlichen Belange interessierte.

    Und Mutter?

    Ich hatte mich nie gegen sie gewehrt. Ich wollte es so oft versuchen, aber es gelang mir nie. Sie war immer am längeren Hebel. Sie legte sich alles so zurecht, wie es ihr passte.

    Ich wusste, dass sie mich nicht gehen lassen wollte. Ich wusste, dass sie nie zulassen würde, dass ich wegziehe. Weg von ihr, weg von der ganzen Scheiße.

    „Ich werde umziehen!, sagte ich zu meinem Vater. „Ich will es.

    „Nun, gut, meinte er daraufhin. „Dann versuch dein Glück. Wenn du nicht zurechtkommst – und das wird mit Sicherheit keine drei Monate dauern – dann kannst du hierher zurückkommen. Dein Zimmer bleibt frei für dich, und die Eigentumswohnung in Solingen werde ich auf dem Markt als Verkaufsobjekt eingetragen lassen, damit ich sie auch schnell wiederverkaufen kann, wenn du zurückkommst.

    „Ich komme nicht zurück", wollte ich sagen.

    „Ja, gut, sagte ich stattdessen. „Ich werde es trotzdem versuchen.

    „Du wirst nie ohne deine Mutter leben können, machte mein Vater mir klar. „Du kommst wieder, das weiß ich.

    Dann ging er raus.

    In der nächtlichen Dunkelheit auf der Autobahn, die nur durch das Scheinwerferlicht meines Ford Escorts unterbrochen wurde, sah ich schließlich ein Hinweisschild auf eine Raststätte. Ja, genau, das wär’s jetzt. Kurz Pause machen und einen Kaffee trinken. Vielleicht noch was Kleines essen.

    Als ich auf den Parkplatz fuhr, sah ich eine Menge Trucks und Lastkraftwagen. Komischerweise schien dieser Rastplatz sehr besucht, obwohl die Straßen so leer waren.

    Ich orderte schließlich an der Theke einen Kaffee, ein Glas Cola und ein Baguette mit Käse und Schinken. Mit dem Tablett setzte ich mich dann an einen freien Platz.

    Kurze Zeit später – ich hatte die Cola bereits ausgetrunken – kam eine Frau an und setzte sich neben mich.

    „Darf ich?", fragte sie.

    Ich sah sie nur an.

    Eine Frau sprach mich an. Wie ungewöhnlich war das denn?

    „Sind Sie auch mit Ihrem LKW auf nächtlicher Tour?", fragte sie dann.

    Und sie wollte sogar ein Gespräch beginnen. Äußerst seltsam Naja, sie kannte mich eben nicht. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich zurückhaltend und scheu gegenüber Menschen war.

    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

    „Man sieht nur vereinzelt Lastkraftwagen auf der Straße, sagte sie dann. „Ich bin mit meinem PKW unterwegs und komme gerade von einer Urlaubsreise zurück. Sie nippte dann an ihrem Getränk, das sie vor sich stehen hatte. „Deswegen dachte ich, Sie sind bestimmt ein Fernfahrer."

    „Ich ziehe um, antwortete ich ihr nur. „Ich habe meine Zelte in Bielefeld abgebrochen und ziehe nach Solingen.

    „Mitten in der Nacht?", fragte sie ungläubig.

    Ich antwortete nichts darauf.

    „Solingen ist eine schöne Stadt, fügte sie hinzu. „Ich war schon ein paar Mal dort. Eine Freundin wohnt dort. Kennen Sie schon jemanden in Ihrer neuen Heimat?

    „Meine Freundin", erklärte ich schließlich.

    „Wie romantisch. Sie fahren mitten in der Nacht zu Ihrer Freundin und brechen alle Zelte zu Hause ab."

    „Ja, genau", lächelte ich verlegen.

    „Wie heißen Sie?", fragte sie anschließend.

    Warum sollte ich ihr das nicht sagen? Ich kannte sie nicht, und sie kannte mich nicht. Da war es doch eigentlich egal. Und bestimmt würde ich sie nicht wiedersehen, obwohl sie eigentlich ganz nett zu sein schien.

    „Benjamin Foster", antwortete ich.

    „Ich heiße Simone Welter, stellte sie sich vor. „Und warum ziehen Sie mitten in der Nacht um?

    „Na, ja, begann ich. „Ich ziehe eigentlich erst am Samstag um. Meine neue Wohnung ist noch ganz leer. Ich habe nur ein paar Sachen mit, so das Wichtigste, aber ich bin dann doch schon heute losgefahren.

    „Och, machte die Frau. „Sie können es nicht erwarten, mit Ihrer Freundin zusammen zu leben. Das ist süß.

    Ich sah sie fragend an.

    „Wir sind seit einem halben Jahr in einer Fernbeziehung, erklärte ich schließlich. „Jetzt habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und musste endlich raus.

    „Ist ihre Freundin der einzige Grund, warum Sie umziehen?", wollte die Frau dann wissen.

    Ich schnaufte aus.

    „Warum fragen Sie?", wollte ich wissen.

    „Nun, Sie machen mir einen so schüchternen Eindruck, fast niedergeschlagen."

    Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Aus irgendeinem Grund interessierte sich diese Frau – eine fremde Frau – für meine Geschichte. Ich war das nicht gewohnt. Noch nie hat sich jemand, mal abgesehen von Jenny vielleicht, für meine Geschichte interessiert.

    „Lief nie besonders gut in meiner Familie, brachte ich nur heraus. „Ich bin froh, dass ich das jetzt hinter mir habe.

    Was hätte ich ihr erzählen können?

    Meine Familie. Ein Vater, der versucht, mich unselbstständig zu halten, wo er nur konnte. Der mir das kaufte, was ich brauchte, und der glaubte, sich meine Achtung mit Geld erkaufen zu können. Eine Mutter, die mich behandelte wie ein kleines Kind und nie, nie, nie akzeptieren konnte, dass ich erwachsen war. Eine Schwester, die mich immer unterbuttert hatte, mir nie etwas zutraute und mir stets zeigte, dass sie, obwohl sie zwei Jahre jünger war, in allem weiter und reifer war als ich.

    Ja, das war sicher meine Schuld. Ich ließ es ja auch jahrelang mit mir machen. Und irgendwann war es auch egal.

    Aber jetzt – jetzt hatte ich meine Sachen gepackt und bin weg. Weg aus dem tristen Alltag. Weg aus meinem alten, schwachen Leben.

    „Ich muss weiter, verabschiedete ich mich dann von der Frau. „War nett, mit Ihnen zu reden.

    Ich ging zu meinem Auto und machte mich wieder auf den Weg in das Morgengrauen, das bereits anfing, und fuhr die letzten 100 Kilometer bis zu meinem neuen Zuhause.

    Unvergleichlich, dieser Moment, als ich meine Wohnung im fünften Stock aufschloss. Endlich.

    Es waren noch keine Möbel drin. Egal. Nur eine Matratze lag im riesigen Wohnzimmer auf dem Boden. Aber das Licht ging schon, und Wasser lief auch.

    Nachdem ich alles oben hatte, legte ich mich auf die Matratze und begann zu träumen.

    Was mich wohl jetzt erwarten würde?

    Die Frau in der Raststätte hatte Recht, ich kannte hier niemanden. Außer Jenny. Ich, Benjamin Foster, würde jetzt hier ein ganz neues Leben anfangen. Ich brauchte nicht mehr an mein früheres Leben zu denken. Es lag hinter mir, es war vorbei.

    Verdammt. Plötzlich packten mich unvorbereitet Zweifel. Ich hatte keine Ahnung, wo sie herkamen. Wie ein Blitz schossen sie mir durch den Kopf.

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