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Knabenalter
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eBook108 Seiten1 Stunde

Knabenalter

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Über dieses E-Book

Die Selbstbiografie ›Knabenalter› erzählt, geschrieben in der Ich-Perspektive, die Kindheit und Jugendzeit des Nikolai Petrowitsch Irtenjew, eines Jungen aus einer russischen Adelsfamilie. Der Schriftsteller Tolstoi verbindet darin autobiografische und fiktive Erzählungen. ›Knabenalter‹ ist Teil der ›Kindheit, Knabenjahre, Jünglingsjahre‹; Hermann Hesse nannte sie "eine der schönsten Dichtungen Tolstois und eine der schönsten, liebenswertesten russischen Dichtungen überhaupt."
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum6. Sept. 2020
ISBN9783752993530
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    Buchvorschau

    Knabenalter - Lew Tolstoi

    Knabenalter

    LUNATA

    Knabenalter

    Lew Tolstoi

    Knabenalter

    © 1884 Lew Tolstoi

    Originaltitel Otročestvo

    Aus dem Russischen von Hanny Brentano

    Umschlagbild: Wallerand Vaillant

    © Lunata Berlin 2020

    Inhalt

    Wagenfahrt

    Das Gewitter

    Neue Anschauungen

    In Moskau

    Mein älterer Bruder

    Schrot

    Karl Iwanowitschs Geschichte

    Fortsetzung des Vorhergehenden

    Fortsetzung

    Die Eins

    Das Schlüsselchen

    Die Verräterin

    Verblendung

    Phantasien

    Kommt Zeit, kommt Rat

    Haß

    Wolodja

    Papa

    Großmama

    Ich

    Wolodjas Freunde

    Betrachtungen

    Anfang der Freundschaft

    Wagenfahrt

    Wieder stehen zwei Wagen vor der Freitreppe des Herrenhauses von Petrowskoje: eine Kutsche, in welcher Mimi, Katjenka, Ljubotschka und ein Stubenmädchen Platz nehmen, während der Verwalter Jakob in eigener Person auf dem Bock sitzt, und ein offener Wagen, in dem Wolodja und ich und der kürzlich in Dienst genommene Lakai Wassilij fahren.

    Papa, der einige Tage nach uns in Moskau eintreffen will, steht ohne Kopfbedeckung auf den Treppenstufen und schlägt ein Kreuz über das Fenster der Kutsche und den Wagen.

    »Nun, Gott mit euch! vorwärts!«

    Jakob und die Kutscher (wir fahren mit eigenen Pferden) nehmen die Mützen ab und bekreuzigen sich. »Hü! hü! mit Gott!« Kutsche und Wagen holpern über den unebenen Weg, und die Birken der großen Allee gleiten eine nach der andern an mir vorüber. Mir ist gar nicht traurig zumute: mein Sinn ist nicht auf das gerichtet, was ich verlasse, sondern auf das, was mich erwartet. In dem Maße der Entfernung von den Gegenständen, die mit den trüben Erinnerungen verbunden sind, welche bisher meine Einbildungskraft beschäftigten, verlieren diese Erinnerungen an Stärke, und an ihre Stelle tritt schnell das beseligende Bewusstsein eines Lebens voller Kraft, Frische und Hoffnung.

    Selten habe ich einige Tage so – ich will nicht sagen lustig, denn ich schämte mich noch gewissermaßen, mich der Lustigkeit hinzugeben, – aber so angenehm, so gut verlebt wie die vier Tage unserer Reise. Vor meinen Augen stand weder die geschlossene Tür zu Mamas Zimmer, an der ich nicht ohne schmerzliches Zusammenzucken vorbeigehen konnte, noch das geschlossene Klavier, welches man nicht nur nicht öffnete, sondern das man sogar mit einer gewissen Scheu ansah, noch die Trauergewänder (wir alle hatten einfache Reisekleider angelegt), noch all jene Dinge, welche mir den unersetzlichen Verlust lebhaft in Erinnerung brachten und mich zwangen, jedes Hervorbrechen der Lebensfreude zu unterdrücken, aus Furcht, ihr Andenken zu beleidigen. Hier aber gibt's immer neue malerische Gegenden und Dinge, die meine Aufmerksamkeit fesseln und ablenken, und die in Frühlingsherrlichkeit prangende Natur flößt der Seele frohe Gefühle der Zufriedenheit mit der Gegenwart und der leuchtenden Hoffnung auf die Zukunft ein.

    Ganz, ganz früh morgens zieht der unbarmherzige und wie alle Dienstboten in neuer Stellung übereifrige Wassilij die Bettdecke weg und versichert, es sei Zeit aufzubrechen, und alles sei schon bereit. Wie man sich auch weigert, wie man sich ärgert, wie schlau man's auch anstellt, um den süßen Morgenschlummer wenigstens um ein Viertelstündchen zu verlängern, – man merkt's dem entschlossenen Gesichte Wassilijs an, daß er sich nicht erweichen läßt und bereit ist, die Decke noch zwanzigmal fortzuziehen; da springt man auf und läuft in den Hof, um sich zu waschen.

    Im Flur dampft bereits der Samowar, in dessen Zugrohr Mitjka, der Vorreiter, mit krebsrotem Gesichte hineinbläst. Im Hof ist's feucht und nebelig, und vom duftenden Dünger steigt's wie Dampf auf; die Sonne erhellt mit frohem, strahlendem Licht die östliche Hälfte des Himmels und die tauglänzenden Strohdächer der geräumigen Schuppen, die den Hof umgeben. Unter ihnen sieht man unsere Pferde, die an die Krippen gebunden sind, und hört ihr gleichmäßiges Kauen. Ein zottiges Hündchen, das vor dem Morgendämmern auf einem trockenen Düngerhaufen geschlafen hat, reckt sich träge und läuft dann schweifwedelnd in kurzem Trab auf die andere Seite des Hofes. Die geschäftige Hausfrau macht das knarrende Tor auf und treibt die nachdenklichen Kühe auf die Straße, wo bereits das Getrampel, das Brüllen und Blöken der Herde hörbar wird, und wechselt ein Wörtchen mit der verschlafenen Nachbarin. Philipp zieht mit aufgestreiften Hemdärmeln den Eimer am Rad aus dem tiefen Brunnen, plätschert in dem klaren Wasser und gießt es in die Krippe aus Eichenholz, neben der die erwachten Enten bereits in der Pfütze baden; ich blicke mit Vergnügen auf Philipps ernstes, von großem Vollbart umrahmtes Gesicht und auf die starken Adern und Muskeln, die auf seinen nackten, sehnigen Armen scharf hervortreten, wenn er eine kräftige Bewegung macht.

    Hinter der Zwischenwand, hinter der Mimi und die Mädchen geschlafen haben und durch die wir am Abend ein Gespräch geführt haben, rührt es sich. Mascha läuft mit allerhand Gegenständen, die sie mit ihrem Kleide vor unserer Neugier zu schützen sucht, immer öfter an uns vorüber; endlich wird die Tür geöffnet, und wir werden zum Tee gebeten.

    Wassilij kommt in einem Anfall überflüssigen Eifers immer wieder ins Zimmer gelaufen, trägt bald das, bald jenes hinaus, zwinkert uns zu und bittet Maria Iwanowna, sobald als möglich aufzubrechen. Die Pferde sind angespannt und äußern ihre Ungeduld, indem sie von Zeit zu Zeit mit den Schellen klirren; die Koffer und Kisten, die Schachteln und Schächtelchen werden wieder aufgeladen, und wir nehmen unsere Plätze ein. Aber jedesmal finden wir im Wagen statt eines Sitzes einen Berg, so daß wir gar nicht begreifen, wie das alles gestern geordnet gewesen, und wie wir heute sitzen sollen. Ganz besonders erregt eine Teebüchse mit dreieckigem Deckel, die man uns in den Wagen reicht und unter meinen Sitz stellt, meinen größten Unwillen. Aber Wassilij behauptet, der Berg werde sich schon zusammendrücken lassen, und ich muß ihm glauben.

    Die Sonne ist eben erst hinter einer dicken, weißen Wolke, die den östlichen Horizont bedeckt, heraufgekommen, und die ganze Gegend erglänzt in ruhig freudigem Lichte. Alles rundumher ist so schön, und mir ist so leicht und ruhig zumute. Die Straße windet sich vor uns wie ein breites, flatterndes Band zwischen vertrockneten Stoppelfeldern und tauglänzendem Grün; hier und da steht am Wegrande eine düstere Weide oder eine junge Birke mit kleinen, klebrigen Blättern, die einen langen, unbeweglichen Schatten auf die trockenen, lehmigen Radspuren und das niedrige, grüne Gras des Weges wirft. Das einförmige Geräusch der Räder und der Schellen vermag das Getriller der Lerchen, die grade über der Straße in die Luft steigen, nicht zu übertönen. Der Geruch von mottenzerfressenem Tuch, von Staub und irgend einer Säure, durch den sich unser Wagen auszeichnet, wird vom Morgenduft verdrängt, und ich fühle im Herzen eine wonnige Unruhe und den Wunsch, irgend etwas zu tun, – das Kennzeichen des echten Genusses.

    Ich bin in der Nachtherberge nicht dazu gekommen, zu beten; da ich jedoch schon mehr als einmal bemerkt habe, daß an dem Tage, an dem ich aus irgend welchem Grunde vergesse, das zu tun, mir irgend ein Unglück widerfährt, bemühe ich mich, das Versäumte nachzuholen: ich nehme die Mütze ab, wende mich nach der Ecke des Wagens, sage meine Gebete her und bekreuzige mich unter meiner Jacke so, daß es niemand bemerkt. Aber tausenderlei verschiedene Dinge lenken meine Aufmerksamkeit ab, und ich wiederhole in der Zerstreutheit mehrmals hintereinander dieselben Gebetsworte.

    Jetzt werden auf dem Fußpfade, der sich die Fahrstraße entlang schlängelt, langsam schreitende Gestalten sichtbar: es sind Wallfahrerinnen. Ihre

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