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Resa
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eBook322 Seiten

Resa

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Über dieses E-Book

Resa muss von Berlin wegziehen, ihre Freunde zurücklassen und das alles nur, weil ihre Mutter mit ihrem neuen Ehemann ein neues Leben anfangen will. Aber muss dabei ihr Leben auf der Strecke bleiben?
Und in dem Dorf, in das sie ziehen muss, erwarten sie so einige merkwürdige Bewohner ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Mai 2018
ISBN9783742739858
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    Buchvorschau

    Resa - Nila Wolfram

    Nila Wolfram

    Resa

    ROMAN

    1. Auflage, 2018

    Copyright © Nila Wolfram

    Alle Rechte vorbehalten.

    Umschlagmotiv: © Aleshyn_Andrei / Shutterstock;

    © Ollyy / Shutterstock

    shutterstock.com

    © Wortley / Pixabay

    pixabay.com

    Umschlaggestaltung: Nila Wolfram

    Impressum:

    Nila Wolfram

    c/o Papyrus Autoren-Club

    Pettenkoferstr. 16-18

    10247 Berlin

    nila-wolfram@gmx.de

    Inhaltsverzeichnis

    Titelseite

    Prolog

    Ein stereotyper Anfang

    Abdul

    Sechzehn

    Ein Einzug

    Fünfzehn

    Park

    Ein paar Haare

    Vierzehn

    Ein Herr Liebe

    LLLLLLL

    Ein Priester

    Dreizehn

    Ein Abendessen

    Zwölf

    Eine Mitschülerin

    Eine Aufregung

    Elf

    Jaguar

    Eine Unannehmlichkeit

    Ein paar Lampions

    Zehn

    Ein Zoo

    Weiß

    Ein Lippenstift

    Neun

    Eine Tüte

    Acht

    Ein Sohn und noch jemand

    Sie

    Ein Teich der Libellen

    Sieben

    Ein Labrador

    Ein paar Diebe

    Sechs

    Ein Ausbruch

    Ein Weg

    Fünf

    Eine Alster

    Vier

    Drei Rasierklingen

    Eine Lüge oder mehr

    Romanow

    Drei

    Ein Kaminfeuer

    Zwei

    Ein Feuerwerk

    Eins

    Erinnern Sie sich noch?

    Ein Krankenhaus

    SMS

    Mond

    Ein Lederarmband

    Heimat

    Ein Winter

    Null

    Prolog

    Victor

    Am Bahnhof stand die Zeit still, dachte er und zündete sich eine Kippe an. Niemand fuhr hierher, einige vereinzelte Reisende waren auf dem Weg fort von hier. Ein älterer Herr in einem Anzug, der ihm im Laufe der Jahre viel zu groß geworden war, der ständig auf seine Rolex schaute und den Kopf schüttelte. Ein junges kaugummikauendes Mädchen in Netzstrümpfen, das sich gegen die Ticketautomaten lehnte und auf den Bildschirm ihres Smartphones starrte. Auf den Bahnschienen hüpfte eine Amsel umher und pickte an den Gräsern.

    Er saß verborgen in den Halbschatten der Wälder um den Bahnhof herum. Die Reisenden erahnten seine Anwesenheit nicht. Er kam sich manchmal nichtexistent vor, wie ein Phantom, das nur in seinem eigenen Kopf existierte. Auf seinem Schoß lag eine zerknitterte Zeitung, die er aus dem Müll gefischt hatte. Die freien Stellen hatte er mit Bleistiftskizzen versehen.

    Das billige Wegwerfhandy vibrierte in seiner Jeanstasche. Er zog es heraus und las auf dem Bildschirm den Namen des Anrufers. Schon wieder sie.

    Er zögerte einen Moment lang, konnte es ihr jedoch nicht antun, nicht ranzugehen. »Ja?«

    Stille. Er hörte nur ihr Weinen im Hintergrund. Offenbar traute sie sich nicht, mit der Sprache rauszurücken. »Wo bist du?«, fragte er vorsichtig.

    »Auf einem Klo an der Autobahn, ich weiß nicht mehr wo, ich weiß nicht -«, ihre Stimme zitterte, bald fragte sie, was sie immer fragte, wenn sie ihn anrief, »kannst du vorbeikommen, bitte, Victor? Mir ist so schlecht, mir tut alles weh, bitte, bitte …«

    Er schwieg, wisperte schließlich in den Hörer: »Ich bin am Bahnhof.« Ablehnen konnte er nicht. Dafür tat sie ihm zu leid.

    »Suchst du schon wieder nach Passanten, die du beklauen kannst?«

    Er lächelte. »Du kaufst dir von dem gestohlenen Geld ja auch immer diese furchtbaren Lippenstifte.«

    Sie lachte, es war ein negatives Lachen, wie alles an ihr. Ihre ganze Persönlichkeit war durchzogen von einer Art Traurigkeit. Mit jedem Schritt, den sie ging, schaufelte sie sich ein tieferes Grab, dachte er.

    »Ich habe Petzold versprochen, heute Abend im Restaurant auszuhelfen«, überlegte er laut, »dem kann ich nicht so einfach absagen, du kennst ihn. Sonst wird er uns das nächste Mal rausschmeißen, wenn wir dort wieder Reste schnorren gehen.«

    Sie seufzte und weinte wieder los, mit einem Mal, so war es immer bei ihr, wenn sie nicht bekam, was sie wollte, und wenn sie sich in den kranken Winkeln ihres Kopfes verlor. »Okay«, keuchte sie unter Tränen. »Ist schon okay. Das verstehe ich. Du hast Pläne.«

    Er erinnerte sich daran, was das letzte Mal passiert war, als er sie in so einem Moment im Stich gelassen hatte. Nein. Er konnte nicht zu Petzold gehen, nicht an diesem Abend, vielleicht gab er ihm ja noch eine Chance nächste Woche oder so. »Wo genau bist du?«

    Nach mehreren Anläufen, die nach asthmatischen Anfällen klangen, nannte sie eine Adresse mehrere Kilometer weit weg. »Das ist der letzte Ort, an den ich mich erinnere«, beendete sie ihren Satz.

    Er pfiff durch seine Zähne. »Wie bist du dahin gekommen, verdammt?«

    »Mit dem LKW, ein Fahrer hat mich mitgenommen, ich wollte nach Köln. Doch dann hat er mich einfach rausgeschmissen, als als …« Sie hatte erneut Heulkrämpfe, ihre Stimme klang mehrere Oktaven höher als sonst, sie klang wie ein kleines Mädchen, das sein Zuhause verloren hatte. »Ich wollte weg von denen. Ich hasse sie.«

    Sie sprach von ihrer Pflegefamilie, die er bisher noch nicht getroffen hatte. Von all dem, was er über sie gehört hatte, mussten sie extrem scheiße sein. Sie bekam von ihnen nur eine Mahlzeit pro Tag, hungerte die restlichen Stunden oder bettelte in der Innenstadt mit ihm. Sie schlief auf einer Matratze in der Abstellkammer, eingepfercht zwischen Staubsauger und Müllsäcken, bekam natürlich kein Taschengeld und musste sich die Klamotten aus den Altkleider-Containern zusammen klauen.

    Es wunderte ihn nicht, dass sie so verkorkst war.

    »Ich bin gleich da, ja, dauert vermutlich eine halbe Stunde oder so, ja? Tu nichts, bis ich bei dir bin. Ich liebe dich, das weißt du, oder? Du hast mich, du wirst mich nie verlieren, du brauchst nur einige Minuten lang auf mich zu warten. Schließ die Augen, bis ich bei dir bin, tu nichts. Ruh dich aus.«

    »Ich bin in der dritten Kabine, links«, stöhnte sie und klang müde, »beeil dich bitte, ich halte es nicht länger aus.«

    »Ja.« Er legte auf, fluchte und stand auf, faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und steckte sie in seine Jackentasche. Wie sollte er nur bis dahin kommen? Er hatte kein Geld für ein Ticket bei sich, konnte er sich was von Petzold leihen? Er rief ihn an, doch der Restaurantbesitzer ging nicht ran. Er fuhr sich mit den kalten Händen übers Gesicht.

    Schließlich rannte er los, aus dem Wald hinaus, in Richtung der Straße. Einige Minuten später stand er an einer Bushaltestelle und streckte den Daumen nach rechts. Er musste denselben Weg nehmen wie sie, um zu ihr zu gelangen, obwohl er sich geschworen hatte, das nie wieder zu tun.

    Zu viele schlechte Erfahrungen.

    Am Himmel prangte der Mond, wie angeheftet, verteilte sein silbriges Licht auf die angrenzenden Häuser, in denen einige von ihren Mitschülern wohnten. Sie lagen in ihren heimeligen Betten, zockten an ihren teuren PCs, mit vollem Bauch, während er auf eine Fahrt ins Nichts wartete, hungrig.

    Bis auf ein paar schwarz gewordene Bananen, die er aus dem Müllcontainer eines Supermarkts mitgenommen hatte, und einer abgelaufenen Flasche säuerlicher Milch hatte er an diesem Tag nichts gegessen.

    Er fror in seiner Regenjacke. Darunter trug er ein Hemd von früher, das sie ihm in der Kleiderspende im Obdachlosenheim geschenkt hatten, und eine Jeans von Primark, die er sich im letzten Jahr für fünf Euro in Bochum gekauft hatte, als er dort mit ihr drei Wochen lang abgehauen war. Seitdem hatte er sie beinahe jeden Tag getragen und genauso sah sie auch aus, verschlissen, dreckig, die Hosenbeine voller getrockneter Erde und Schlamm. Am Hosenbund lösten sich einige Fäden, er trug keinen Gürtel, obwohl ihm die Hose mittlerweile zu groß geworden war. Er hatte sie mit einem Schnürsenkel, den er um die Hüfte geknotet hatte, befestigt. Ziemlich erbärmlich eigentlich.

    Ausgerechnet jetzt fing es an zu schütten. Die Bushaltestelle hatte zu seinem Pech kein Häuschen, er stellte sich unter einen Baum, dessen Blätter dabei waren, auszufallen. Scheiß Herbst, dachte er. Er hasste diese Jahreszeit, wenn er nachts nicht mehr draußen schlafen konnte. Wie im Juli neben ihr im Park, wo sie eine Decke ausgebreitet und unter dem freien Himmel geschlafen hatten, an dem wie an einer Pinnwand der Mond »schief« hing. So hatte sie es jedenfalls behauptet, sie meinte erkennen zu können, wann der Mond »schief« war.

    Manchmal wunderte er sich darüber, wie sehr sie spinnen konnte.

    Als ein Auto vorüberfuhr, trat er in das Licht der Scheinwerfer auf den Bürgersteig, damit der Fahrer ihn im Regenschauer entdeckte, spannte seinen Körper an und wartete. Tatsächlich trat der Fahrer auf die Bremse, fuhr langsamer an ihm vorbei, schien ihn aus dem Auto heraus zu beobachten. Dann, als er direkt bei ihm war, trat er aufs Gas und bog scharfkantig in die nächste Straße ab.

    »Arschloch«, murmelte Victor und flüchtete zurück zu seinem Baum. Jetzt waren bereits zweiunddreißig Minuten vergangen, stellte er auf seinem Handy fest.

    Er überlegte einen Moment lang, ob er bei ihr anrufen sollte, um zu sehen, ob es ihr besser ging. Er entschied sich dagegen, um sie nicht unnötig aufzuregen. Vielleicht bekam sie ja in ihrem Zustand gar nicht mit, wie viel Zeit bisher vergangen war.

    Nachdem er noch einmal bei Petzold angerufen hatte, der immer noch nicht ans Telefon ging, wartete er weiter mit verschränkten Armen. Um sich irgendwie aufzuwärmen, zündete er sich eine weitere Kippe an und starrte in die Finsternis, über die Lichttupfer der anderen Häuser hinweg, in denen irgendwelche Familien saßen und vielleicht fernsahen.

    Alles Spießer, dachte er und beneidete sie im selben Moment.

    Als irgendwann - er hatte selbst die Zeit vergessen, vermutlich war es längst nach Mitternacht - ein Auto vor ihm hielt und ihn der Fahrer dazu einlud einzusteigen, wischte er seine Bedenken beiseite und riss die Tür auf.

    Hauptsache, er stand nicht länger im verdammten Regen.

    Was danach passierte, lag sowieso nicht in seiner Macht.

    Ein stereotyper Anfang

    Resa

    Hass.

    Ein Anfang mit dem Gefühl von Hass konnte kein guter Anfang sein.

    Und dennoch empfand sie nur das, hinten im Auto, eingequetscht zwischen den Umzugskartons und der Perserkatze ihrer Mutter Juliane, die in ihrer Transportbox gerade Tobsuchtsanfälle vor Panik erlitt. Die Katze, nicht Juliane.

    Aus den Lautsprechern der Musikanlage dröhnte ein Opernkonzert. Die Schreie der Sängerin vermischten sich mit dem Motorgeheul des alten Mercedes und dem Gekreische der Katze. Über den Lärm hinweg diskutierten Juliane, die auf dem Beifahrersitz mit der zerknitterten Landkarte kämpfte, und Daniel, ihr Stiefvater, der am Steuer saß und sich weigerte, Passanten nach dem Weg zu fragen.

    »Nein, Schatz … diese Straße führt in eine Sackgasse, glaub mir«, stöhnte Juliane zum vermutlich siebten Mal und schlug sich gegen die Stirn.

    »Du hast ja keine Ahnung«, knurrte Daniel und wendete den Wagen trotzdem, scharf nach rechts.

    Die Reifen schlitterten über den regennassen Asphalt, die Katze warf sich mit einem Fauchen gegen die Tür ihrer Box, die mit einem Gitter versehen war, pinkelte auf die mit Leder bezogenen Autositze.

    »Keine Angst«, wisperte ihr Resa zu und wischte den Urin mit Daniels Jacke ab, die er auf einem Karton abgelegt hatte, natürlich nur, weil sie sonst nichts zur Verfügung hatte.

    Die Straße, in die er abgebogen war, verschluckte jegliches Abendlicht. Es war so düster, dass Daniel das Fernlicht einschaltete und die Augen zusammenkniff und sich über das Lenkrad beugte, um die Umgebung besser erkennen zu können. Er weigerte sich noch immer, eine Brille beim Autofahren zu tragen, weil er meinte, dass das seine Augen nur noch kaputter machte. Was natürlich Schwachsinn war.

    Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren kaum beleuchtet, die Jalousien heruntergezogen. Einzig irgendwo in der Ferne lief ein Fernseher, das wechselnde bunte Licht war die einzige Lichtquelle bis auf ihren Wagen. Davor standen Bäume, deren Herbstblätter durch den Wind segelten und sich auf ihren Scheiben und ihrem Autodach niederließen. Mit dem Fuß auf der Bremse fuhr Daniel ruckelnd vorwärts, in Schrittgeschwindigkeit, suchte nach irgendwelchen Hinweisen, Straßenschildern oder sonst was.

    Stets ein Fluch auf den Lippen.

    Die Katze winselte, ihr Körper verschmolz mit der Dunkelheit, nur ihre Augen glänzten durch die Gitter.

    »Resa, Liebling, kannst du nicht mal die Navigationskarte oder dieses Dings auf deinem Smartphone einschalten?«, fragte Juliane und zog damit den Hass von Daniel auf sich.

    Noch mehr Hass.

    »Nein«, sagte er, »Juli, ich kenne den Weg. Ich bin doch schon einmal hier lang gefahren, ich brauche keine Navigationstante, die mir mit ihrer automatisierten Stimme erklärt, wohin ich muss. Die Menschen haben sich schon zweitausend Jahre ohne so einen Mist zurechtgefunden, ich brauche das nicht.«

    Resa hatte die Funktion ihres Smartphones längst eingeschaltet und wusste, dass sie sich mit jedem Meter mehr von ihrem Zielpunkt entfernten, von der Adresse, von dem Haus, das Daniel für fünfunddreißigtausend Euro bei einer Zwangsversteigerung gekauft hatte.

    Das Haus musste komplett renoviert werden. Das hatte er sich zur Aufgabe erklärt, jetzt, da er wegen eines Burn-outs ein Sabbatjahr genommen und den Lehrerberuf für zwölf Monate seines Lebens an den Nagel gehängt hatte.

    Juliane seufzte und lehnte sich zurück, zerknüllte die Karte auf ihrem Schoß. Die Karte hatte sie zuvor heimlich an einer Tankstelle auf der Autobahn gekauft, mit der Ausrede, sich Tampons besorgen zu müssen.

    Daniel trat auf die Bremse, befreite sich von seinem Gurt und riss die Autotür auf. Er sprang auf die Straße und murmelte eher zu sich selbst: »Das kann doch gar nicht sein. Das ist doch …«

    Im Licht der Autoscheinwerfer wirkte er wie ein verwirrter Pinguin. Sein karierter Pullover steckte zur Hälfte in seiner Hose, seine Schuhe waren schlammbespritzt und seine Hose zur Hälfte hochgekrempelt, sodass seine weißen Socken sichtbar waren. Er hatte sich seit Wochen nicht mehr rasiert - seit die Sommerferien angefangen hatten -, doch wegen seines spärlichen Bartwuchses war auf seinem Kinn nur ein unidentifizierbarer blonder Flaum zu sehen.

    »Daniel, jetzt steig wieder ins Auto«, bat Juliane durch das Beifahrerfenster.

    Er schüttelte den Kopf, marschierte mit den Händen in den Hosentaschen um das Auto herum, mitten auf der Straße, als ob er dadurch einen besseren Überblick gewann.

    Nachdem er einige Minuten an der frischen Luft über den weiteren Weg philosophiert hatte, kehrte Daniel zurück und ließ sich auf den Fahrersitz fallen, kaute auf seiner Unterlippe herum und sagte plötzlich: »Das ist alles deine Schuld, Juli, du hast mich mit deinen Einwänden komplett durcheinandergebracht. Wenn du nur diese Karte nicht gekauft hättest … Das hat negative Energie in mir freigesetzt, jetzt mal im Ernst, Juli.«

    Juliane seufzte, fragte: »Ach, ja?« Dann nahm sie die Karte zwischen ihre Finger, riss das Papier stückchenweise auseinander, ließ die Fetzen durch das offene Beifahrerfenster mit dem Wind davonfliegen. Das dauerte etwa drei Minuten lang, mit dramatischer Opernmusik und Katzengejaule unterlegt. In diesen drei Minuten sagte niemand etwas, nicht einmal Daniel, der mit einem Mal komplett stumm war und die trockene Haut seiner Unterlippe blutig biss.

    »Jetzt habe ich die negative Energie in dir ausgelöscht, Schatz«, sagte Juliane mit süßlicher Stimme, »jetzt wirst du den Weg bestimmt finden.« Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören, selbst für jemanden wie ihren Stiefvater nicht.

    Resa schloss die Augen und wappnete sich für die dritte Runde Streit an diesem Abend.

    Daniel: »Und du …«

    Pink Floyds Wish you were here in ihren eingestöpselten Kopfhörern sperrte alles aus, jegliches Geräusch, jegliche sinnlose Diskussion, die vorne im Wagen geführt wurde. Resa ließ sich von der Melodie mitreißen, wippte im Takt mit den Schuhen, blinzelte aus dem Fenster hinaus.

    In der Scheibe spiegelte sich die rechte Hälfte ihres Gesichts, wirkte merkwürdig verzerrt, ihre dunkelblonden langen Haare verdeckten ihr Auge. Der rote Nagellack an ihren Fingerspitzen war abgesplittert, sie kratzte weiter daran, während sie der Musik lauschte und irgendwann spürte, wie der Wagen wieder losfuhr.

    Daniel brauchte mehrere Anläufe, bis er sich aus der Sackgasse befreite und den Wagen den Weg zurücklenkte, den Weg entlang, den sie bereits gekommen waren. Es war 21 Uhr. Sie waren seit genau acht Stunden unterwegs, von Berlin durch die Autobahn bis nach Niedersachsen und weiter. Sie hatten ein einziges Mal gehalten, um eine Toilettenpause zu machen. Nach Resas Berechnungen kamen sie vermutlich erst um 23 Uhr an ihrem neuen verfallsnahen Zuhause an und mussten sich dort erst zwischen Spinnweben und Rattenkot und Staub ein Schlaflager aus alten gebrauchten Matratzen bauen.

    Sie ließ ihren Kopf nach vorne sacken und strich mit ihrer schmerzenden Stirn die kalte Fensterscheibe entlang. Einige Sekunden lang tat es gut, dann wurden ihre Kopfschmerzen wieder schlimmer.

    »Hast du noch Ibuprofen?«, krächzte sie in Richtung des Beifahrersitzes und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren.

    »Klar, Engelchen.« Juliane begann, in ihrer Handtasche zu kramen, zog mehrere Packungen Taschentücher heraus, einen Lippenpflegestift, ein Notizbuch mit vollgekritzelten Seiten, etliche Kassenbons.

    »Ist das wirklich so eine gute Idee?«, fragte Daniel leise, so leise, dass er offenbar von Resa nicht gehört werden wollte. Leider ohne Erfolg. »Du machst sie noch abhängig von diesen ganzen Schmerzmitteln. Sie muss sich nur die Beine vertreten, dann geht es ihr wieder besser.«

    Juliane seufzte, zuckte mit den Schultern und zog einen Blisterstreifen hinter einem Deodorant hervor. »Es geht ihr nicht gut, Schatz.« Mit dieser knappen Erklärung reichte sie eine Tablette nach hinten, ließ sie in Resas offene Handfläche fallen.

    »Es geht ihr nie gut, Juli.«

    »Sie ist siebzehn«, sagte Juliane nur, als ob das die Begründung für alles war.

    Resa hasste es, wenn sie über sie sprachen, wenn sie selbst dabei war. Immer mit diesem besorgten Unterton von Daniels Seite, als ob mit ihr etwas nicht stimmte und sie Hilfe brauchte. Dabei war er es doch, der eine Therapie nötig hatte.

    Sie warf die Tablette in den Mund, spülte sie mit dem letzten Rest ihrer Mineralwasserflasche herunter.

    Die Katze starrte sie dabei mit offen gerissenen Augen an. Sie war ein schwarzes Exemplar, mit platter Nase durch die Überzüchtung, hatte dadurch Probleme mit der Atmung und schnaufte auch jetzt am Gitter. Sie versuchte, mit letzter Kraft nach draußen zu gelangen. Juliane hatte sie vor genau sieben Monaten aus dem Tierheim adoptiert, eine schwarze Katze, weil die Tiere in dieser Farbgebung am wenigsten Chancen hatten. Da spielte der Aberglaube bei manchen Leuten immer noch eine große Rolle. Bei Juliane jedoch nicht.

    Nach einer weiteren Dreiviertelstunde hielten sie erneut an.

    Daniel drehte die Opernmusik leiser, atmete hektisch ein und aus und verkündete: »Wir sind da. Wir sind da.« Er schien es selbst nicht fassen zu können. Er stieg aus dem Auto, suchte mit zitternden Händen in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel, rief »Oh!« und öffnete die hintere Tür. »Hast du meine Jacke gesehen, Theresalein?«

    Theresalein. Sie hasste es, dass er sie so nannte, dass er sie behandelte wie ein vierjähriges Kind. Wenn er so mit seiner Klasse umgegangen war, wunderte es sie nicht, dass seine Schüler ihn vorsätzlich bis zum Burn-out gemobbt hatten.

    »Hier.« Sie reichte ihm seine mit Katzenurin durchtränkte Jacke.

    »Oh, hast du versehentlich etwas verschüttet?« Er roch an der Kapuze der Jacke und verzog angewidert das Gesicht.

    »Versehentlich«, log Resa.

    An der Innenseite der Jacke war eine Tasche, deren Reißverschluss er aufzog. Ein Schlüsselbund kam zum Vorschein. Er klapperte triumphierend damit, warf seine Jacke zurück auf die Umzugskartons auf dem Rücksitz.

    Dann spazierte er über die verdorrte Wiese zu dem Trümmergerüst, das ihr neues altes kaputtes Zuhause werden sollte.

    Während er dort auf der überdachten Veranda mit dem Schlüssel hantierte, weit weg von ihnen, sie somit nicht mehr hören konnte, murmelte Resa zu ihrer Mutter: »Das ist es also.«

    Juliane schluckte laut hörbar. »Mhm«, sagte sie. Und zwang sich zu einem anschließenden vernuschelten: »Schön, nicht wahr?«

    »Dafür müssen wir alles zurücklassen.«

    »Ja, Resa. Es wird alles gut, Resa.«

    Juliane schien die unausgesprochenen Worte zwischen ihnen nicht länger zu ertragen. Sie riss die Tür auf und stieg mit schwankenden Beinen aus. Draußen streckte sie den Rücken durch und legte den Kopf in den Nacken. Sie blinzelte in den nicht vorhandenen Sternenhimmel. »Komm, steig aus. Die Luft hier ist so rein.« Sie atmete tief durch, ihre Brust hob und senkte sich dabei.

    In einem Nachbarhaus brannte Licht.

    Die Gardinen waren nicht zugezogen. Hinter dem Fenster lief eine weißbekittelte Frau mit einem Tablett und Teetassen umher. Die Äste der Weide, die vor dem Haus stand, schlugen gegen die Scheibe. Ein alter Mann mit nacktem Oberkörper erschien vor dem Fenster. Seine grauen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Sobald er das Auto entdeckte, riss er die Faust hoch und zeigte ihnen den Mittelfinger.

    Genau in diesem Moment rannte seine Pflegerin herbei und riss ihn vom Fenster weg, ohne dass Juliane etwas davon mitbekam. Juliane, die weiterhin die nicht vorhandenen Sterne begutachtete und die saubere Luft durch ihre von Berliner Abgasen verschmutzten Lungen strömen ließ.

    Die Frau im Nachbarhaus zog hastig die Gardinen zu.

    Die Katze auf dem Rücksitz schnaufte weiterhin.

    Daniel kehrte mit einem Grinsen zu ihnen zurück und sagte: »Es ist auf. Und es ist wunderbar. Bitte folge mir, Juliane Volkers. Und du bitte auch, Theresalein Volkers. Gehen wir in unser neues Zuhause. Wir werden eine wahnsinnige Zeit haben.« Er legte Juliane den Arm um die Schulter und spazierte mit ihr über die verdorrte Wiese weiter zur Veranda.

    Resa stieg ebenfalls aus, leicht widerwillig, die Transportbox mit der eingenässten Katze in der Hand. Sie nahm sich vor, dass dieser nichtssagende Ort am Rande von Nichts niemals ihr neues Zuhause werden würde.

    Eher haute sie ab.

    Abdul

    Victor

    Der Fahrer war ein etwa fünfzigjähriger Pakistaner, dessen Auto nach Räucherstäbchen und Rosenwasser roch. Aus seinem Radio drangen Sitarklänge, am Vorderspiegel hing eine Gebetskette. Er sprach gebrochen Deutsch, sein Akzent war so stark, dass er sich mehrmals verhaspelte. »Ja, okay«, sagte er, nachdem Victor ihm erklärt hatte, wohin er unterwegs war, »ich auch dahin.« Sein Name war Abdul, seine Hände über dem Lenkrad waren komplett schwarz behaart, selbst an den Fingern.

    Die Radiouhr lief zurück, war wohl seit Monaten in der Winterzeit hängen geblieben.

    Victors Jeans war durchnässt. Er fror. Aber im Auto, einem Fiat aus den Neunzigern, schien es keine Klimaanlage zu geben. Vor seinen Schuhen stapelten sich Mülltüten und Pfandflaschen.

    »Sorry«, entschuldigte sich Abdul, sobald er seinen Blick bemerkte, »keine Zeit aufzuräumen.«

    Victor kurbelte das Fenster herunter, trotz der Kälte, weil er den Geruch nach Räucherstäbchen nicht länger ertrug.

    Abdul registrierte das mit einem Seitenblick, sagte jedoch nichts. Er fuhr das ruckelnde Auto über eine Brücke. Der See darunter glitzerte im Licht der Straßenlaternen. Die Motorgeräusche waren so laut, dass sie die hauchfeine Musik aus dem Radio übertönten. Bei jedem Schaltvorgang begann das Auto

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