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Xhamile: Wo niemand hinsieht
Xhamile: Wo niemand hinsieht
Xhamile: Wo niemand hinsieht
eBook259 Seiten3 Stunden

Xhamile: Wo niemand hinsieht

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Über dieses E-Book

Die Geschichte erzählt von Erpressung, verbotenen Eizellspenden, illegaler Leihmutterschaft, von Freundschaft, Treue und Verrat.
Xhamile ist schwanger. Sie will mit der Schwangerschaft nicht nur viel Geld verdienen, sondern endlich einen legalen Aufenthaltsstatus für Deutschland bekommen.
Doch das Kind ist behindert. Die Auftraggeberin des Kindes fordert die Abtreibung. Ihr Mann allerdings ist unsicher und entwickelt mehr und mehr Skrupel.
Xhamiles Freundin Florentina braucht dringend Geld für eine Operation. Geld, das sie von den künftigen Eltern erpressen will.
Ein tödlicher Konflikt bahnt sich an.
In diesen werden Kerstin und ihre Freundin Martina verwickelt, die mit zwei kleinen Kindern in Kreuzberg wohnen. Die beiden versuchen Xhamile und Florentina zu helfen, wobei sie blind und gutgläubig zwischen alle Fronten geraten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. Juni 2020
ISBN9783752958843
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    Buchvorschau

    Xhamile - Sabine Drangsal

    Xhamile

    Titel Seite

    Xhamile

    In ihrer Situation war es gewiss von Vorteil, wenn sie wusste, wo die künftigen Eltern ihres Kindes wohnten und arbeiteten. Xhamile hatte die Adressen aus einem Impuls heraus fotografiert, ohne besondere Absicht. An diesem Tag hatte sie im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung viel zu lange im Sprechzimmer der Ärztin warten müssen. Mehr aus Langweile denn aus wirklichem Interesse hatte sie, als sich die Zeit immer mehr wie zäher Schleim hinzog, deren Handtasche unter dem Schreibtisch geschnappt und darin gekramt. So hatte sie nicht nur die Privatadresse der Ärztin fotografiert, sondern auch die Adresse ihres Mannes. Wofür sie diese brauchen könnte, war Xhamile nicht klar.

    Dass sie beides schon bald skrupellos nutzen würde, ahnte sie an diesem Tag nicht.

    Als Xhamile nach der Untersuchung dann endlich auf die Straße trat, kam der Schwindel, den sie in der Praxis noch unter Kontrolle gehabt hatte. Sie ging leicht in die Knie, stützte ihre Arme auf die Oberschenkel und atmete tief durch. Dann lief sie zum Checkpoint Charlie, um dort in die U 6 einzusteigen. Der ehemalige Grenzübergang zog wie immer Horden fröhlich schwatzender Berlinbesucher an und sie kämpfte sich mühsam die schmale Treppe hinunter zum Bahnsteig.

    „Sorry, do you know which way the Brandenburgtor is?", fragte ein Mittvierziger mit der naiven Freundlichkeit eines Menschen, der schon immer seinen Platz im Leben hatte. Er rollte das R auf die typisch unerträgliche Weise eines Amerikaners.

    Eine neue Welle der Übelkeit brandete an. Rasch wandte sich Xhamile zur Seite. Der Mann zog erstaunt die Augenbrauen nach oben, dann, in der sicheren Annahme, dass man ihn missverstanden hatte, nahm er einen erneuten Anlauf.

    „Sorry, Brandenburgtor?", brummte sein tiefer Bariton.

    Xhamile starrte ihn an, dann übergab sie sich in einem hohen Schwall auf seine Füße. Das Erbrochene spritzte und sie sprang schnell zur Seite. Mit dem Jackenärmel wischte sie sich den Mund ab und lief ans andere Ende des Bahnsteigs, der einfahrenden U-Bahn entgegen. In der Bahn fand sie einen Eckplatz und sank kraftlos in sich zusammen, unsichtbar, den Kopf nach vorne geneigt. Sie roch ihren sauren Atem, spürte Druck auf der Blase. Seit sie schwanger war, musste sie ständig aufs Klo.

    Xhamile zog ihr Handy aus der Jacke, steckte es jedoch gleich wieder weg, da sie mit einer neuerlich anbrandenden Welle von Übelkeit fertig werden musste. Sie schluckte schwer und konzentrierte ihren Blick auf eine Werbung für Busfernreisen. Göteborg. Toulouse. Florenz. Am Mehringdamm stieg sie in die U 7, fuhr bis zum Hermannplatz und setzte sich dann in die U 8.

    Die Bahn war voll. Klaustrophobisch voll.

    Eine Frau presste sich vor ihrem Sitzplatz und die Einkaufstüten schrammten immer wieder Xhamiles Knie. An der Frau hing ein Geruch wie der von feuchtem Dampf aus einer Wäscherei gemischt mit dem süßlichen Dunst aus den Schornsteinen der Schokoladenfabrik in Tempelhof. Xhamile stand auf, stieß die Frau mit einer sie selbst überraschenden Heftigkeit zur Seite, drängte sich hastig zwischen viel zu vielen Menschenleibern, die ihr als wabernde, träge Masse den Weg in Freie zu versperren drohten, zur Waggontür. Aus den Lautsprechern ertönte bereits das Türen schließen selbsttätig. Vorsicht bei der Abfahrt! Im letzten Moment sprang sie auf den Bahnsteig, folgte einer Gruppe junger Türken zur Treppe und wurde oben in die Schönleinstraße gespült. Am U-Bahnausgang standen zwei Kleindealer. Sie schob sich an ihnen vorbei, tauchte in die Menge, ließ sich treiben.

    Da erst fiel ihr ein, dass sie ohne Fahrschein unterwegs gewesen war, und wieder machte ein Gefühl der Enge ihrem Magen zu schaffen. Entschlossen lief sie den Kottbusser Damm entlang Richtung Maybachufer. Die Bewegung und die frische Luft taten ihr gut. Die Übelkeit löste sich langsam auf. Sie schlenderte an Mäc-Geiz und Ein-Euro-Geschäften, Backparadiesen und Kebabgrills vorbei, überquerte die Ampel vor der Brücke und gelangte schließlich zum Maybachufer. Es war Dienstag, Markttag, kurz vor sechs. Um diese Uhrzeit wurden Obst und Gemüse immer zu Schleuderpreisen weggegeben.

    Menschen mit gefüllten Plastiktüten drängten sich an der Ampel, Transporter rangierten in der Einfahrt zum Marktufer und verpesteten die Luft mit ihren Abgasen, Türme aus jetzt leeren Obst- und Gemüsekisten stapelten sich hinter den Ständen. Xhamile hatte noch fünf Euro in der Tasche. Die würden genügen. Sie verlangsamte ihr Tempo, ließ sich mit der Menge treiben. An einem Stand wurde ihr eine Kiste Avocados für zwei Euro angeboten, zwei Kilo Tomaten für eins fünfzig, kleine gekrümmte Gurken, Paprika, Kakis, Papayas. Vor ihr verstopfte eine Frau mit ihrem Fahrrad den Weg, das sie durch die Menge schob. „Als ob es nicht schon voll genug wäre. Scheiß Fahrräder!, blaffte eine andere. Jemand stieß mit seinem Buggy schmerzhaft an Xhamiles Knöchel. „Pass doch auf, du Kuh!, fauchte Xhamile böse.

    Die Frau mit dem Fahrrad blockierte ihr den Weg, als sie an einem Biostand Äpfel, Kartoffeln und drei Bund Petersilie kaufte. Xhamile betrachtete die Auslage und wunderte sich, warum jemand für dieses verschrumpelte Zeug so viel Geld ausgab. Typisch Ökotussi. Sie wartete jedoch geduldig, bis die Radfahrerin bezahlt hatte und den Weg frei gab. Xhamile schob sich langsam durch das Gedränge. Am nächsten Stand kaufte die Frau mit dem Rad eingelegte Oliven und diverse Pasten, Kapern, Brot und dann eine ganze Kiste Auberginen. Xhamile beobachtete, wie die Frau ihre Börse in die Jackentasche schob, ihren Einkauf in die Satteltasche packte, dann das Fahrrad an der Hüfte balancierte, um die Auberginenkiste auf den Gepäckträger zu klemmen. Als das Rad zu kippen drohte, griff Xhamile entschlossen zu, packte das Rad mit der Linken und mit der Rechten den Spanner des Gepäckträgers. Erstaunt sah die Frau nach oben und lächelte dankbar.

    „Oh Mensch, vielen Dank für Ihre Hilfe! Ich hab wie immer viel zu viel gekauft. So viele Auberginen." Xhamile nickte, ging schon weiter und winkte ihr im Weggehen zu.

    Den schmalen Pfad zwischen dem Blumenstand und dem Wagen eines Geflügelhändlers nutzend, verließ sie die schmale Gasse der Verkaufsstände und trat zwischen zwei Türme aus Gemüsekisten, die mit Folie umwickelt waren. Aus dem Jackenärmel zog sie die Geldbörse der Radfahrerin, nahm das Bargeld, immerhin sechzig Euro plus Kleingeld, steckte es in die Hosentasche. Dann ließ sie die Börse achtlos zwischen vergammelte Bananen und Pfirsiche fallen und lief auf die andere Straßenseite.

    Von dem Geld kaufte sie Hühnerlebern, Tomaten, Apfelsinen, Käse und Paprika. Dann gönnte sie sich ein Gözleme, dessen warmer Geruch ihre aufgewühlten Sinne beruhigte, und eine Flasche frisch gepressten Orangensaft am Stand von jungen Geflüchteten. Schließlich schleppte sie zwei prall gefüllte Plastiktüten zur U-Bahn und fuhr nach Hause.

    Welche Farbe sehen wir am häufigsten? Blau oder Grün? Oder Schwarz? Wie die Nacht? Nein, Schwarz zählt nicht. Wälder, Wiesen, Büsche, Schimmel über dem Käse. Ekelgrün, Laubgrün, Smaragdgrün, Giftgrün, wie die leuchtende Urwaldkröte, die mit ihrem Speichel ihre Feinde bespuckt, woran die dann elend eingehen. Die Fressfeinde.

    Blau ist das Meer, der Himmel, das Schwimmbad. Azur. Aquamarin. Kobaltblau.Ich tendiere zu Grün. Immerhin wohnen wir nicht am Meer, noch nicht mal an einem See. Der künstlich angelegte Tümpel in der Hasenheide oder der Landwehrkanal zählen nicht. Außerdem ist das Wasser dort nie blau. Noch nicht mal bläulich. Eher grün, schmutziggrau, bräunlich, manchmal lila und orange bei Sonnenaufgang. Meist aber ist das Kanalwasser schlackgrau. Und nicht nur das Wasser, auch der Himmel. Ja, selbst das Meer. Bleierne Häuserfronten. Nebel auf dem See. Graue T-Shirts. Nebelschwaden über den Wiesen an einem Herbstmorgen. Regen, Nieselregen, Dauerregen, auch wenn es den in Berlin eigentlich nicht gibt. Dunkelgraue Gewitterwolken, die sich über silbergraue Schlieren schieben, jagendes Granitgrau auf zartgrauem Grund. Fahle Spiegelbilder in Pfützen, die die Welt verdoppeln.

    Grau also. Ein Glück. Ich mag Grau.

    Ich lag auf einer Wiese auf dem Tempelhofer Feld, dem ehemaligen Flughafen, der schon seit Jahren für die Berliner geöffnet war, ohne dass dort etwas gebaut oder verändert worden war. Ein Geschenk grenzenloser Weite im Herzen Berlins. Über mir eine wuchtige Buche, deren Blätter sich im Wind wiegten, dazwischen ein heller, silbergrauer Himmel. Die Kinder kreischten vergnügt aus einem unweit gelegenen Gebüsch.

    „Mensch, wieso gehst du denn nicht an dein Handy? Ich hab euch eine Ewigkeit gesucht!" Martina ließ sich auf das Gras fallen und schubste mich unsanft.

    „Hrumpf", brummte ich.

    „Hast es mal wieder leise gestellt!"

    Da ging sie hin, meine Meditation in Blassgrau.

    An diesem Tag hatte ich frei, die Kinder aus dem Kinderladen abgeholt und war mit ihnen aufs Tempelhofer Feld gegangen. Das Leben von Großstadtkindern ist ja ein bisschen erbärmlich, eingepfercht zwischen Häuserfronten, Feinstaub und vollgekackten Grünflächen. Die Weite des Himmels, das Summen der Hummeln in den Büschen und der Geruch von trockenem Gras wenigstens sollten ihnen wenigstens eine Ahnung davon verschaffen, dass die Welt mehr als nur Stadt sein kann.

    „Du, Kerstin? Martinas Stimme war wieder sanft geworden. „Ich würde gleich den Bürodienst übernehmen. Da ist jemand krank geworden. Könntest du die Kinder….? Eine Wolke dunkleren Graus schob sich vor die bereits verdeckte Sonne dieses Septembertages. Könnte ist ein Konjunktiv, lässt also zumindest sprachlich die Wahl. Könnte, könnte nicht.

    „Also eigentlich wollte ich später noch ins Kino." Eigentlich hingegen ist ein dämliches Wort, damit wird mein Nachgeben sprachlich schon vorweggenommen. „Oh je", sagte Martina.

    Schweigen.

    Die dunkle Wolke gab den spatzengrauen Himmel wieder frei. Eine Handvoll Krähen flogen kreischend über uns hinweg. Ich schnipste vorsichtig eine kitzelnde Ameise von meiner Hand.

    „Der Film ist sowieso nicht gut besprochen worden, seufzte ich ergeben. Bürodienst von Martina, das war die Sprechstunde im mediBüro, das für Menschen ohne Papiere und ohne Krankenversicherung medizinische Hilfe organisierte. Martina hatte dort während ihres Mutterschutzes angefangen. „Ich brauche irgendwas neben den Kindern, was Sinnvolles, hatte sie mir damals erklärt. Als ob zwei kleine Kinder ohne Vater nicht schon sinnhaft genug wären. Aber es ging um eine gute Sache. Menschen mit Zahn- und Bauchschmerzen, Augenentzündung oder einem Bandscheibenvorfall waren wichtiger als Kino. Ich tröstete mich damit, dass, wenn ich Martina die Kinder abnahm und ihr damit den Dienst ermöglichte, ich auch etwas Gutes tat.

    (Die ältere Nele – Martinas Erstgeborene – wird das später einmal positive Karmapunkte sammeln nennen.)

    Es gibt Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie ihr Leben in der Hand haben, dass sie all ihre Entscheidungen selbst treffen. Das sind erfolgreiche Kapitalisten, Menschen, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurden oder tatkräftige Glücksritterinnen. Es gibt auch diejenigen, die sich eher ausgeliefert fühlen, Pechvögel, Benachteiligte, solche, die den Blechlöffelgeschmack im Mund nie los werden. Die sind dann melancholisch, tapfer oder wütend.

    Ich war weder Gefangene noch Macherin meines Lebens. Es passierte sozusagen und ich war mittendrin. Aber entschieden für das eine oder das andere hatte ich mich selten ganz bewusst. Meistens wurde ich entschieden. Nur ganz manchmal habe ich mich nicht wie ein braves Schaf gefügt, sondern beherzt zugegriffen!

    Zum Beispiel als ich vor gut zwei Jahren Baby Bela zum ersten Mal im Arm hielt. Da hätte ich beschließen können, dass ich wieder alleine leben wollte, dass ein zweites Kind zu viel ist, dass das nicht mein Leben ist, sondern ein geliehenes, verstolpertes, dass dieses zerknautschte Neugeborenengesicht mit dem Storchenbiss zwischen den Augenbrauen und dem verformten Köpfchen nichts oder nur wenig mit mir zu tun hatte. Aber diese Frage hatte sich gar nicht gestellt. Es war völlig klar, dass dieses kleine Wesen in mein Leben gehörte genauso wie mein Atem, meine Matratze und der Dreck unter meinen Fingernägeln.

    So hatte sich mein Leben, das eher widerwillig und zaghaft einige Monate zuvor mit dem Einzug meiner Freundin Martina und ihrer Tochter Nele begonnen hatte, um diesen kleinen Kerl erweitert. Martina hatte damals vorzeitige Wehen und eine Liegekur verordnet bekommen und war kurzerhand mitsamt der kleinen Nele zu mir gezogen. Wahrscheinlich hat mich das damals aus einer langen Phase der Wehmut und Depression gerettet. Martinas unkomplizierte Menschenklugheit und gerade Standfestigkeit einerseits und die unverstellte Fröhlichkeit einer Zweijährigen halfen mir, einen Weg aus einer elenden Haltlosigkeit zu finden und mich neu zu erden.

    So also war ich zu Mutter und Kind gekommen. Und dann eben zu zwei Kindern.

    Wenn das auch nicht immer einfach war, so war es doch genau richtig. Seitdem sorgten wir gemeinsam für die Kinder. Mehr oder weniger. Will heißen, ich eher mehr und Martina, na, weniger kann ich nicht sagen, da zwei kleine Kinder sowieso Hochleistungssport sind. Neutral ließe es sich wie folgt formulieren: Martina wusste sich zu organisieren, was mit einschloss, dass sie mich organisierte. Meinen Dienstplan zum Beispiel, ich arbeitete in einem ambulanten Pflegedienst und hatte immer unterschiedliche Arbeitszeiten, kannte sie besser als ich.

    Martina drückte also dankbar meinen Arm, lief dann zu den Kindern und spielte eine Runde Verstecken mit ihnen. Später schlenderten wir gemeinsam über die Wiesen zurück zur Hasenheide, die Lilienthalstraße hinunter, wo Martina in die Bergmannstraße abbog, um von dort zum Mehringdamm zu gelangen.

    Zu Hause erfolgte der übliche Großkampfeinsatz: Abendessen kochen, Kindergesichter, -hände und -popos waschen, Spielzeug in Kisten verstauen, Streit schlichten, vorlesen, die chaotische Wohnung aufräumen. Als das alles geschafft war, kam Martina nach Hause. Sie roch nach Bier und Rauch.

    „Wir waren nach dem Plenum noch in der Kneipe. Ist eine Raucherkneipe, eklig."

    Sie holte sich eine Tasse, goss sich vom Tee ein und setzte sich zu mir. Ich legte mein Buch beiseite, Erzählungen von Alice Munro, denn für lange Romane fehlte mir seit Belas Geburt die Muße. Martina seufzte und schlürfte von dem heißen Tee.

    „Heute war eine junge Frau bei uns, bestimmt noch keine dreißig, die hat Brustkrebs, die Biopsie und die Zellenbestimmung, ich weiß immer nicht, wie das heißt …"

    „Histologie…"

    „…genau, die Histologie haben wir übernommen. Sieht schlecht aus. Aggressiver Tumor. Sie braucht auf jeden Fall nach der OP noch eine Chemo und Bestrahlung."

    „Mist."

    „Ja, großer Mist. Die OP könnten wir ja noch bezahlen, aber die Chemo ist zu teuer. Weißt du, was das kostet? Vierzigtausend Euro! Ohne Operation. Martina trank den Tee in großen Schlucken. „Wir haben nicht genug Geld. Wir können das nicht übernehmen.

    Das mediBüro finanzierte sich ausschließlich über Spenden. In den letzten zwei Jahren, nachdem Deutschland 2015 so viele Geflüchtete aufgenommen hatte und die anfänglich begeisterte Solidarität proportional mit dem Anwachsen der AfD wieder abgenommen hatte, flossen die Spenden auch für das mediBüro wieder spärlicher.

    „Und die Frau, sie hat kein Geld?"

    Martina schüttelte den Kopf.

    „Hey, die war trotz allem so optimistisch, lebensfroh. So…lebendig. Sie hat keine Chance, das Geld zusammenzukriegen. Sie geht für vier Euro die Stunde putzen."

    „Kann sie nicht zurück, dahin, wo sie hergekommen ist? Vielleicht gibt es dort eine Krankenversicherung."

    „Sie kann nicht zurück. Sie will nicht, hat sie gesagt."

    „Obwohl sie Krebs hat?"

    „Oder gerade deswegen. Keine Ahnung. So viel Zeit hatten wir gar nicht, ich kann sie ja nicht ausfragen, als wäre ich das Ausländeramt. Sie kommt ja gerade zu uns, damit sie anonym bleiben kann und nicht alles erklären muss."

    Ich goss Martina den letzten Tee ein, stand auf, strich ihr über den Kopf.

    „Ich geh ins Bett. Denk dran, morgen ist Waldtag, die Kinder müssen pünktlich im Kinderladen sein."

    Im Bett dachte ich an die Frau mit Brustkrebs, die hier für vier Euro den Dreck anderer Leute wegmachte, die nicht nach Hause wollte oder konnte. Die hier wahrscheinlich sterben würde.

    Karl Valentin hat mal gesagt: „Ich freue mich, wenn es regnet. Wenn ich mich nicht freue, regnet es trotzdem."

    Er hat unbedingt recht, der Herr Valentin.

    Aber manchmal ist es schwer sich zu freuen.

    Einige Monate zuvor

    An diesem Tag zog sie ihre schäbigste Hose und den ältesten Pullover an. Ihr Haar blieb ungewaschen und wurde nur dürftig gekämmt. Unter die Augen malte sie sich mit braunem Lidschatten extra dunkle Schatten. Hastig steckte sie sich eine Zigarette an und verließ das Haus. Sie würde zu Fuß gehen. Bis zur Fuldastraße waren es entlang der Weserstraße nur ungefähr zwanzig Minuten. Fröstelnd zog sie ihre Schultern ein. Sie hasste es, an den selten gesäten freien Tagen nicht ausschlafen zu können. Schlimm genug, dass sie für ihren Putzjob immer mitten in der Nacht aufstehen musste. An diesen Tagen fühlte sie sich dann wie gerädert, krank, und lungerte nach Feierabend die restliche Zeit nur noch im Bett herum, spielte mit ihrem Handy, döste und hörte Radio.

    Als Xhamile an der Kirche ankam, drückte sie die schwere Eingangstür mit ihrer Schulter auf und trat durch den Vorraum ins Kircheninnere. Xhamile rümpfte die Nase. Es roch nach Kaffee, sauren Gurken, Bockwurstdampf und den Ausdünstungen von Menschen, die sich selten und ihre Kleidung noch seltener wuschen.

    Neben dem Altar waren fünf große Tische aufgebaut, auf denen sich die verschiedenen Lebensmittel stapelten. Am sechsten, etwas kleineren Tisch gleich zu ihrer Linken wurden die Hartz-IV-Ausweise geprüft. Bedürftigkeitsprüfung. Dieses Wort hatte sie in den letzten Jahren schon oft gehört. Sie hatte keinen solchen Nachweis, wie sie sowieso nichts hatte, was ihre Existenz belegte. Manchmal wünschte sie sich ein Papier, auf dem so etwas wie „Bedürftig oder „Illegal stehen würde, damit sie wenigstens hier ohne Diskussion und dämliche Belehrung ein paar übrig gebliebene Lebensmittel bekäme. Ihr erster Blick galt also der Frau hinter Tisch Nummer sechs. Xhamile war schon öfter weggeschickt worden, aber heute war die Nette mit dem roten Haar da, eine, der ihr schlechtes Gewissen und das Mitleid ins Gesicht geschrieben standen. Sie kannte Xhamile bereits und winkte sie mit einem freundlichen Nicken durch.

    Vor ihr in der Schlange standen schon die bekannten Obdachlosen, ein paar Hartz-IV-Empfänger, Mütter mit kleinen Kindern und ein paar verschämte Alte. Die Schlange rückte langsam auf. Der breite Rücken eines Mannes in den Vierzigern mit aufgerissenen Hosen, zusammengeschnürten Schuhen, zotteligem Haar, mit einer großen Tüte in der Hand, versperrte ihr die Sicht. Der Geruch von Urin stieg ihr in die Nase. Angewidert hielt sie Abstand von ihm.

    „Herbert, du hast dich ja wieder nicht gewaschen und dir keine neue Kleidung besorgt. Du solltest doch in die Gitschiner Straße gehen", tadelte die Frau hinter dem ersten Tisch, wo Brot, Nudeln, Reis und sonstiges trocken verpacktes Zeug ausgegeben wurde.

    „Ich geh da heute noch hin, hab keene Zeit jehabt jestern, gab der stinkende Typ zurück. „Gibste mir noch een zweetes Päckchen Brot?

    „Nein, Herbert, du weißt genau, für jeden gibt’s nur eins, gab die Frau resolut zurück. „Du kannst noch ein Päckchen Reis haben, davon haben wir heute viel.

    „Ne, wat soll ick denn mit Reis?"

    „Na, dann tut´s mir leid, Herbert."

    Der Mann brummte etwas Unverständliches und schob sich dann zum nächsten Tisch.

    Xhamile hatte mittlerweile ihre devote Haltung angenommen: Mit hängenden Schultern, schleppendem Deutsch, den Blick demütig nach unten gerichtet fragte sie schüchtern die Frau auf der anderen Seite des Tisches: „Kann ich kriegen noch eine Paket Reis?" Sie hielt der Frau ihre geöffnete Tüte hin.

    „Kann ich ein Paket Reis bekommen, so heißt das richtig."

    Brav wiederholte Xhamile: „Kann ich ein

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