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Du kennst nie die ganze Geschichte
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eBook212 Seiten2 Stunden

Du kennst nie die ganze Geschichte

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Über dieses E-Book

Frau Kan hat aus allem etwas gemacht. Jetzt, zuletzt, entzieht sie sich der Optimierung ihres Alters, dem Zugriff ihrer Lieben und der gesundheitsdienstlichen Versorgung. Sie imaginiert das Sterben durch Verdursten, beginnt Vorbereitungen zu treffen. Frau Kan beginnt aufzuräumen. Es gilt zwei grosse Hartplastikkisten voll festgehaltenes Leben zu entsorgen. Frau Kan gewinnt das Vertrauen der Spitex Pflegefachfrau Hana Maric, die jeden Werktag vorbeikommt. Hana Maric, die als zweijähriges Kind mit ihrer Mutter aus Sarajevo geflohen ist, unterlässt die verordneten pflegerischen Leistungen und hilft Frau Kan auszusortieren. Wellenförmig fliesst das Aufräumen mit dem Ende vor Augen durch Frau Kans Tage. Gegenwart verschmilzt mit Erinnerungen. Mit Hilfe von Galib, Hana Marics Cousin, findet sie Aufenthaltsort und Adresse des damals jungen, liebenswerten Mannes heraus, dessen Bild die erfolgreich im Beruf stehende Frau Kan am Boden der psychiatrischen Klinik mit Füssen getreten hatte. Frau Kan besucht den Mann im staatlichen Alters- und Pflegeheim. Frau Kan bringt mit Hana zusammen petits billets eines verstorbenen Bekannten ins Kunstmuseum. Frau Kan und Hana sitzen im Kaffee des Kunstmuseums beim Kuchen. Hana lädt Frau Kan in den Gogol Verein zu einem Vortrag über Nabokov ein. Hana Maric und ihr Cousin verkehren in dem russischen Verein, der offen ist für alle, die eine Heimat suchen. Frau Kan wird zu Hana Marics und Galibs Komplizin, unterstützt sie mit Übersetzen und Koffertragen bei einer Mission in Genf. In der Nacht auf den 1. März erhält Frau Kan einen nächtlichen Anruf.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Mai 2020
ISBN9783750237636
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    Buchvorschau

    Du kennst nie die ganze Geschichte - Jeannette König

    Das Ende

    Nur keine Streifung! Jetzt. Zuletzt. Keine verstopfte Hirnarterie. Keine Explosion im Kopf. Nicht auslaufen. Kein unkontrollierter Stuhlabgang. Austrocknen. In die Haut verpackt. Die Haut wird halten. Einölen. Einbalsamieren. Die Haut jeden Tag einölen. Sie wird drei vier fünf Tage halten. Ausgetrocknet. Gegerbt. Über die Knochen gespannt. Sie werden mich ausziehen. Den natürlichen Tod durch Exsikkose feststellen. Ein seidenes Wort. Ein kosendes Wort. Frau Kan hat keine Orangenhaut. Anne hat Frau Kan erzählt, dass die Orangen wie Murmeln auf dem Schiffsboden herum gekullert sind. Die Mutter ist mit Anne von Indien nach England zurückgekehrt. Das Schiff ist in Seenot geraten. Die dazugehörende Chinesin hat die Stricknadeln auf das Rettungsboot mitgenommen. Annes Mutter hat die Chinesen geliebt und die Juden gehasst. Anne, die Mutter und die Chinesin sind gerettet worden. Die Chinesin hat dem Kind Anne Socken gestrickt. Die erwachsene Anne hat das Glas Milch gemalt, das ihr die Engländer an Land zu trinken gegeben hatten. Anne hat Frau Kan Fotos von den Bildern gezeigt, die sie gemalt hat. Kullernde orangene Bälle auf den Wellen. Kullernde orangene Bälle, die das Rettungsboot in die Luft schleudern. Der Horizont ein Uferstrich aus schaumiger Milch. Die Chinesinnen Socken sind mit mir mitgewachsen, hatte Anne gesagt. Sie wärmen immer noch. Frau Kan will die Socken anziehen, die Ottos Frau am Sterbebett ihres Mannes gestrickt hat. „So viele Socken, hatte Ottos Witwe gesagt. „Kannst du welche gebrauchen? Für die Flüchtlinge vielleicht? Ein Paar hat Frau Kan für sich behalten. Die graublau Gesprenkelten. „Alles Restwolle", hatte Ottos Witwe gesagt. Frau Kan erinnert sich an ihre Serie ‚gestrickter Wald‘. Frau Kan hat das Gestrickte wieder aufgetrennt. Das Material im Wald entsorgt. Wo hätte sie die verstrickte Waldserie aufbewahren sollen. Ich hätte Socken stricken sollen, denkt Frau Kan. Oder Schals, wie Erika. Socken und Schals konnte immer jemand gebrauchen. Frau Kan erinnert sich an die Strickheftchen zu Hause. An die Modezeitschrift ihrer Mutter. Die Aufregung bis das Modell, die Wolle, das Muster, die Farbe festgelegt waren. Beim Stricken konnten die Frauen im Dorf punkten. Das Kind Kan war eine geschickte Strickerin gewesen. Elfjährig hat das Mädchen Kan aufgehört zu stricken und für sich das Recht erstritten den Lateinunterricht zu besuchen, der während der Handarbeitsstunden der Mädchen stattgefunden hatte. Jetzt ist alles anders, denkt Frau Kan. Auch in New York. Damals. Das gelbe Zelt. Ein Quadratkilometer grosses, aufgeblasenes Sonnenblumenfeld. Mitten im Central Park. Frauen – ein paar Männer – auf Holzbänken. Sie strickten. Lernten stricken. Ermutigt von einer evangelikalen Erweckungsstimmung. Damals in den 90er Jahren, erinnert sich Frau Kan. Verstrickte Zeit. Geburtsdatum. Höchster beruflicher Abschluss. Heirat. Geburt der Kinder. Scheidung. Stellenwechsel. Wohnungswechsel. Abschiede. Hans, Wolfgang, Jürg, Henrique, Luzi, Roberto, Bernard. Die Daten. Das Jahr. Die Jahreszeit. An die Jahreszeit kann sich Frau Kan erinnern. An Sätze, an Gerüche, Geschichten, bis hin zu den Bewegungen. Die Zeit zu verlieren ist gefährlich, denkt Frau Kan. Darauf steht Verwahrung. Die graublau gesprenkelten Socken werden mich wärmen, denkt Frau Kann. Sie findet die Socken im Keller. Im gelben Seesack, in dem sie Kleider aufbewahrt, die eventuell noch zu gebrauchen sind. Frau Kan trägt den Seesack in ihre Wohnung. Gelb. Immer wieder Gelb, denkt Frau Kan. Die Socken legt Frau Kan in die bereits geleerte Schublade im Schlafzimmerschrank. Den Rest leert Frau Kan auf den Boden. Der Seesack kann noch verwertet werden. Kameltrekkings gibt es auch heute noch. Der Seesack hat Frau Kan zwei Mal im Sinai seine Dienste geleistet. Frau Kan wird den gelben Seesack auf das Trottoir stellen. Über die Mittagszeit, wenn alle am Essen sind. Frau Kan räumt auf. Ein Glücksgefühl. Licht flutet den Rasen der gelebten Jahre. Ein Taumel. La petite mort. Sie nimmt die Socken wieder aus der Schrankschublade, legt sie auf den Schreibtisch im Schlafzimmer. Frau Kan muss den Ort für die letzten Dinge noch finden. Schlaf- und Arbeitszimmer sind in Frau Kans Wohnung ein einziger Raum. Typisch Kan. Zwei Mal, als Frau Kan mit einem Mann zusammengewohnt hatte, war Schlaf- und Arbeitszimmer untypisch Kan getrennt gewesen. Vielleicht drei Mal, denkt Frau Kan. Sie erinnert sich nicht genau. Die Raumaufteilung ist jetzt weniger wichtig, als die Zeiteinteilung. Warum dies so ist, kann sich Frau Kan nicht erklären. Bei jedem Umzug hatte Frau Kan aufgeräumt. Sich erneuert. Reduziert, wieder ausgeweitet. Ein zeitfüllendes Orgelspiel, denkt Frau Kan. Ob der Vergleich stimmt, ist jetzt nicht von Bedeutung.

    Schreiben sie etwas zur Geschichte ihrer Familie

    Frau Kan legt die über sich selbst gestülpte Sockenwurst wieder in die Schrankschublade zurück. Otto ist bei Grossmutter aufgewachsen. Aber Otto ist nicht Grossmutters Kind gewesen. Niemand hat darüber gesprochen, wessen Kind er gewesen ist. Ein Jahr vor Ottos Tod – er hatte gewusst, dass er bald sterben würde – hat Frau Kan von Otto erfahren, dass er ein Verdingkind gewesen ist. Ein Verdingkind. Die geliebte Grossmutter, die grossherzige Grossmutter, die Grossmutter, an deren Tisch stets jemand mitgegessen hatte, hatte sich ein Verdingkind gehalten. Ein seinen Eltern entrissenes Kind, Grossmutter für die Erziehung zur Rechtschaffenheit durch Arbeit und Disziplin übereignet. Ob er es wenigstens gutgehabt habe, war alles gewesen, was Frau Kan hatte sagen können. Otto hatte geweint. Otto hatte für sich selbst keine Entschädigung vom Staat zur Wiedergutmachung beantragt. Für seine Schwester, habe er eine beantragt, hatte er gesagt. Ihm gehe es ja gut. Otto ist Grenzwächter und weltgereistes Mitglied der Schweizer Nationalmannschaft im Pistolenschiessen gewesen. „Schreiben sie etwas zur Ge­schichte ihrer Familie." Die Geschichte einer Arbeiterfamilie in der Nachkriegszeit in einem protestantischen Dorf in der Schweiz an der Grenze zu einem katholischen Kanton. Fahrrad und Postauto als Bewegungsmittel. Vier Postautoverbindungen an den Werktagen und eine Verbindung an Samstagen, Sonn- und Feiertagen. In Richtung Katholiken fuhr man nur zum Arzt oder zum Zahnarzt, weil es in die andere Richtung zu weit gewesen wäre oder überhaupt nicht. Lieber Herr Barb, ich habe nichts zur Geschichte meiner Familie geschrieben. Ich habe in Paris Fotos geklickt.

    Das Ende 2

    „Welche Empfindungen haben Sie, wenn Sie an ihr Leben denken, das hinter Ihnen liegt. Kreuzen Sie die Antwort an, die am ehesten zutrifft. Trifft gar nicht zu. Trifft nicht zu. Trifft eher nicht zu. Trifft weder zu, noch nicht zu. Trifft eher zu. Trifft zu. Trifft vollkommen zu. Dankbarkeit. Wehmut. Innere Freude. Stolz. Trauer. Tiefe Zufriedenheit. Bedauern. Wert- und Lebensvorstellungen von Menschen aus fünf Generationen, Online-Studie des Lehrstuhles Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik am Psychologischen Institut der Universität. Jetzt kein Stechen im Kopf, keine Doppelbilder, kein Erinnern an das Körperempfinden des Verlustes. Nicht bewegen, ganz still liegen bis sich die Sedimente der aufgewühlten Seele gesetzt haben, die Augen aufklaren, die Ruhe den Bogen neu spannt, der Wind dreht. Kein Vermessen der Schichten im Hirn, der Stoffe im Blut, des Herzschlages, der Wind streicht über den Körper, trocknet die Stirn. Spüren sie das? Ja. Spüren sie das? Ja. Tief einatmen und ausatmen. Durch den Mund. Weiter. Immer weiter. Sie sitzen lieber. Ja. Sie liegen nicht gern. Ja. Psychische Vorgeschichte. Nein. Gehen sie auf den Fussspitzen. Auf den Fersen. Der Körper ein Segel. Provisorischer Bericht. „Das schlimmste für mich ist, wenn jemand einen Freund, einen geliebten Menschen verrät. Das ist schlimmer, als töten, weil nicht justitiabel, hatte Anne beim Treffen in der Bretagne gesagt. Anne war von London nach Lorient gekommen. Es gibt Sätze, die bleiben an einem hangen, wie Spinnweben, denkt Frau Kan. Mein Totenhemd wird aus Spinnweben sein. Verdursten. Austrocknen. Die Endorphine werden dich mit mir in der Wolke davontragen. Ganz leicht werden wir sein, liebe Anne. Die Feuchte des Nebels unser Totentuch. Der Verrat wird als Tau auf den grünenden Wiesen glitzern. Bis der Nebel über die Giganten hinaus sich am Himmel auflöst. Es ist Februar und es schneit. Gestern hat es geblitzt. Wie im April. Die Mediziner werden sich nicht zufriedengeben. Austrocknung ist ein Fehler. Ein Defekt in der Versorgungskette.

    Eine Exsikkose zeichnet sich durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Symptomen aus. Ein untrügliches Zeichen einer Austrocknung ist jedoch das Stehenbleiben von frisch gezogenen Hautfalten. Die Haut und die Schleimhäute fühlen sich trocken an. Des Weiteren fällt der Patient durch eine erhöhte Erregbarkeit mit fahrigen, hastigen und ziellosen Bewegungen auf, die sich mit abnormer Schläfrigkeit abwechseln. Die ausgeschiedene Urinmenge nimmt stark ab. In extremen Fällen gibt der Körper überhaupt keinen Urin mehr ab. Harnpflichtige Substanzen werden zurückgehalten. Durch den starken Flüssigkeitsverlust kommt es außerdem zu einem starken Blutdruckabfall, der zu einem Kreislaufschock führen kann. Quelle: https://medlexi.de/Austrocknung_(Exsikkose)

    Schreiben sie etwas zur Geschichte ihrer Familie 2

    Liebe Freundin aus der Kindheit, ich bin nicht deine geniale Freundin. Wir sind im Aargauer Hinterland aufgewachsen, nicht in Neapel. Mitten im kalten Krieg. Das mit dem kalten Krieg hat uns niemand gesagt. Als wir Angst hatten vor den Panzern, die über die Feldwege rollten, hat uns dein Vater gesagt, es seien unsere Panzer und nicht diejenigen des Feindes, wir müssten keine Angst haben. Unsere Panzer würden uns beschützen. Wir hatten aber Angst vor den Panzern, die über die Feldwege rollten. Nachts im Zelt hatten wir keine Angst. Nur tagsüber konnte uns etwas passieren, wenn wir uns zu weit vom Dorf wegbewegten. Du hattest Micky Mouse Heftchen, ich eine Kaninchenfelldecke für unsere Nächte im Zelt. Später war es das Bravo, mit dem wir die Nächte im Zelt und auf dem Rasen vor eurem Haus verbracht haben. Euer Haus war das einzige Haus im Dorf mit einem Rasen vor dem Haus. Euer Haus ist auf dem Hügel vor dem Schulhaus gestanden. Unser Haus an der Dorfstrasse. Auf der anderen Seite der Strasse eine kleine Eierfarm. Ein Hydrant vor der Hauseinfahrt. Das Kind Kan hat viel Zeit auf dem Hydranten an der Dorfstrasse verbracht. Und gewartet. Niemand im Dorf hatte es seltsam gefunden, dass das Kind Kan auf dem Hydranten sass und wartete. Es war ein Kind. Der Baumgarten hinter dem Haus gehörte dem Kind. Die Gärten seitlich des Hauses Mutter und Vater. Mutter und Vater haben das Haus verkauft, als ihre Jungen nicht mehr in das Dorf zurückgekommen sind. Ich glaube nicht, liebe Kinderfreundin, dass du mit mir über die Giganten hinaus in den Himmel mitkommen möchtest. Du musst auf unser Dorf aufpassen. Es habe sich verändert, sagst du. Jeder habe ein Auto und auch die Verbindungen seien besser geworden. Aber nur noch einen Hausarzt gäbe es im ganzen Umkreis. Der ungehobelte Typ aus dem Osten sei wieder gegangen. Du kannst definitiv nicht mitkommen, du musst auf unser Dorf aufpassen.

    Das Ende 3

    Frau Kan wird vorher alle Rechnungen bezahlen. Die Fixkostengläubiger werden automatisch bedient werden, bis jemand das Konto sperren wird. Niemand wird eine Etikette an die grosse Zehe des Leichnams hängen. Das Kollagen erstarrt. „Jeden Tag verlieren sie Kollagen, hatte die Kosmetikerin gesagt. Sie hat sich ein Gerät angeschafft mit kleinen Nädelchen am Kopf eines Kolbens, die in Sekundenschnelle in die Haut stechen und Substanzen einspritzten. „Auf völlig natürliche Weise wird das Kollagen neu aufgebaut, wie bei einer Verletzung. Völlig natürlich. Nicht wie bei Botox. Das Kollagen wird erstarren. Alle Falten glätten. Der Unterkiefer wird vor der Starre nach unten fallen. Der Mund, der ganze Rachen offen, als würde der fahlgraue Körper bis in alle Ewigkeit das Leben aus sich herausschreien. Name? Geburtsdatum? Wo sind sie gestern gewesen? Erinnern sie sich an ihren Hochzeitstag. Adresse? Schauen sie meinem Finger nach. Wo sind sie zur Schule gegangen. Sollen wir jemanden benachrichtigen? Jetzt nur keine Streifung. Den Beweis antreten. Meinen Namen nennen. Den Tag, den Monat, das Jahr, als mich die Frau geboren hat, die damit meine Mutter geworden ist. Ihr Hochzeitskleid, mein Engelkleid im Krippenspiel. Der Rasen vor dem Haus der Kinderfreundin. Das Zelt. Das Bravo. In der Nacht passierte uns nichts. Blitz und Donner. Im Februar. Nichts Besonderes. Alles im Normbereich. Alles im Präsenz. Life. Das Archiv gelöscht. Anna ist im Zeitstrom vor Anne und den kullernden Orangen gewesen, was auch nicht stimmt, weil die kullernden Orangen vor Anne gewesen waren, die Frau Kann kennen gelernt hat. Nichts sagen. Nicht sagen, dass Anna und Anne nicht benachrichtigt werden sollen. Überhaupt nichts sagen. Weggehen. Weggehen ist nicht schlimm. Frau Kan hat Perseus im Iran getroffen. Auf dem Weg nach Yazd. Im Felsenfeuertempel der Zoroaster. Weggehen in den Felsen hinein. Weggehen ist nicht schlimm. Kein Mensch hatte Sonne erwartet. Auf dem Plateau vor dem Passübergang. Nebelschwaden zogen hoch. Über die Spitzen der Giganten hinaus. In den Himmel hinein. Nicht sagen, dass Anna und Anne nicht benachrichtigt werden sollen.

    Verschwinden

    Die Materialsammlung muss weg. Die zwei Plastikkisten mit den schwarzen Deckeln müssen weg. Alles Festgehaltene muss weg. Leicht werden. Abnehmen. Die Lust einer Magersüchtigen. Verschwinden. Keine Spuren hinterlassen. Nach dem Spaziergang im Schnee. Auf der Fahrt nach Hause. In der Strassenbahn. Stille. Schneestille. Die Passagiere bewegungslos. Die Passagiere müssen entsorgt werden. Die Katastrophe wälzt sich auf Frau Kan zu. Nicht das Entsorgen der Toten ist übermenschlich, denkt Frau Kan. Nach einer temporären Überbelastung der Krematorien werden nach einer kurzen Verzögerung alle Körper zu Asche werden. Das Entsorgen der Biografien ist das ÜBERMENSCHLICHE. Kein Perseus, der sich mit der Tarnkappe der Medusa nähert; dem Ungeheuren den Kopf abschlägt. Die Götter haben aufgehört sich zu paaren. Die Biografien und die Einträge in den Datenbanken, Registern, Archiven. Es ist immer jemand da, der nach etwas sucht. Jemand wird die Strassenbahnfahrenden in einer cloud finden. An das Licht zerren. Im Licht des Jahresanfanges werden die Passagiere auferstehen, wenn die Strassenbahn längst nicht mehr fährt. Kein Mensch hatte Sonne erwartet. Auf dem Plateau vor dem Passübergang. Nebelschwaden waren hochgezogen. Über die Spitzen der Giganten hinaus in den Himmel hinein. Der zerklüftete Fels stemmte der entstandenen Weite seine Schatten entgegen. Der Wind plissierte die Schneefelder. In den Faltenbrüchen himmelblau oszillierendes Jenseits. Das Kollagen wird erstarren. Die Falten werden glattgezogen. Die Kisten müssen weg, denkt Frau Kan. Frau Kan kommt aus einer Familie, die ausser einem Porzellanreh, zwei hölzernen Heugabeln, einem Fotoalbum und einer silberfarbenen Biskuit Blechschachtel nichts hinterlassen hat. Ich werde die Teekanne zum Familienbesitz beisteuern, denkt Frau Kan. Das Spiegelbild des Aktes auf dem Bauch der Teekanne. An einem glasklaren eiskalten Tag. Alles muss weg. Überhaupt nichts sagen. Keine Geister hinterlassen. Nichts zum Entziffern. Anna ist mit 13 Jahren von Uruguay in die Schweiz gekommen. Anna ist, wie Anne, mit der Mutter

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