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Sieben Sinne. Der Roman aus der Frauenbewegung
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eBook326 Seiten4 Stunden

Sieben Sinne. Der Roman aus der Frauenbewegung

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Über dieses E-Book

"Sieben Sinne" erzählt die Geschichte verschiedener starken aus diversen Alterskategorien und befasst sich mit widersprüchlichen Erfahrungen im Kontext der Frauenbewegung. Im Zentrum der Erzählung steht die Geschichte einer feministischen Schriftstellerin, die durch ihre politische Arbeit immer wieder an ihre Grenzen gerät: Enttäuschung und Erfolg prallen immer wieder aufeinander, doch trotze allem soll der Zukunftstraum einer "Fraueninsel" nicht aufgebogen werden... – Ein humorvolle und eindrückliche Geschichte über die Frauenbewegung. Lesenswert!Die dänische Schriftstellerin Bente Clod, geboren 1946, macht sich mit ihren Werken nicht nur für die Verbreitung der frauenorientierten Kultur stark, sondern rief während den 1970er Jahren zusammen mit anderen Akteurinnen den kollektiven Selbstverlag "Kvindetryk" ins Leben. Bente Clod hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und ist in Skandinavien eine bekannte Autorin. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum5. Juni 2016
ISBN9788711487440
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    Buchvorschau

    Sieben Sinne. Der Roman aus der Frauenbewegung - Bente Clod

    Dobkin

    Kapitel 1

    Mirjam schnallte sich an. Die braunen Pakete mit den Büchern standen auf dem Rücksitz. Plastikbecher, Weinflaschen und Blumensträuße lagen im Auto auf dem Boden.

    Sie schaute Anne von der Seite an. – Kommst du mit zurück und bleibst du heute Nacht bei mir?

    – Wenn du willst ... Anne steckte den Schlüssel ins Zündschloß. (Anne mit dem Halstuch aus Baumwolle und dem Herzen aus Gold. Anne vor dem Fernseher, vor dem Bücherregal, vor mir ...)

    – Klar will ich, antwortete Mirjam und fuhr ein bißchen zu schnell fort: – Wir werden sehen. Ich schmücke den Raum und du verkaufst das Bier. Das Plakat, daß wir die Getränke nicht gratis ausschenken können –

    – ist geschrieben. Lone und Charlotte schleppen wohl gerade das Bier ins Cafe. Sie kümmern sich auch um die Bücher, falls jemand etwas kaufen will oder Fragen hat.

    – Und Jette und Ase reden mit der Presse. Ich halte mich da ganz raus –

    – Wenn du kannst, ja. Du mußt ihnen helfen, wenn sie nervös werden.

    – Was ist mit dem Mikrofon für Ida?

    Sie schauten sich an und dann aus dem Fenster.

    – Sie hätte wohl etwas gesagt, wenn es nötig gewesen wäre, jammerte Mirjam.

    – Das Cafe ist nicht so groß. Es wird schon klappen. Anne schlang optimistisch ihr Tuch ein weiteres Mal um den Hals:

    – Hast du deine Gedanken im Griff, Jammer? Hast du deine Zehen gezählt?

    – Ja?

    Sie drehte die Scheibe herunter und ließ das Auto an: – Wir haben es geschafft! Jesus, Maria und Thit Jensena, wir werden heute die Obermütter!


    Das ist das erste Mal, daß eine Kleingruppe ein Buch in dieser Art herausbringt – Ihr beschreibt mit Hilfe von Gedichten, Fotos und Auszügen aus Tonbandprotokollen, was im letzten Jahr zwischen Euch passiert ist. Was wollt Ihr damit sagen? Der Journalist vom Radio streckte Mirjam das Mikrofon hin, die den Mund zusammenkniff und es mit einem Nicken an Jette zurückgab. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis Jette sich an den Gedanken gewöhnt hatte, vor der Presse etwas zu sagen. Sie sollte es jetzt auch tun!

    Jette erzählte von dem Bedürfnis, weiterzugeben, worüber in einer solchen Kleingruppe geredet wird und von der Frauenzeitung, die die Gruppe ins Leben rufen will, wenn von dem Buch Geld übrig bleibt. Sie redete schnell und atemlos und setzte mit einem finsteren Blick das Bierglas an den Mund: von mir kommt nichts mehr!

    – Es ist auch das erste Mal, daß der Begriff Selbstver- äh – Selbst-

    – Selbsthilfe, das heißt Selbstuntersuchung der Scheide.

    – Ja, es ist also das erste Mal, daß der Begriff Selbsthilfe genauer in Wort und Bild erklärt wird. Habt ihr nicht irgendwie das Gefühl, daß Ihr Euch selbst ausstellt – und habt ihr denn keine Angst, daß der Frauenkampf sozusagen im Unterleib enden wird?!

    Mirjam schubste Ase liebevoll an, die ihre Brille ein bißchen weiter nach oben schob und den Mund aufmachte. Es kam nicht ein Ton. Sie trank einen Schluck von Jettes Bier und antwortete dann so freundlich und gründlich, wie nur Ase das konnte, daß sie nichts Falsches darin sehen könnte, die eigene Gebärmutter abzubilden und daß der Frauenkampf nirgendwo zu Ende wäre, den hätte es immer gegeben und würde es auch weiterhin geben. Sie schob wieder die Brille hoch und stellte fest, daß sie Mirjams Hand streichelte. – ein ganzes Jahr! rief sie aus, – daß das Buch nach all dieser Zeit erschienen ist!

    Der Journalist reichte erheitert das Mikrofon weiter:

    – Mirjam Agard, du bist die einzige in der Gruppe, die einen bekannten Namen hat und schon Schriftstellerin ist. Dein Roman Sprünge ist bekannt, und viele Frauen haben ihn gelesen. Glaubst Du, daß Euer Buch die gleichen Chancen hätte, wenn Du nicht mit dabei gewesen wärst?

    Die Luft war zum Schneiden vor Einverständnis. Mirjam fing an zu schwitzen. Ase explodierte:

    – Wir haben eine Menge Energie darauf verwendet, klarzumachen, daß wir eine Gruppe sind, die zusammen arbeitet, und es geht uns verdammt auf den Geist, daß Mirjam immer wieder hervorgehoben wird. Dieser ewige Personenkult ist eine Krankheit. Wir haben uns alle sieben zu diesem Buch durchgeredet, -geschrieben und -geschuftet. Jane, die heute nicht dabei sein kann, weil ihr Sohn krank ist, hat die Bänder abgeschrieben, Lone da drüben hat die politische Analyse geschrieben, ich habe fotografiert, Charlotte hat das Layout gemacht, meine Mutter hat Korrektur gelesen, wir haben alle zusammen unsere Worte, Ansichten und unser Herzblut in das Buch ’Sieben Sinne‘ eingebracht!

    Mirjam legte den Arm um Ase und streichelte sie. Der Journalist bedankte sich und zog ab. Sie empfand eine große Zärtlichkeit für Ase. Trotz ihrer Fähigkeiten, sich durch Sitzungen und Referate zu hetzen – um hinterher jammernd ihre verlorenen Gefühle zu suchen – trotz ihrer unvorhersehbaren Ausbrüche und Meinungen: Ase war Ase war Ase.

    Die Stimmung im Buchcafé Kvindfolk war dicht. Es bewährte sich, hinter einer improvisierten Theke Bier und Wein zu verkaufen, statt jedem ein halbes Glas Sherry zu reichen. Die Leute unterhielten sich so angeregt, daß der ganze kleine Laden summte. Mirjam betrachtete Lone, die in ihrer apfelgrünen Tunika dastand und die Arme um ihre Tochter und ihren Sohn gelegt hatte. Sie war richtig in ihrem Element. Sie genoß es offensichtlich, ihre erwachsenen Kinder in ihre neue Welt einladen zu können, sie redete und zeigte und holte noch ein goldbraunes Gesundheitsbrot aus ihrer Tasche.

    Jette und Franz standen an der Wand und hatten Jonas auf dem Arm. Wußte er etwas? War es Jette gelungen, mit ihm über den Entschluß zu reden, den Entschluß, den sie letzte Nacht gefaßt hatte, nach langen Jahren des Überlegens, mitten im Einpacken und Verschicken: daß sie sich trennen will und eine Zeitlang alleine wohnen will?

    Anne war vollauf mit dem Bierverkauf beschäftigt. Charlotte hielt sich an den Büchertisch. Sie hatte zur Feier des Tages einen neuen Hosenanzug an, der ihr gut stand. Sie hätte am liebsten die ganze Zeit das Buch im Arm gehalten. Daß sie das erleben würde, zusammen mit Charlie ein Buch herauszugeben! Mirjam schloß die Augen, einen Moment lang drehte sich alles. Die letzten Monate mit den Tonbandaufnahmen, dem Fotografieren, Lay-outen, die Diskussionen, wie sie ihr Buch herausgeben wollten: das Drucken, der Vertrieb, die Pressemitteilungen – das war ein solcher Streß, daß man fast nicht glauben konnte, daß es jetzt vorbei war.

    Ida machte Anstalten zu singen, es zeigte sich, daß alle sie hören konnten. Sie schüttelte die Locken aus dem Gesicht. Die runde Metallbrille glänzte im Licht, und die schwarzen Chinaschuhe Größe 36 standen fest auf dem Tisch des Frauencafes. Sie fing mit einem bekannten Frauenlied in neuem Arrangement an. Der Beifall war mehr als wohlwollend, ihre eigene Begeisterung darüber, zu singen und zu spielen, brachte den Raum zum Vibrieren.

    Sie sang einige der Gedichte aus dem Buch, die sie vertont hatte. Alle hörten aufmerksam zu. Das eine war von Jette, sie hatte es in einer finsteren Nacht geschrieben, als sie zum 117. Mal darüber nachdachte, ob sie in Noras Fußstapfen treten sollte oder nicht. Nach dem Lied war es einen Moment lang still, und Mirjam schielte zu Franz hinüber. Dann ging Ida über zu einer fröhlichen irischen Ballade, von dem Mädchen, das vor dem Altar nein sagte. Die Leute lachten und klatschten, die Fotografen knipsten wie wild: sie ist eine echte Entdekkung!. Mirjam dachte berauscht an ihre Inselfrauen, einen Moment lang schwebte sie ganz hoch oben und sah ihre Insel aus der Vogelperspektive mit Tante Adas kleinem Haus und der Schafherde in der Bucht. So würde es auf ihrer Insel sein, wenn sie Feste feierten, genau diese chaotische Freude über etwas, was gelungen ist. Sie suchte Anne und entdeckte sie, sie hatte den Arm um Sonya gelegt.

    Anne. Buchprüfer-Anne, ich-schaffe-es-schon-Anne, Fünfundfünfzig-Kilo-Anne mit einem rotblonden Zopf auf dem Rücken. Anne, Anne. In ihrer Wohnung am Vodroffsvej, an einem Herbsttag im Park, mit Regen im Haar, an einem Frühlingstag im Sommerhaus hinter Abrechnungen. Anne und Sonya acht Jahre lang, Anne und Sonya und der Scheidungshund Vimmer, Anne und Mirjam seit fast zwei Jahren. Anne und Mirjam und die Sieben-Sinne-Gruppe. Anne, die letzte Woche vierundvierzig geworden ist, Anne, die von allen gemocht wird und alle mag. Ohne Hintergedanken oder Probleme, ohne –

    Mirjam verspürte plötzlich ein ungeheures Bedürfnis, von hier zu verschwinden. So viel war in der letzten Zeit übergangen worden, so viel zwischen ihr und Anne war nicht gründlich geklärt worden. Genau zehn Minuten lang versuchte sie, sich zu beherrschen, aber es half nichts. Sie zog ihren Arm aus Ases und schlängelte sich zu Anne durch.

    – Ich geh ein bißchen weg.

    – Jetzt?

    – ... Who knows more about your story

    about your struggles in the world

    who cares more to bless your weary shoulders

    if not

    the woman in your life ... sang Ida.

    – Ich bin bald wieder zurück, flüsterte Mirjam. – Zum Aufräumen bin ich wieder da. Sie drängte sich durch die Menge vor Ida, machte so leise wie möglich die Tür auf und lief los.

    Sie saß schließlich auf einer Bank auf dem Ratshausplatz. Es hatte ein bißchen geregnet, der September war bald vorbei, die ersten gelben Blätter lagen in den Wasserpfützen.

    Anne Seidenhaar. Anne SuperCarla.

    Irgendetwas stimmte nicht. Schon lange.


    Vor zwei Jahren begann die Kleingruppe Sieben Sinne. Ursprünglich waren es sieben Frauen, die miteinander über ihre Sexualität reden wollten. Nach den ersten Sitzungen war die Gruppe für ein Wochenende in Annes Sommerhaus gefahren, um sich besser kennenzulernen.

    Mirjam und Anne haben bei dieser Gelegenheit die anderen nicht sehr gut kennengelernt, dafür aber einander. Sie machten einen Abendspaziergang.

    Anne! Der Maiabend war warm und still. Wir gingen in dem sumpfigen Gelände am Meer entlang, und auch in mir war es warm und still. Wie der Schierling, durch den wir stapften, leuchtete die Schleife in deinem Zopf wie ein Freudenpunkt im Dunkeln. Das Schilf stand so dicht, daß wir das Wasser nur flüchtig sehen konnten. Die Gefühle waren so unter der Haut angestaut, daß wir uns nur flüchtig ansahen. Ich spürte, wie du schon einen Faden um mein Herz gesponnen und die Farben des Abends um uns zusammengezogen hattest. Du gingst vor, sorgfältig darauf achtend, wohin du die Füße setztest. Ich konnte dir nur folgen.

    Ich bilde mir ein, daß um deinen ganzen hellbraunen Körper in dem allten Pullover eine spezielle Aura war, eine Aura, die die ganze Welt versprach; aber es war wohl mein eigener Blutdruck, der wie in Wellen durch meinen Körper strömte. Wir gingen auf jeden Fall weiter, in einen anderen Zustand hinein, und waren uns plötzlich darüber klar, daß es mehr war als ein Abendspaziergang am Meer, es war eine Reise in einander hinein, die lange dauern würde. Unsere Gefühle waren der Kompaß, an das Ziel wagten wir nicht zu denken, es war zu nahe. Du und ich. Schilf und Schierling. Die Welt schlief (oder hielt sie den Atem an?), und wir konnten auf der Erde gehen, ohne müde zu werden.

    Es war dunstig. Es war mondhell. Es war alles so, wie es sein sollte. Und wir hatten es nicht eilig.

    Wir kamen über eine Wiese, auf der die Kühe wie dunkle Bauklötze auf einem Spielzeugplatz umherliefen und mit den Zungen Gras abrissen. Sie blieben stehen und unterbrachen ihren Verdauungsprozeß für einen Moment, und ich dachte, daß diese dunkelbraunen, süß riechenden Kühe mit den Araberaugen die schönsten Zeuginnen waren, die wir für das, was gleich geschehen würde, finden konnten. Du gingst, fest verankert in deinem Körper, und ich bemühte mich, nicht so Hals über Kopf auf dich zu fallen, wie ich innerlich schon gefallen war.

    Ich gebe gerne zu, ich dachte an deine Brüste und hatte es ein bißchen sehr eilig mit ihnen. Es stand in der Nacht geschrieben, daß jede, die sie kennenlernen würde, ein besserer Mensch werden würde. Kann sein, daß meine Gedanken in dieser Richtung schuld daran waren, daß ich ein paar Mal daneben trat. Auf jeden Fall fielen wir uns zu Tode erschrocken in die Arme, als ein Vogel lärmend aus dem Schilf aufflog und riefen wie aus einem Mund: – Nein schau doch! Ein Vogel!!

    Man braucht keine Kuh zu sein, um zu wissen, was danach geschah.

    Doch wir fanden eine trockene Stelle.

    Das Gelände neigte sich zum Meer hinunter, ein bißchen weiter oben stand eine Hecke aus alten Weißdornsträuchern und schrie mit ihren weißen Blüten in die Sommernacht. Halb fielen, halb trugen wir uns gegenseitig da hinauf. Es gibt nichts Komischeres als zwei erwachsene Menschen, die vor lauter Ungeduld fast nicht auf den Beinen stehen können, aber wir lachten überhaupt nicht. Wir legten uns zwischen die Stämme. Draußen über der Bucht strichen die Vögel dicht über das Wasser. Ihre Schreie vermischten sich mit dem Dunkel gegen deine Haut, die Laute schmolzen mit deinem Haar zusammen.

    Du warst keine Frau, in die man hinein- und hinabsinkt, du warst Willen und Muskeln, Stärke und Puls.

    – Du bist so weich, hast du ein bißchen später geflüstert. – Warm und weich. Wie eine offene Wunde.

    So etwas darf man nicht zu einer Dichterin sagen, wenn man sie schnell wieder loswerden will.

    Vielleicht ist die Art und Weise, wie wir uns in dieser Welt aufhalten, unsere politischste Handlung. Wir können reden, uns entwickeln, eine Meinung haben und weitermachen. Aber wenn es darum geht, andere zu beeinflussen, dann glaube ich an nicht viel anderes als an Taten. Lebensweisen. Beispiele. Etwas zu machen, was ein bißchen anders ist als das, was die anderen jeden Tag machen. Deine Bemerkung über Wärme und Wunde liegt über unserer ersten Zeit. Du sagst selten so etwas, gibst den Gefühlen sonst keine Worte. Du fühlst. Redest nicht davon, was gemacht werden müßte, du machst es. Du bist. Du sagst, meinst, tust. Das ist deine Stärke, das bist du.

    Wenn ich nachts am Schreibtisch sitze, schläfst du. Wozu ist die Nacht auch sonst da?

    Ich bin so froh, daß ich dich zu einem Zeitpunkt getroffen habe, wo ich angefangen hatte, zu meinen Gefühlen zu stehen, anstatt vor ihnen davonzulaufen. Zu einem Zeitpunkt, wo keine von uns in eine andere Beziehung verwickelt war oder Mutter von drei Kindern oder auf dem Weg nach China. Ich bin so froh, daß ich dich getroffen habe, bevor ich allzu kleinlich wurde und nachdem ich endlich aufgehört hatte, über sexuelle Techniken zu spekulieren, aufgehört hatte, darüber nachzudenken, ob mein Partner richtig oder falsch ist, Frau oder nicht, feucht oder nicht. Ich bin so froh, daß ich dich dort am Meer getroffen habe, ohne jeden Anspruch was, warum und wie Liebe sein soll.

    Wir lagen fast die ganze Nacht unter dem Weißdorn. Du hattest zu viel Obst gegessen und mußtest ein paar Mal in die Büsche. Ich lag auf dem Rücken und schaute die bleichen Sterne an, die versuchten, das helle Himmelszelt der Mainacht zu durchbrechen und mit den Nadelstichen im Schoß zu konkurrieren.

    – Der Weg zwischen deinem Po und deinem Mund ist einfach zu kurz, murmelte ich träge und spürte deine Haut genau unter den Nackenhaaren auf den Lippen prickeln. In Griechenland, wo wir später in jenem Sommer einen Monat lang Mund an Mund umherschwebten, hingen die Sterne niedrig und schwer am Himmel über dem Meer von Liebe, in dem wir jede Nacht schwammen. Hier wurden sie blasser, während wir zwischen den Stämmen lagen, die Hände um einen pochenden Schoß.

    Wir gingen zum Sommerhaus und zu den anderen zurück. Ich mußte dich die ganze Zeit heimlich anschauen. Die Seevögel schrien erstaunt über unseren Köpfen, niemand hatte sie auf Wunder vorbereitet. Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich es anstellen könnte, ein Stückchen von diesem Glück zu bewahren. Ich bin sicher, daß du nicht einen einzigen Gedanken im Kopf hattest. Leer und ruhig gingst du den anderen in deinem neuen Zustand entgegen.


    Vom Mittelmeer in den himmelblauen 2 CV mit dem Frauenzeichen auf der Rückklappe, hoch durch den Peloponnes in ein staubiges Athen. Weiter hoch durch Europa und nach Hause. Zurück in Kopenhagen und Wohnungen anschauen. Du wohntest nach dem Bruch der acht Jahre langen Beziehung zu Sonya immer noch übergangsweise zur Untermiete. Meine kleine Wohnung in Norrebro war zu eng. Ich vermietete sie weiter. Zwei Monate später hatten wir uns in einer geräumigen Eigentumswohnung in Söerne eingerichtet – die, die jetzt das Musikkollektiv ist.

    Wir schwebten. Wir wußten sehr wohl, daß jede Zweierbeziehung dazu verdammt ist, zu Ende zu gehen, aber hat das jemals liebende Paare abgeschreckt?

    Was mich betrifft, so war es schon so oft passiert, ich hatte keine Illusionen, ich ging immer nur vorwärts der Nase nach, nicht dem Verstand nach. Für dich war die Trennung von Sonya die Katastrophe, die die Regel bestätigt – und im übrigen wurde die Katastrophe im nachhinein immer weniger schlimm, je mehr du und Sonya die Freundschaft festigten und ihr euch gegenseitig Pole der Geborgenheit wurdet.

    Zusammen ein Haus kaufen – und sterben.

    Ich wußte es ja, ich hätte es verhindern sollen. Unerklärliche Stimmungen, plötzliche Hiebe, nervöses Lachen. Ich weinte. Ich machte mir nichts daraus. Wir liebten uns ja. War an einem Sonntag müde und erschöpft. Stand in der Küche und schaute das abgelaugte Holz an und haßte die Korkwand zutiefst.

    Sonst ging es gut. Ich dachte immer wieder, wenn wir nur wieder nach Griechenland fahren und Kräfte sammeln könnten, dann hätten wir die überschüssige Energie um allen möglichen Großstadtstreß zu ertragen, wenn wir nur –

    Aber wir kamen nie wieder in die samtenen Nächte des Ägäischen Meers.


    Die Gespräche in der Gruppe liefen gut, die Gruppe bekam einen Namen. In den Sieben Sinnen lernten wir unsere inneren Farben kennen. Die Idee mit dem Buch entstand im Oktober letzten Jahres, im November stellten wir das Tonband an. Es schärfte die Aufmerksamkeit, zu wissen, daß die Gespräche vielleicht abgeschrieben und gedruckt werden würden, wir diskutierten genauer und gingen mehr in die Tiefe. Jettes erstes Gespräch mit Franz über ihre Beziehung hatte zur Folge, daß sie wieder mehr schrieb. Sie brachte eine ihrer Einseitengeschichten mit und las sie vor. Sie hatte noch nie jemandem erzählt, daß sie schrieb, noch nie jemandem etwas gezeigt. Ase lernte Ole kennen und kaufte sich eine neue Kamera, die für Nahaufnahmen geeignet war. Jane verlor das Sorgerecht für ihre Tochter nach einem langen und aufreibenden Rechtsstreit, in dem die Tatsache, daß sie in einer Wohngemeinschaft wohnte, noch dazu ausschließlich mit Frauen, ein schwerwiegendes Argument gegen sie war. Hunderte von Frauen demonstrierten gegen diese versteckte Diskriminierung von Müttern, die von der herrschenden Norm abwichen.

    Für mich gab es in diesem Winter gute Arbeitstage zu Hause an der Schreibmaschine. Gedichte wurden im Radio angenommen, Abende mit der Gruppe um das Tonbandgerät, Wochenenden in Annes Sommerhaus, Spaziergänge am Strand, am Weißdorngebüsch vorbei, bis ganz hinaus auf die Landspitze. Jette machte Zwischenprüfung in Spanisch und brachte im Januar 78 Jonas zur Welt, und Jane war bei der Geburt dabei, weil Franz im letzten Augenblick feststellte, daß er es nicht ohne bleibende Schäden überstehen würde. Allan war sehr stolz, daß er, – fast – der erste war, der den kleinen Schreihals sah und betrachtete Jonas als kleinen Bruder. Lone schrieb ihre Artikel mit dem Titel Die größte Kolonie der patriarchalischen Gesellschaft: der Unterleib der Frau. Sie kam als etablierte Hausfrau nach langjähriger Ehe und mit Kindern, die gerade von zu Hause ausgezogen waren, nur zögernd mit in die Gruppe. Zwei Monate später war sie in der schlimmsten Krise ihres Lebens, als ihr Mann mit der Sekretärin verschwand und innerhalb von zwei Wochen ihr 23-jähriges Zusammensein aufkündigte. Ihre Artikel hatten Verlegenheit und Widerwillen bei ihm ausgelöst und nicht Respekt, wie sie geglaubt hatte. Charlotte fing allmählich wieder mit dem Schlittschuhlaufen an, nach mehreren Jahren Pause wegen des Knöchelbruchs und der Scheidung. Es war schön, mit Charlie zusammen zu arbeiten, ich hatte sie nicht oft gesehen, seit ich aus der Ausstellungsgruppe herausgegangen war. Die anderen in den Sieben Sinnen verehrten sie; genau wie in der Ausstellungsgruppe wurde sei eine Art Maskottchen: Charlotte konnte alle froh machen, alle konnten sie froh machen. Auf jeden Fall konnte niemand es ertragen, wenn sie traurig war.

    Anne und ich, wir schnurrten. Es war schwer, Worte für all das Schöne zu finden. Wir sind geübter darin, die Sehnsucht zu beschreiben, die Krise, die schmerzvermischte Freude. Mitten in der dunkelsten Jahreszeit hatten wir eine sehr helle Periode. Wir hatten einen Überschuß an Kraft, auch wenn wir müde waren, Energie, auch wenn wir viel zu tun hatten. Ich schämte mich fast, daß es mir so gut ging: Ein verliebter Partisan ist ein ungefährlicher Partisan! Oder –?

    Die Liebe zu Anne war vor allem eine Liebe, die möglich war. Nicht wie die Kindheitsfreundinnen, die verschwanden, nicht auf tönernen Füßen wie das Verliebtsein in Svend, nicht von vornherein in der Mitte durchgeschnitten wie die Beziehung zu Charlotte. Ein ganzes Leben, in dem Arbeit, Liebe, politisches Engagement zusammenschmolzen. Wir zählten jeden Morgen unsere Zehen, aßen unsere Omlette Italiano, gingen arbeiten, telefonierten jeden Tag zwischen dem Steuerberatungsbüro und der Abteilung Schreibwerkstatt zu Hause, vergaßen Geldsorgen und andere Anforderungen von außen, schnurrten.

    Dann kam Annes hektischste Zeit, wo sie Tag und Nacht über Jahresausgleichen und Steuererklärungen saß und ganz allmählich gab es wieder Krach, der scheinbar aus dem reinen Nichts entstand. Ich wußte, daß es einen Grund geben mußte, ich konnte ihn nur nicht finden. Ich wurde unruhig, rastlos. Zog das Schreiben ihrer Gesellschaft vor, obwohl sie nicht viel zu Hause war. Je mehr ich schrieb, desto unsicherer wurde sie. Drückte sich an mich und machte sich klein. Und ich explodierte lautlos, denn ich hatte mich in ihre Stärke verliebt, daß sie unerschütterlich war, nicht aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen. Ihre Integrität brach plötzlich zusammen. Nichts konnte Anne, den Felsen, aus der Fassung bringen. Nichts außer mir.

    Gleichzeitig war Anne alles, was weiblich ist: Ich gebe nach, ich mache mich klein und weich – dann gibst du mir schon das, was ich als Gegenleistung haben will. Niemand, der sie kannte, wollte glauben, daß sie ganz einfach alles vergessen konnte, woran sie sich nicht erinnern wollte. Sie war nachgiebig und passiv-leidenschaftlich und so ehrlich und aufrichtig, daß ich mir oft wie ein Fehler in ihren Berechnungen vorkam.

    Meine vorsichtigen Liebeserklärungen hinterließen eine Stille, die keine von uns durchdringen konnte. Alles konnte ich ihr geben, nur die entscheidenden Beweise nicht. Mein Körper petzte. Seine nicht vorhandenen Absonderungen und der ruhige Atem standen im krassen Gegensatz zu den Worten, Händen, der Liebe zwischen uns. Alles konnte ich ihr geben, nur meinen eigenen kleinen Tod nicht. Als sie im Frühjahr anfing, von anderen Frauen zu sprechen, glaubten wir beide nicht so recht daran.

    Geschenke, die keine Geschenke waren. Ablaßbriefe anstelle von Auskünften. Hände, die ins Leere griffen, Füße so schwer wie Marmor. Lächeln, das erstarb, bevor es ankam, Silberfäden zwischen uns, die schmolzen und als Schnur zu Boden fielen.

    In Wirklichkeit ging es auch um den inneren Anlauf zum nächsten Roman, aber das wußten wir nicht, am allerwenigsten ich. Das Inselbuch war zu diesem Zeitpunkt ein unüberschaubares Projekt. Es war nicht möglich, zu wissen was eigentlich was war. Wir liebten uns. Wir konnten nur nicht –


    Irgendwann wurde ich ungerecht kritisch. Fand plötzlich, daß Anne eine Kopie ihres Vaters war. Ein Wolf im Schafspelz: Sie ging genauso schweigsam durchs Leben, ohne zu sagen, was sie meinte und dachte, obwohl sie es sehr wohl wußte. Sie handelte, ja danke. Genauso schweigsam arrangierte sie das Leben um sich herum, so wie es ihr paßte, ohne andere um Rat zu fragen, ohne wirklich Rücksicht zu nehmen. Sie war in den letzten beiden Jahren, in denen sie zusammenwohnten, hart gegen Sonya gewesen, wirklich hart –

    Anne stand jeden Morgen auf, ging zur Arbeit, kam abends nach Hause und saß über ihren Steuererklärungen. Guckte ab und zu mal fern und ging ins Bett, ihr Gesicht wurde jeden Tag ein bißchen grauer. Sie besuchte ihre Mutter und Sonya und ihre gemeinsamen Freunde, redete wie immer von ihnen. Ich wurde unsicher: war ich diejenige, die Gespenster sah, hatte nur ich Probleme? Wenn ich nur gewußt hätte, wie sehr es sie berührte, ob es meine eigene kleine Spinnerei war oder eine gemeinsame Krise, wenn nur Anne selbst auch ein paar Gedanken formuliert hätte, wenn nur –

    Ich fuhr eine Woche lang alleine nach Femö zum Vorbereitungslager. Es war richtig befreiend, sich mit schweren, nassen Zeltplanen herumzuplagen. Es passierte wenigstens etwas, als Jane und ich die Waschhütte zusammennagelten und sie für das siebente Jahr aufstellten.

    Das Gemeinschaftszelt wurde aufgerichtet und das Stahlskelett des Essenszeltes zusammengeschraubt. Als ich da oben, Schulter an Schulter mit Jane, vier Meter über dem Gras hing, war ich plötzlich überzeugt davon, daß eine Gesellschaft wie die Inselgesellschaft Wirklichkeit werden konnte: Auf der Insel gäbe es ganz einfach keine Möglichkeit, in die großen Plenum-Uneinigkeiten zu geraten. Und

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