Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Corona-Mann: Skurrilitäten aus der Isolationshaft
Der Corona-Mann: Skurrilitäten aus der Isolationshaft
Der Corona-Mann: Skurrilitäten aus der Isolationshaft
eBook237 Seiten3 Stunden

Der Corona-Mann: Skurrilitäten aus der Isolationshaft

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Ein bisschen wie Kafka – nur in witzig"

Der Corona-Mann sitzt gerade am Fensterbrett, als die Seuche ausbricht. Aus der sicheren Distanz sieht er, was das Virus anrichtet – in seiner Straße, bei den Passanten und bei sich selbst. An seiner Fensterbank, die er kaum verlässt, verliert er sich in grotesken Gedanken über das Leben und die Liebe. Auf sich selbst zurückgeworfen tröstet er sich mit Puzzle-Orgien, Haselnussschnaps und der ungestillt bleibenden Sehnsucht nach einer Fernsehmoderatorin. Nachdem er in seiner Isolationshaft die wildesten Skurrilitäten durchlebt hat, findet er am Ende doch noch das, wonach schon Herr Rossi gesucht hat: das Glück.

Hochdosierter schwarzer Humor, gut verträglich. Geeignet für weltoffene, sittlich gefestigte Leser*innen ab 21 Jahren. Nicht geeignet für Rechtspopulisten und labile, angsterfüllte Anhänger von Verschwörungstheorien.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Dez. 2020
ISBN9783752924596
Der Corona-Mann: Skurrilitäten aus der Isolationshaft

Ähnlich wie Der Corona-Mann

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Corona-Mann

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Corona-Mann - Rainer M. Rupp

    Prolog

    »Als Kind schaute ich einmal an einer mächtigen Eiche nach oben und beobachtete sie lange – man sagte mir, dass es sie schon gegeben hat, als noch Wolfsrudel und Bären im Wald lebten. Plötzlich hörte ich ein leises Rascheln hinter mir. Ich rührte mich nicht und sah nach unten. Ein schwarzbraunes Eichhörnchen sprang vor mir ins Laub und machte sich an meinem rechten Turnschuh zu schaffen, der vollständig mit Blättern bedeckt war. Das Eichhörnchen trug eine Haselnuss im Maul und zerrte und riss mit seinen Pfötchen an den Schnürsenkeln. Dann legte es die Nuss auf dem Schuh ab, wühlte noch einmal im Laub und war kurz darauf verschwunden. Ich blieb bewegungslos stehen, erst nach einer Weile griff ich nach der Haselnuss und rannte mit ihr aus dem Wald hinaus. Mein ganzes Leben lang habe ich sie bei mir getragen.

    Fast 50 Jahre später bin ich noch einmal zu dieser Eiche gegangen, habe die zusammengeschrumpelte Haselnuss ins Wurzelwerk hineingelegt und lange an dem Baum hochgeschaut. Ich weiß nicht, warum, aber es gab mir ein Glücksgefühl, wie ich es bis dahin im Leben nicht finden konnte.«

    Der rote Schnäuzer

    Ob er gedient habe, wollte der Mann mit dem roten Schnäuzer von dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad wissen. Er selbst sei bei der Heeresfliegertruppe gewesen.

    »Helikopter und so, verstehste?«

    »Du bist Helikopter geflogen, tatsächlich?«, fragte der Mann mit dem grünen Damenfahrrad.

    »Nee, wie denn, ich war Funker – ich hab‘ die ganze Zeit ein Funkgerät mit mir rumgeschleppt, an dem man kurbeln muss. Kennt jeder aus alten Kriegsfilmen. Generäle haben während des Kampfeinsatzes über mich telefoniert!«

    »Wirklich bombastisch!«, staunte der Mann mit dem grünen Damenfahrrad.

    Von meiner Fensterbank aus im dritten Stock unseres Wohnblocks hörte ich jedes Wort dieses interessanten Wortwechsels. Die beiden Männer standen gegenüber auf der anderen Straßenseite, aber ich hätte ihr Gespräch auch dann mühelos verfolgen können, wenn sie 25 Meter entfernt schräg gegenüber vor der Sparkasse gestanden hätten. Über die Jahre habe ich mein Gehör so geschult, dass mir kein Gesprächsdetail in meiner Straße entgeht, selbst wenn reger Verkehr herrscht. Ich bekomme selbst die kleinsten Feinheiten eines Gesprächs mit. Ich höre alles an meiner Fensterbank, das gehört zur Qualifikation eines professionellen Fenstersitzers.

    »Ja genau, Mann – ohne mich hätten die Helis keinen einzigen Einsatz geflogen, verstehste? Und du – untauglich, ausgemustert, oder was?«, fragte nun der Mann mit dem roten Schnäuzer voller Häme, so dass sich nicht nur seine Stimme fast überschlug, sondern auch sein schiefer Mund sich noch weiter auf einer Seite nach oben schob, bis der rote Schnäuzer fast senkrecht stand wie ein erhobener Zeigefinger, der signalisiert: »Jetzt hört mal alle her, Leute, was diese mickrige Gestalt aus ihrem Leben erzählt!« Es war jedoch vollkommen überflüssig, dass der Mann mit dem roten Schnäuzer die Umstehenden um Aufmerksamkeit bat, denn er redete nicht, er brüllte – kein Mensch in der Straße hätte ihn überhören können. Das Manövergetümmel muss seinen Trommelfellen schwer zugesetzt haben. Auch Hammer, Amboss und Steigbügel schienen gelitten zu haben. Ohne eine Sekunde zu zögern, konterte der Mann mit dem grünen Damenfahrrad die dreiste Verbalattacke mit einem Gegenschlag: »Nee, hab‘ Zivildienst geleistet beim Roten Kreuz, hatte den ganzen Tag mit Verblutenden und Sterbenden zu tun.«

    »Und – hat Spaß gemacht?«, wollte der Mann mit dem roten Schnäuzer wissen. Offenkundig hatte auch der ans Gehör andockende Hirnnerv bei den vergangenen Kriegsspielen etwas abbekommen. Der Mann mit dem roten Schnäuzer untermauerte seine fordernde Frage mit einem zweimaligen vogelartigen Nach-Vorne-Rucken des Kopfes, um den Gegner einzuschüchtern und noch vehementer auf eine Antwort zu drängen. Als wolle er mit seinem spitzen Kinn ein gerade erlegtes Tier anstechen, um zu sehen, ob es auch wirklich tot sei. Mit dieser Geste, die so viel bedeutete wie »Na los – nun sach mal!«, attackierte der rote Schnäuzer das grüne Damenfahrrad. Doch plötzlich, noch bevor der Angebrüllte irgendeine Gegenwehr leisten konnte, brach über die beiden Männer etwas herein, dass ihren verbalen Schlagabtausch als absolut belanglos entlarvte. Ich konnte von meiner Fensterbank im dritten Stock aus sehen, wie ihnen augenblicklich die Münder offenstanden, und ich konnte regelrecht hören, wie die beiden überforderten Gehirne in ihren Köpfen verzweifelt gegen die Schädeldecke hämmerten und darum baten, man möge sie doch herauslassen, die Reizüberflutung wäre unerträglich. Ich dachte mir nur, so muss es wohl aussehen, wenn Außerirdische ohne Vorankündigung plötzlich mitten in einer belebten Straße landen und Passanten aus ihrem Alltag herausgerissen werden und beobachten, wie die Außerirdischen ihr Raumfahrzeug verlassen, es hinter sich verriegeln und sich unters Volk mischen. Der Mann mit dem roten Schnäuzer und der Mann mit dem grünen Damenfahrrad waren zu Salzsäulen erstarrt, sie wurden auf dem falschen Fuß erwischt, so dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als alles mit anzusehen und irgendwann später zu versuchen, die Nervenverbindung zwischen Neokortex und Extremitäten wieder herzustellen. Ich saß an meiner Fensterbank und konnte mit ansehen, wie die beiden Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite von diesem Naturereignis überrascht wurden, das ich schon hatte kommen sehen. Im Bruchteil einer Sekunde waren sie außer Gefecht gesetzt, was man deutlich an dem typisch glasigen Blick erkennen konnte, den ich schon oft bestaunt habe, wenn plötzlich Charly die Bühne betritt. Charly ist ein echtes Naturereignis. Auf ihren Auftritt waren der Mann mit dem roten Schnäuzer und der Mann mit dem grünen Damenfahrrad nicht im Geringsten vorbereitet. Die Naturgesetze waren vollständig ausgehebelt, die gegenüberliegende Häuserfront geriet ins Wanken und die Straße schien Charlys wogenden Hüftschwung noch zu verstärken. Wie in einem Film lief die Szene in Zeitlupe vor meinen Augen ab.

    »Großartig, Charly – du spielst die Rolle absolut oscarreif, das muss man dir lassen!«

    In solchen Momenten rede ich oft mit mir selbst und kommentiere die Szene mit entsprechender Gestik von der Fensterbank aus. Meine eigene Stimme holt mich dabei ins Hier und Jetzt zurück, so dass ich nicht in eine Traumwelt abgleite. Charly war auf dem Rückweg von ihrer Mittagspause in die Spedition Komag wie jeden Tag um diese Zeit. Kurz nach Zwölf tritt sie gewöhnlich den Weg zum Mittagstisch in Remys Café an und löst das erste Chaos in der Straße aus, kurz vor Eins stolziert sie zurück in die Spedition und fordert noch einmal die Elemente heraus. An diesem Tag steckte Charly in einer fabelhaften schwarzglänzenden Emma-Peel-Lederhose und als sei das nicht schon zu viel des Guten, trug sie auch noch ein schwarzes, dünnstoffiges T-Shirt, auf dem in goldenen Buchstaben ‚Love me‘ aufgestickt war. Ich weiß nicht, warum es dazu noch einer Aufforderung bedarf, jedermann in der Straße liebt Charly. Es besteht kein Zweifel, Charly ist eine Attraktion, die den gleichen Stellenwert besitzt wie in anderen Städten eine nur am Mittag schlagende mittelalterliche Uhr, die mit allerlei Figuren und Spielwerk hunderte von Touristen begeistert und ein atemberaubendes Schauspiel darbietet. Charly verleiht meiner Straße wirklich eine besondere Note – welche Straße kann schon von sich behaupten, dass pünktlich zur Mittagszeit plötzlich die Luft vibriert und sich die Stratosphäre verändert? Es würde mich nicht wundern, wenn dieses einzigartige Spektakel auch im Stadtführer Beachtung fände und als eine der signifikantesten Sehenswürdigkeiten der Stadt gelten würde. Jedes Mal, wenn Charly ihren Catwalk zwischen Spedition und Remys Café zelebriert, bricht der Verkehr in meiner Straße zusammen und ich stoppe die Zeit, bis das Chaos wieder in die gewohnte Ordnung übergegangen ist. Ich kenne das Schauspiel schon seit Jahren, aber es fasziniert mich immer wieder, wie die Straße auf Charly reagiert. Je nach Konstellation der Fahrzeuge und Fußgänger auf der Straße kann ich wie in einem Schachspiel genau vorhersagen, dass sich die Lage gleich zuspitzen wird. Rudi von ‚Rudi’s Trinkhalle‘ beugt sich weit nach vorne, wenn Charly vorbeiläuft, er hat einen Platz in der ersten Reihe. Meistens entsteht relativ schnell ein kleines Hupkonzert, weil jemand, statt auf die Ampel zu achten, nur Augen für Charly hat und prompt sowohl von den genervten Autofahrern hinter ihm abgestraft, als auch von der Beifahrerin angekeift wird. Mit Charlys Auftauchen in der Straße ist das Verkehrschaos vorprogrammiert. Je mehr das Hupen zunimmt, desto mehr scheinen auch Charlys Hüften auszuschwingen. Überschwänglich und seismographisch exakt reagieren sie auf den Zirkus, der sich nun auf der Straße abspielt. Charly heißt eigentlich Charlotte, aber alle nennen Charly Charly. Sie ist die rechte Hand des alten Komag, dem Chef des Speditionsbetriebs ‚Komag – wir bringen’s!‘, der seine Hofeinfahrt rechter Hand hat, schräg gegenüber von meinem Wohnblock. Ich kann den Speditionshof zum Großteil einsehen, die Laderampe für zwei LKW und den Zugang zum Büro, in dem Charly nach ihrem Catwalk verschwindet. Ich habe die Charly-Show schon oft gesehen, seit vielen Jahren nahezu jeden Werktag, und trotzdem freue ich mich immer wieder über die Reaktionen, die Charly bei den Passanten auslöst. Ich schaue mir das gerne an, es ist jedes Mal so, als säße ich zu einer besonderen Gelegenheit in meiner Loge an der Fensterbank, um gleich ein vortreffliches Theaterstück zu erleben. Auch wenn ich die Vorstellung schon tausendmal erleben durfte, verblüfft es mich immer wieder, mit welcher Frische Charly ihre Show jeden Tag über die Bühne bringt. Sie wird nicht müde, mit dem Publikum zu spielen, es immer wieder in ihre Show mit einzubeziehen, den Straßenverkehr nach Lust und Laune zu steuern und einen Auffahrunfall nach dem anderen zu provozieren, wenn ihr danach ist. Ich gönne Charly diese Bühne – für ein paar Minuten des Tages ist meine Straße ihre Bühne. Sie hat ihr Publikum im Griff, sie weiß, wie sie es glücklich macht, sie setzt ihr Gespür fürs Entertainment perfekt ein. Charly wurde von der Natur wirklich reich beschenkt. Man hat ihr ein einzigartiges Talent in die Wiege gelegt, wie eine gut gefüllte Schultüte zur Einschulung wurde ihr die Fähigkeit mit auf den Weg gegeben, Naturgesetze außer Kraft zu setzen und Menschen den Alltag für ein paar Minuten vergessen zu lassen. Tausende von Vorstellungen hat Charly sicher schon gegeben, aber an diesem Tag erhielt sie besonders von dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad den Applaus, den sie als Künstlerin braucht. Charlys Catwalk blieb selbst auf mich, einem Charly-Fan der ersten Stunde, nicht ohne die beabsichtigte Wirkung. Während ihres Auftritts musste ich mich an meiner Fensterbank festhalten, sonst wäre mir schwindelig geworden. Daran hat sich nach all den Jahren nichts geändert.

    Dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad schien es nicht besser zu ergehen. Er ließ die Frage seines Kontrahenten unbeantwortet und fast wären ihm die Augen aus dem Kopf gefallen, als er Charlys Catwalk bestaunte. Er folgte ihr wie ein ferngesteuerter Roboter und blieb schließlich betäubt in der Hofeinfahrt der Spedition Komag stehen, in die Charly soeben eingebogen war. Er spürte der Raubkatze nach, die im Begriff war, ihren Unterschlupf aufzusuchen, und verlor keinen Augenblick die Witterung. Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad starrte Charly narkotisiert hinterher, hilflos seinem evolutionären Erbe ausgeliefert. »Gleich wird er winseln wie ein Hund!«, wettete ich mit mir selbst. Aber auch als sich der Verkehr auf der Straße legte und es da unten sehr ruhig wurde, konnte ich von hier oben nichts hören, obwohl ich ein sehr feines Gehör habe. Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad nahm in Träumerei versunken gerade noch wahr, wie Charly in ihrem Bürobunker verschwand, als ihn plötzlich die Sirene eines Kreuzfahrtschiffes erbarmungslos aus seinem Tagtraum riss. Ein Kreuzfahrtdampfer in meiner Straße, mit 5200 Passagieren an Bord, die gerade Charlys Exklusiv-Show verpasst hatten! Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad zuckte zusammen und blickte zu Tode erschreckt aus der Wäsche, in den Glaskörpern seiner weit aufgerissenen Augen spiegelte sich ein 40-Tonner, der in die Hofeinfahrt der Spedition Komag einbiegen wollte. Den Schrecken des Mannes mit dem grünen Damenfahrrad konnte ich genau beobachten, denn als erfahrener Fenstersitzer habe ich eine Sehstärke von 180 %, mit der ich fast einem Habicht Konkurrenz machen könnte. Als der 40-Tonner dicht vor dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad zu stehen gekommen war, gab der Koloss mehrmals laute Zischlaute von sich, sobald die Druckluft aus den Bremszylindern gepresst wurde. Es war faszinierend mit anzusehen, wie der LKW mit seinem Zischen das Schnauben des Fahrers im Führerhaus kongenial ergänzte. Es musste sich um einen sehr erfahrenen LKW-Fahrer handeln, denn LKW und Fahrer waren perfekt aufeinander eingespielt, sie bildeten eine Einheit. Um eine so vollendete Übereinstimmung zu erreichen, ist jahrelange Teamarbeit erforderlich. Der Fahrer kennt seine Maschine in- und auswendig, er kann sich auf seinen LKW verlassen. Er hört es sofort, wenn seinem LKW irgendetwas fehlt, er spürt es, ob ein Reifen zu wenig Druck hat oder ob sich irgendwo im Motorraum eine Mutter langsam zu lösen beginnt oder ein Schlauch spröde zu werden droht. Der Fahrer schnaubte wie ein bis aufs Blut gereiztes Breitmaulnashorn, der LKW zischte kontrapunktisch. Endlich gab der schnaubende Fahrer dem Mann mit dem grünen Damenfahrrad das erlösende Zeichen: Er fuchtelte mit der flachen, nach innen gedrehten Hand wie ein Scheibenwischer zweimal vor dem Gesicht hin und her. Der Mann mit dem grünen Damenfahrrad verstand dieses universal gültige Zeichen sofort und machte Platz. Er brauchte ein paar Sekunden, um aus seiner Traumwelt vollständig zurückzukehren und sich auf der Straße wieder zurechtzufinden.

    Dieses Szenario ereignete sich bereits vor zwei Wochen. Ich habe es in guter Erinnerung – besonders wegen des jäh unterbrochenen Wortgefechts, das sich der Mann mit dem roten Schnäuzer und der Mann mit dem grünen Damenfahrrad lieferten. In Kombination mit der darauffolgenden, wie immer gelungenen Vorstellung von Charly wirkte das ganze Szenario inklusive des zischenden LKW und des schnaubenden Fahrers wie ein farbenreiches, bis ins kleinste Detail durchkomponierte Gemälde, das ich in Ruhe von meinem Fensterbrett aus studieren konnte. Ich speichere solche Kunstwerke in meinem Kopf, so dass ich sie auch nach Jahren noch abrufen und mich daran erfreuen kann, wenn sich beispielsweise auf der Straße wenig ereignet, so wie jetzt gerade, nachdem die Seuche ausgebrochen ist und Kontaktverbote und Maskenpflicht angeordnet wurden. Jetzt, da auf der Straße fast nichts mehr los ist, weil alle Menschen sich angsterfüllt in ihren Wohnungen verschanzen, kann ich von den zurückliegenden Begebenheiten zehren. Es ist eine besondere Kunst des Fenstersitzens, in Notzeiten auf diese Erinnerungen zurückgreifen und sie sich jederzeit detailgetreu wieder vor Augen führen zu können und so das Fensterbrett am Abend nicht frustriert verlassen zu müssen, sondern es immer aufs Neue zu einem Ort des Erlebens zu machen und motiviert bei der Sache zu bleiben. Die Straße ist nun wie leergefegt. Ich muss mich erst noch mit der neuen Situation anfreunden und mich wie ein Gestrandeter mit einer nahezu fremden Umgebung vertraut machen. Die Seuche hat bewirkt, dass ich mich im Leben neu orientieren muss. Ich erkenne meine Straße kaum wieder. Zwar bietet dieses neue Aussehen der Straße auch neue Perspektiven, bestimmte Details auf dem Asphalt sind mir früher gar nicht aufgefallen. Sicher sind sie mir bisher nicht entgangen, ich habe sie nur nicht bewusst und in dieser Klarheit wahrgenommen. Mit diesen neuen Ansichten, die mir die Straße nun offenbart, die sie mir ohne Umschweife bereitwillig preisgibt, kann ich mich eine ganze Weile beschäftigen, ohne auf Bilder und Szenen in meinem Gedächtnis zurückgreifen zu müssen. Trotzdem haben die noch frischen gesetzlichen Anordnungen auf Grund der Seuche sehr vielfältige und tiefgehende Auswirkungen. Nicht nur die Straße selbst, ihr Erscheinungsbild, hat sich durch die Maskenpflicht und die Kontaktbeschränkungen gewandelt. Die Seuche hat das Leben, den Alltag der Menschen, stark verändert. Selbst für Charly sieht die Welt nun komplett anders aus. Trotz Maske ist Charly zwar immer noch sofort zu erkennen – sie hat nichts von ihrem Schauwert verloren –, allerdings muss sie sich nun damit abfinden, dass sie fast alle ihre Zuschauer verloren hat. Ihre Show muss nun ohne eine Woge der Begeisterung und ohne frenetischen Applaus stattfinden, höchstens ein vereinzeltes Klatschen ist zu hören. Das Verkehrschaos bleibt aus, wenn Charly jetzt die Bühne betritt. Alles ist viel ruhiger geworden, es sind nur noch wenige Leute unterwegs. Charly muss lernen, ein Leben ohne Verehrung und Anerkennung zu führen. Natürlich wird sie mich als treuesten Fan mit Logenplatz nicht verlieren, aber ich bezweifle, dass ihr meine nach wie vor ungebrochene Aufmerksamkeit auf Dauer genug sein wird. Vielleicht gefällt ihr dieses Leben aber auch besser als ihr früheres. Sie bleibt unbehelligt, niemand greift mehr in Gedanken nach ihrem Körper, die Wirkung ihrer schwarzen Lederhose verpufft unbemerkt im sozialen Vakuum. Wie ein wirkungsloses Medikament verfügt sie nun im besten Falle nur noch über einen Placebo-Effekt. Vielleicht liebt Charly jedoch dieses neue Leben ohne Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es das Leben, das sie schon immer führen wollte. Vielleicht ist es wie eine Befreiung für sie, eine Loslösung von einer alten, ihr überdrüssig gewordenen Rolle. Vielleicht kann Charly jetzt ihr wahres Selbst entdecken und ausspielen, vielleicht kann sie glücklich werden, ohne auf die ständige Bewunderung anderer angewiesen zu sein.

    So wie Charlys Leben einer einschneidenden Umgestaltung unterzogen wurde, so hat auch mein Leben als Fenstersitzer tiefgreifende Veränderungen erfahren. Es hat sich ebenfalls von Grund auf gewandelt. Die Welt scheint in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen, das stellt mein Leben auf den Kopf. Nicht nur, weil es für mich als professionellem Fenstersitzer nun viel weniger zu sehen gibt als früher, obwohl dies nur scheinbar der Fall ist, denn in Wirklichkeit passiert jede Sekunde etwas auf meiner Straße – nein, was mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit bringt, ist nicht Ereignislosigkeit, es ist das plötzliche Aufkommen unzähliger Amateur-Fenstersitzer.

    Die Dilettanten

    Wie sie alle am Fenster sitzen und auf die Straße starren – als ob sie hofften, bald etwas Besonderes zu sehen. Nichts werden sie sehen. Sie kennen die Anforderungen erfolgreichen Fenstersitzens nicht im Mindesten. Sie sitzen da in ihrem unsäglichen Freizeitdress und stieren wie Ochsenfrösche. Manche nehmen dabei sogar Nahrung zu sich, obwohl man die Straße nicht aufmerksam beobachten und sich gleichzeitig mit der Nahrungsaufnahme befassen kann. Das ist unmöglich. Ein ekelerregender Anblick, wie sie am Fensterbrett wiederkäuen! Wie kommen sie überhaupt dazu, mir als gestandenem Fenstersitzer die Stirn bieten zu wollen? Es ist geradezu lächerlich, wie sie mich mit ihrem Dilettantentum konfrontieren. Nur weil die Seuche sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1