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Herr Rechtsanwalt, Herr Linksanwalt
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eBook283 Seiten3 Stunden

Herr Rechtsanwalt, Herr Linksanwalt

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Über dieses E-Book

Ein Roman, der viele Themen anschneidet, sich jedoch auf die Entwicklung von Gefühlen zwischen den Protagonisten konzentriert. | Eine Handvoll scherzhafter Bemerkungen sorgt dafür, dass die Steuerfachangestellte Nicole beim frisch in die Marienstraße fünf eingezogenen Strafverteidiger Christian Rausch in Ungnade fällt. Zwischen den beiden entbrennt ein Kleinkrieg, der unerwartet sein Ende findet, als sie ihn betrunken und mit Blessuren im Gesicht in seiner Kanzlei vorfindet.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum22. Juni 2019
ISBN9783748555940
Herr Rechtsanwalt, Herr Linksanwalt

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    Buchvorschau

    Herr Rechtsanwalt, Herr Linksanwalt - Christina Geberg

    Chris­ti­na Ge­berg

    Herr Rechts­an­walt, Herr Links­an­walt

    Ro­man

    Text: © Co­py­right by Chris­ti­na Ge­berg

    Um­schlag­ge­stal­tung: © Chris­ti­na Ge­berg, Shut­ter­stock & spark.ad­o­be

    Ver­lag:

    Chris­ti­na Ge­berg

    chris­ti­na.ge­berg@gmail.com

    Druck: epu­bli – ein Ser­vice der neo­pu­bli GmbH, Ber­lin

    §1

    Haben Sie schon den neu­en Rechts­an­walt ge­se­hen? Kla­ra Berg­mann sah ihre Kol­le­gen er­war­tungs­voll an. „Auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te ist zwar eine Wer­be­ta­fel mit sei­nem Ge­sicht, aber… Hach, ich kann mir da nicht hel­fen, ich bin in sol­chen Sa­chen viel zu neu­gie­rig! Es in­ter­es­siert mich wirk­lich, wie er in Per­son so ist.

    Klar­as äl­te­re Kol­le­gin Uta Mei­er, die es nicht mehr weit bis zur Ren­te hat­te, hielt mit der Er­stel­lung ei­ner Ex­cel-Ta­bel­le inne und über­leg­te. „Nein. Ei­gent­lich ziem­lich selt­sam, oder? Vor vier Wo­chen ha­ben die Ar­bei­ten ne­be­n­an auf­ge­hört und drei Tage spä­ter hat­te der Gute be­reits so viel Post im Brief­kas­ten, dass al­les aus dem Schlitz quoll. Trotz­dem ha­ben wir ihn seit­dem kein­mal ge­se­hen. Viel­leicht ei­ner von der Sor­te, die sich prin­zi­pi­ell ein­igelt." 

    Ni­co­le Klin­ger hielt sich aus dem Ge­spräch ganz raus; sie kon­zen­trier­te sich auf die Buch­füh­rung, die sie vor ih­rer Mit­tags­pau­se fer­tig ha­ben woll­te. Doch auch sie war dem Rechts­an­walt kein­mal be­geg­net. Die von Kla­ra er­wähn­te Wer­be­ta­fel war Ni­co­le bis­her nicht ein­mal auf­ge­fal­len.

    Die Chefin, Mar­ti­na Koch, kam aus ih­rem Büro her­aus und leg­te die Post­map­pe mit un­ter­schrie­be­nen An­schrei­ben auf Klar­as Ar­beits­platz ab. Sie hat­te das Ge­spräch zwi­schen Kla­ra und Frau Mei­er mit­be­kom­men und da sie sehr ger­ne mit ih­ren Mit­a­r­bei­tern plau­der­te, sag­te sie: „Ich habe ihn tat­säch­lich zwei­mal ge­se­hen. Ein­mal sind wir ge­mein­sam im Fahr­stuhl ge­fah­ren, das an­de­re Mal sind wir uns in der Bank be­geg­net."

    Kla­ra Berg­mann wirk­te, als müss­te sie sich in wahn­sin­ni­ger Zu­rück­hal­tung üben, um ihre Chefin nicht mit Fra­gen zu bom­bar­die­ren.

    „Nun ja, sag­te Mar­ti­na Koch mit vor der Brust ver­schränk­ten Ar­men, „das ist ein Gro­ßer, Schlan­ker. Im­mer im An­zug, trägt eine Kra­wat­te mit Pa­ra­gra­phen­zei­chen und sei­ne Haa­re zu ei­nem Zopf. Straf­ver­tei­di­ger eben. Ent­we­der sie sind sehr an­ge­passt oder al­ter­na­tiv. Herr Rausch scheint mir mit sei­nen lan­gen Haa­ren und sei­ner ul­ki­gen Pa­ra­gra­phen­kra­wat­te Letz­te­res zu sein. Ich bil­de mir üb­ri­gens die gan­ze Zeit ein, dass ich sei­nen Na­men von ir­gend­wo­her ken­ne…

    Kla­ra Berg­mann seufz­te ent­zückt, so als hät­te man ihr ge­ra­de aus ei­nem kit­schi­gen Gro­schen­ro­man vor­ge­le­sen. Zu ger­ne hät­te sie ei­ner of­fi­zi­el­len Vor­stel­lung, wie sie der Or­tho­pä­de aus dem zwei­ten Stock vor zwei Jah­ren or­ga­ni­siert hat­te, bei­ge­wohnt, um Chris­ti­an Rausch nä­her ken­nen­zu­ler­nen.

    Mar­ti­na Koch ging zu­rück in ihr Büro und schloss die Tür, um in Ruhe mit ei­nem Man­dan­ten zu te­le­fo­nie­ren. Ihre Mit­a­r­bei­ter wid­me­ten sich wie­der ih­ren Auf­trä­gen.

    Kla­ra und Frau Mei­er ar­bei­te­ten in Teil­zeit. Ni­co­le ar­bei­te­te als Ein­zi­ge in Voll­zeit und ihr stand eine ein­stün­di­ge Pau­se zu. Es ma­che ihr nichts aus, sag­te Ni­co­le im­mer, dass sie so viel ar­bei­te. Sie fin­de so­wohl in­ner­halb der Wo­che als auch am Wo­chen­en­de Zeit für ihre pri­va­ten Ver­gnü­gen.

    Dass es ihr nichts aus­mach­te, war nur die hal­be Wahr­heit. Für Ni­co­le gab es näm­lich schlicht und er­grei­fend kei­nen Grund, um mit den Stun­den her­un­ter­zu­ge­hen. Sie war Sin­gle. Ihre zwei­te und letz­te Be­zie­hung, die ihr viel ab­ver­langt hat­te, war drei Jah­re her und seit­dem war Ni­co­le mit der lie­ben Män­ner­welt über­haupt nicht in Be­rüh­rung ge­kom­men. Wann im­mer es in Mä­dels­run­den um Män­ner ging, hat­te sie nichts bei­zu­tra­gen und hör­te nur zu. Wäh­rend Kla­ra Berg­mann auf Flirt­por­ta­len an­ge­mel­det war und auch Speed-Da­ting aus­pro­biert hat­te, um po­ten­zi­el­le Part­ner ken­nen­zu­ler­nen – sie er­zähl­te ger­ne und viel, was sie auf Por­ta­len und Tref­fen so al­les er­leb­te –, tat Ni­co­le al­les, um ja kei­ne Män­ner ken­nen­zu­ler­nen. Sprich: Sie tat nichts. Ihre Kol­le­gen wuss­ten, dass sie seit drei Jah­ren Sin­gle war. Ni­co­le war acht­und­zwan­zig. Als sie neun­zehn Jah­re alt ge­we­sen war, da hat­te sie mit fünf­und­zwan­zig Jah­ren ver­hei­ra­tet sein und mit acht­und­zwan­zig ein Kind ha­ben wol­len. Ni­co­le wür­de in zwei Mo­na­ten, am fünf­zehn­ten Juli, neun­und­zwan­zig wer­den. Sie war nicht ver­hei­ra­tet. Nicht ein­mal ver­lobt. Ni­co­le hat­te nicht ein­mal einen Part­ner.

    Nicht, dass Ni­co­le mit der Män­ner­welt ab­ge­schlos­sen hät­te. Sie woll­te, um Him­mels Wil­len, nicht alle Män­ner über einen Kamm sche­ren. Al­ler­dings wehr­te sich al­les in ihr ge­gen Män­ner und Be­zie­hun­gen. Sie war froh, sich da­für ent­schie­den zu ha­ben, ei­ni­ge Jah­re nach der Aus­bil­dung vor­erst in Voll­zeit zu ar­bei­ten; die Ar­beit hat­te sie nach der Tren­nung von ih­rem Ex-Part­ner auf­ge­fan­gen und sie von ih­rer Trau­er ab­ge­lenkt.

    „Schö­nen Fei­er­abend dem­nächst, wir se­hen uns mor­gen!" Es war drei­zehn Uhr und Uta Mei­er muss­te ih­ren Zug krie­gen.

    „Schö­nen Fei­er­abend, Frau Mei­er." Ni­co­le lehn­te sich auf ih­rem Dreh­stuhl mit zu­frie­de­ner Mie­ne zu­rück und streck­te sich. Sie hat­te die Buch­füh­rung tat­säch­lich vor der Pau­se ge­schafft und ver­pass­te sich selbst einen men­ta­len Schul­ter­klop­fer. Wenn sie et­was gut konn­te, dann war es ihre Ar­beit. Sie hat­te das Glück, so­fort im rich­ti­gen Be­ruf ge­lan­det zu sein. Ni­co­le war stets sehr in­ter­es­siert ge­we­sen am Aus­bil­dungs­in­halt und Soll und Ha­ben wa­ren für sie seit der ers­ten Stun­de ein Klacks.

    Ni­co­le stand auf und öff­ne­te das Fens­ter auf ih­rer Sei­te, das auf einen kla­ren blau­en Mai­him­mel ging. Von un­ten ström­te der Ge­ruch von Es­sen em­por, der Ni­co­le das Was­ser im Mund zu­sam­men­lau­fen ließ. Un­ten be­fand sich das ita­lie­ni­sche Re­stau­rant, wo das ge­sam­te Kanz­lei­team je­des Jahr im Ja­nu­ar an­stel­le ei­ner Weih­nachts­fei­er ge­mein­sam es­sen ging.

    Die letz­ten Male hat­te Ni­co­le sich Es­sen von Zu­hau­se mit­ge­bracht, das sie am Abend zu­vor vor­be­rei­tet hat­te. Das Mit­tag­es­sen für heu­te hat­te sie zu Hau­se ver­ges­sen. Son­der­lich dra­ma­tisch war es nicht, da die Kanz­lei im Zen­trum der Stadt lag und man al­les krie­gen konn­te, was der Ma­gen be­gehr­te.

    „Wenn Sie noch ein we­nig da­blei­ben, dann bis gleich, rich­te­te Ni­co­le das Wort an Kla­ra Berg­mann, die frei­wil­lig Über­stun­den mach­te, wenn sie et­was nicht schaff­te. „Wenn nicht, wün­sche ich Ih­nen einen schö­nen Fei­er­abend und bis mor­gen.

    Zwei Stra­ßen wei­ter gab es eine Back­stu­be, die Ni­co­le un­re­gel­mä­ßig fre­quen­tier­te. Sie ge­sell­te sich zu der Men­schen­trau­be, die an der Am­pel auf grü­nes Licht war­te­te, und da fiel ihr die Wer­be­ta­fel auf, die im Schat­ten des Ma­ri­en­ho­tels lag. Die Ta­fel zeig­te das Ge­sicht ei­nes Man­nes über drei­ßig. Er hat­te dun­kel­blon­des, schul­ter­lan­ges Haar, einen vol­len Bart, grau­blaue Au­gen und au­ßer­or­dent­lich dich­te Brau­en, die ihm bei­na­he in die Au­g­äp­fel hin­gen. Eine tie­fe Li­nie teil­te sei­ne Stirn in Zwei und zwi­schen sei­nen Au­gen­brau­en ver­lie­fen drei ver­ti­ka­le Stri­che. Der Mund war zu­sam­men­ge­knif­fen. Der Mann wirk­te streng, hu­mor­los und – ja, tat­säch­lich – böse.

    Chris­ti­an Rausch – Rechts­an­walt, Fach­an­walt für Straf­recht, Straf­ver­tei­di­ger war auf wei­ßem Grund un­ter­halb des ver­grö­ßer­ten Fo­tos zu le­sen.

    Ni­co­le press­te die Lip­pen fest auf­ein­an­der, wie um Chris­ti­an Rausch nach­zu­ah­men. Amü­siert hol­te sie ihr Han­dy her­aus, fo­to­gra­fier­te die Wer­be­ta­fel ab und schick­te das Foto an eine Freun­din. Nur kurz dar­auf nahm sie eine Au­di­o­nach­richt auf: „Rechts­an­walt für Straf­recht, ha. Der Kerl sieht selbst so aus, als hät­te er je­man­den auf dem Ge­wis­sen. Die Au­gen­brau­en sind wirk­lich eine Ka­ta­s­tro­phe." Ni­co­le ki­cher­te und ließ ein paar wei­te­re Sprü­che vom Sta­pel, die ihr in den Sinn ka­men.

    Die Am­pel sprang auf Grün und Ni­co­le ging, ge­mein­sam mit den an­de­ren, an den ste­hen­ge­blie­be­nen Au­tos vor­bei über die Stra­ße.

    Mit ei­nem be­leg­ten Bröt­chen in der Hand mach­te es sich Ni­co­le an ei­nem frei­en Tisch am Fens­ter be­quem. Wäh­rend sie aß, sah sie ab und zu auf das Dis­play ih­res Han­dys. Als sie auf­sah, stand am Ein­gang zur Bä­cke­rei nie­mand Ge­rin­ge­res als Chris­ti­an Rausch.

    Na so­was, dach­te Ni­co­le bei sich und ließ das Han­dy sin­ken. Ni­co­les Ver­wun­de­rung in­ten­si­vier­te sich, als er die Back­stu­be be­trat und sei­nen stren­gen Blick auf sie rich­te­te. Er vi­sier­te sie an wie ein Jä­ger, kam auf sie zu und Ni­co­le lehn­te sich zu­rück wie nach ei­nem In­stinkt han­delnd.

    Chris­ti­an Rauschs Ge­sichts­aus­druck wirk­te noch bos­haf­ter als auf der Wer­be­ta­fel und für einen Mo­ment be­kam es Ni­co­le tat­säch­lich mit der Angst zu tun, weil er in per­so­na wie ein ech­ter Ver­bre­cher in er­le­se­ner Gar­de­ro­be aus­sah. Jetzt erst schluck­te sie ihr zer­kau­tes, spei­chel­um­flos­se­nes Es­sen hin­un­ter und starr­te den Mann vor sich an, der um die einen Me­ter neun­zig groß war. Ni­co­le war, als woll­te er et­was sa­gen. Doch ur­plötz­lich, als hät­te man einen He­bel um­ge­legt, wand­te er sich ab und tä­tig­te kurz dar­auf eine Be­stel­lung.

    Mei­ne Güte… Was war denn bit­te das für eine Ak­ti­on ge­we­sen? Hat­te Rausch etwa mit­be­kom­men, was sie in der Au­dio an ihre Freun­din über ihn ge­sagt hat­te? Nein, das konn­te nicht sein. An­de­rer­seits war es sehr gut mög­lich, wenn man be­dach­te, dass er kurz nach ihr die Back­stu­be be­tre­ten hat­te. Viel­leicht hat­te er an der Am­pel un­mit­tel­bar hin­ter ihr ge­stan­den…

    Rausch nahm sei­ne Be­stel­lung ent­ge­gen und wand­te sich Ni­co­le zu. Aber­mals mach­te er den Ein­druck, et­was sa­gen zu wol­len, doch er ent­schloss sich, wie­der­holt dar­auf zu ver­zich­ten. Er ver­ließ die Back­stu­be und Ni­co­le sank auf ih­rem Stuhl zu­sam­men. Es gab kei­nen Zwei­fel dar­an, dass er an der Am­pel hin­ter ihr ge­we­sen war und al­les ge­hört hat­te. Pein­lich be­rührt be­deck­te Ni­co­le ihre Au­gen mit der Hand. Him­mel, war­um muss­te das aus­ge­rech­net ihr pas­sie­ren?

    Der Ap­pe­tit war ihr ver­gan­gen, aber weil sie hung­rig war und woll­te, dass ihr Kopf gleich funk­tio­nier­te, wenn sie den Jah­res­ab­schluss mach­te, aß sie das Bröt­chen auf. Was ge­sche­hen war, war ihr hoch­gra­dig pein­lich und un­an­ge­nehm. Soll­te sie den Rechts­an­walt bei Ge­le­gen­heit dar­auf an­spre­chen und sich bei ihm ent­schul­di­gen? Sie hät­te die Au­dio nicht auf­neh­men sol­len. Aber da­für war es nun zu spät. Wür­de eine Ent­schul­di­gung über­haupt et­was brin­gen? Wahr­schein­lich hat­te er sie in sei­nem Ge­hirn als eine ober­fläch­li­che Zie­ge ab­ge­spei­chert.

    Ni­co­le seufz­te und tipp­te mit dem Fin­ger­na­gel ge­gen den Tisch. Nun, sie hat­te den Mann heu­te das ers­te Mal in vier Wo­chen ge­se­hen. Es war pu­rer, un­g­lü­ck­li­cher Zu­fall ge­we­sen, dass er sich heu­te hin­ter ihr be­fun­den hat­te, und viel­leicht wür­de sie ihn einen Mo­nat lang nicht se­hen. Chris­ti­an Rausch schien ge­fragt und viel­be­schäf­tigt zu sein. Mit Si­cher­heit wür­de er das Gan­ze nach ei­nem Mo­nat wie­der ver­ges­sen ha­ben.

    §2

    Eine Be­trieb­sprü­fung stand dem­nächst an und der Man­dant hat­te Ni­co­le und ih­rer Chefin am Frei­tag­nach­mit­tag einen gro­ßen Kar­ton vol­ler Ord­ner ge­bracht. Heu­te war Mon­tag und Ni­co­le stand be­reits kurz nach sie­ben vor der Kanz­lei. Mit ge­run­zel­ter Stirn such­te sie in ih­rer Ta­sche nach dem Schlüs­sel. Ni­co­le woll­te es ein­fach nicht glau­ben, dass sie ihn zu Hau­se ver­ges­sen hat­te. Wü­tend über sich selbst hock­te sie sich hin und kipp­te den ge­sam­ten In­halt der Ta­sche auf den Bo­den aus. Sli­p­ein­la­gen, Na­gel­lack, der schon längst ver­trock­net war, ein No­tiz­block mit kit­schi­gem Mo­tiv, Haus­sch­lüs­sel mit ei­ner plü­schi­gen Kat­ze als An­hän­ger und vie­le an­de­re Din­ge bil­de­ten im Nu einen klei­nen See, den Ni­co­le mit bei­den Hand­flä­chen teil­te und dann al­les ein­mal um­dreh­te. Von dem Schlüs­sel fehl­te jede Spur. Das war ihr noch nie pas­siert. Ni­co­le biss sich frus­triert auf die Lip­pe. Groß­ar­tig.

    Kla­ra kam stets vier­tel vor acht. Bis da­hin war es noch eine hal­be Stun­de und Ni­co­le muss­te drin­gend zur Toi­let­te. Die Schlüs­sel für den Brief­kas­ten und die Toi­let­te, die die Kanz­lei Koch mit den an­de­ren auf der Eta­ge teil­te, la­gen auf der The­ke in der Kü­che. Der ei­ser­nen Stil­le nach zu ur­tei­len war Ni­co­le die Ers­te hier. Mög­li­cher­wei­se war sie als Ers­te über­haupt ge­kom­men. Sie wür­de zum Haupt­bahn­hof ge­hen und dort eine Toi­let­te auf­su­chen müs­sen.

    Ni­co­le woll­te ge­ra­de da­mit be­gin­nen, die aus­ge­schüt­te­ten Ge­gen­stän­de miss­ge­stimmt wie­der in ihre Ta­sche zu pa­cken, als sie den Fahr­stuhl hör­te und dann das Kla­ckern von Ab­sät­zen. Es wa­ren al­ler­dings kei­ne Frau­en­schu­he, die das Kla­ckern ver­ur­sach­ten. Chris­ti­an Rausch hielt vor der Tür zu sei­ner Kanz­lei inne und sah zu Ni­co­le her­über.

    Sie blin­zel­te. Dann stell­te sie fest, dass sie nach wie vor breit­bei­nig hock­te und ihr gel­ber Rock ein or­dent­li­ches Stück weit hoch­ge­rutscht war. In der einen Hand hielt sie zwei Sli­p­ein­la­gen, in der an­de­ren ih­ren Haus­sch­lüs­sel mit dem Kat­ze­n­an­hän­ger. Ni­co­le schnapp­te hör­bar nach Luft, press­te die Ober­schen­kel zu­sam­men und ver­steck­te die Ein­la­gen und den An­hän­ger hin­ter ih­rem Rü­cken, wäh­rend sie ver­such­te, auf ih­ren fla­chen Schu­hen nicht nach hin­ten zu kip­pen. Ihr Un­ter­leib be­gann zu span­nen. Schief lä­chelnd, hin­rei­chend rosa um die Nase, sag­te sie dann: „Gu­ten Mor­gen."

    „Gu­ten Mor­gen", ant­wor­te­te der An­walt kühl und blick­te da­bei skep­tisch drein.

    Weil sie es nicht mehr in der Po­si­ti­on aus­hielt, stopf­te Ni­co­le den In­halt ih­rer Hän­de seit­lich in die Ta­sche, rich­te­te sich un­be­hol­fen auf und strich ih­ren Rock glatt.  „Mein Name ist Klin­ger, Ni­co­le Klin­ger. Ich ar­bei­te in der Kanz­lei Koch und habe den Kanz­leisch­lüs­sel da­heim ver­ges­sen."

    Jetzt erst be­trach­te­te sie Chris­ti­an ge­nau: Um sein Haar schlang sich im Nacken ein Zopf­gum­mi, er trug ein wei­ßes Hemd, dazu eine Kra­wat­te mit Pa­ra­gra­phen­zei­chen und dun­kel­blaue Ho­sen; über sei­ne lin­ke Arm­beu­ge hat­te er sei­nen Sak­ko ge­wor­fen.

    Weil Chris­ti­an sie im­mer noch an­sah, füg­te sie zu ih­rer Er­klä­rung ner­vös hin­zu: „Das pas­siert mir für ge­wöhn­lich nicht. Das Herz klopf­te un­ru­hig in ih­rer Brust und sie hat­te den Ein­druck, dass er sie mit sei­nem stump­fen Blick dazu zwin­gen woll­te, sich zum Don­ners­tag zu äu­ßern. Sie hat­te nicht das Ge­fühl, dass es ein gu­ter Zeit­punkt war. Ni­co­le war nicht vor­be­rei­tet. „Ehm… Mir ist das wirk­lich sehr pein­lich, Herr Rausch, aber… könn­ten Sie mir, even­tu­ell, Ni­co­le drucks­te kurz her­um, „die Toi­let­te auf­ma­chen?" Ihr Ge­sicht glich ei­ner To­ma­te und sie senk­te be­schämt und mit glü­hen­den Oh­ren den Kopf.

    „Ich ver­ste­he. Das kann ich ge­wiss, er­wi­der­te Rausch wie ein Kind, das die höf­li­che In­di­rekt­heit ge­flis­sent­lich miss­ver­stand, und öff­ne­te die Tür zu sei­ner Kanz­lei, „aber ich wer­de es nicht tun. Ent­schul­di­gen Sie mich.

    Ver­wirrt starr­te Ni­co­le auf die Stel­le, wo der An­walt eben noch ge­stan­den hat­te. War das etwa sei­ne Ra­che an ihr? Nie und nim­mer wür­de sie es jetzt noch bis zum Haupt­bahn­hof schaf­fen! Nie und nim­mer!

    Mit zu­sam­men­ge­press­ten, zit­tern­den Schen­keln ging Ni­co­le zum Auf­zug; an Trep­pen­stei­gen war nicht zu den­ken. Vol­ler Un­ge­duld trat sie auf der Stel­le. Ni­co­le war im Auf­zug, noch be­vor die Tü­ren voll­stän­dig auf­ge­glit­ten wa­ren. Meh­re­re Male tipp­te sie auf den Knopf mit der Let­ter E drauf und be­te­te, dass al­les gut ge­hen wür­de.

    Im ge­gen­über­lie­gen­den Ho­tel bat sie die jun­ge Dame an der Re­zep­ti­on dar­um, die Toi­let­te zu be­nut­zen. Das kos­te­te Über­win­dung, es war schließ­lich ein Lu­xus­ho­tel, in wel­chem schon Schau­spie­ler und Prä­si­den­ten über­nach­tet hat­ten.

    Er­leich­tert ging Ni­co­le auf die Stra­ße. Dort oben sein woll­te sie jetzt nicht. Ers­tens hat­te es kei­nen Sinn, zwei­tens woll­te sie Chris­ti­an Rausch nicht be­geg­nen, falls es ihm ein­fie­le, vor die Tür zu ge­hen. Aus die­sem Grund be­schloss Ni­co­le, einen klei­nen Spa­zier­gang zu ma­chen und ge­gen Vier­tel vor acht wie­der hier zu sein, hof­fend, dass sich Kla­ra heu­te nicht krank­mel­den woll­te.

    Hat­ten Chris­ti­an ihre Wor­te tat­säch­lich der­art ge­kränkt? Sie war seit­dem nicht mit sich selbst im Rei­nen ge­we­sen. Sie ge­hör­te zu den Men­schen, die das schlech­te Ge­wis­sen wo­chen­lang ver­fol­gen konn­te. Aber blö­de Sprü­che, die wit­zig sein soll­ten, wa­ren doch kein Grund, ihr nicht die Toi­let­te zu öff­nen!

    Ni­co­le blieb ste­hen und zwang sich zur Ruhe. Sie woll­te nicht dar­über nach­den­ken, so em­pört sie im Nach­hin­ein über das Ver­hal­ten des Rechts­an­walts auch sein moch­te. Sie hoff­te, dass sie und Herr Rausch nun quitt wa­ren und es kein bö­ses Blut zwi­schen ih­nen ge­ben wür­de.

    §3

    Ni­co­le und Chris­ti­an be­geg­ne­ten sich die rest­li­che Wo­che und am Mon­tag nicht.

    Am Diens­tag roll­te Ni­co­le einen Bü­ro­wa­gen vol­ler Ord­ner Rich­tung Fahr­stuhl. Die Ord­ner muss­ten alle im Kel­ler ar­chi­viert wer­den, da­mit die Ak­ten­schrän­ke nicht mehr so über­voll wa­ren.

    Der Fahr­stuhl war laut An­zei­ge im vier­ten Stock, da kam Chris­ti­an aus sei­ner Kanz­lei her­aus. Sei­ne Tür war dem Auf­zug am nächs­ten und er ent­deck­te Ni­co­le so­fort.

    „Gu­ten Tag", grüß­te sie den Rechts­an­walt und lä­chel­te ihn an. Durch den Grö­ßen­un­ter­schied von etwa drei­ßig Zen­ti­me­tern muss­te sie den brau­nen Lo­cken­kopf he­ben.

    Chris­ti­an duf­te­te nach ei­ner in­ten­si­ven Kom­po­si­ti­on aus Pat­schu­li, Rose und Veil­chen. Für einen Au­gen­blick wur­de Ni­co­le ganz schum­me­rig von die­sem Duft, der zu ihr hin­über­schwapp­te. Ein schö­ner Win­ter­duft, aber an sol­chen war­men Ta­gen ein ab­so­lu­ter Na­sen­kil­ler und Kopf­schmer­zen­ver­ur­sa­cher.

    Chris­ti­an, die Haa­re wie­der zum Zopf, der Bart zwar ge­pflegt, aber dicht, ganz in Schwa­rz und Weiß ge­klei­det, grüß­te halb­her­zig zu­rück. Sei­ne Pa­ra­gra­phen­kra­wat­te, an der er sich einen Nar­ren ge­fres­sen zu ha­ben schien, war wie­der mit von der Par­tie.

    Erst schob Ni­co­le den Wa­gen in den Auf­zug. Chris­ti­an folg­te und be­tä­tig­te über den Wa­gen hin­weg die Tas­te ins Erd­ge­schoss. Um in den Kel­ler zu ge­lan­gen, war eine Schlüs­seldre­hung er­for­der­lich. Ni­co­le dreh­te den Schlüs­sel und drück­te auf das Un­ter­ge­schoss. Ei­gent­lich müss­te das Qua­drat jetzt rot leuch­ten. Das tat es aber nicht. Ver­wirrt wie­der­hol­te Ni­co­le die nö­ti­ge Pro­ze­dur, doch auch beim zwei­ten und beim drit­ten Mal klapp­te es nicht. Ver­är­gert zog Ni­co­le den Schlüs­sel her­aus und un­ter­such­te ihn wie ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Ar­te­fakt. Da­bei stell­te sie fest, dass der Schlüs­sel ein we­nig an­ders aus­sah als sonst. War er etwa er­neu­ert wor­den und Frau Koch hat­te ver­ges­sen, es ih­nen zu sa­gen? Muss­te sie also an­ders vor­ge­hen?

    Chris­ti­ans Duft schnür­te ihr in die­sem en­gen Raum all­mäh­lich die Keh­le zu.

    „Krie­gen Sie es nicht hin, gleich­zei­tig zu dre­hen und zu drü­cken, Frau Klin­ger?"

    Ni­co­le zuck­te kurz zu­sam­men und schiel­te zu Chris­ti­an hin­über. Das Gan­ze war ihr auch so schon pein­lich ge­nug und der Kerl mein­te auch noch, sei­nen Senf da­zu­ge­ben zu müs­sen. Sie ver­such­te es noch ein­mal ver­geb­lich im Al­lein­gang und hör­te, wie Chris­ti­an Rausch laut, da­mit sie es ja hör­te, mit der Zun­ge schna­lz­te. Oh, sie hass­te es, wenn Men­schen das mach­ten.

    Ni­co­le wand­te sich dem Rechts­an­walt zu. „Der Schlüs­sel ist neu, sag­te sie, um einen neu­tra­len Ton be­müht. „Ich muss noch raus­fin­den, wie er fun-

    „Ge­ben Sie ihn mir", schnitt Chris­ti­an ihr das Wort ab und streck­te die Hand­flä­che aus.

    Das her­ri­sche Ge­ba­ren des Rechts­an­walts ge­fiel ihr über­haupt nicht. Plötz­lich konn­te Ni­co­le ih­ren Wunsch, sich bei ihm zu ent­schul­di­gen, und das schlech­te Ge­wis­sen, das sie ge­plagt hat­te, nicht ver­ste­hen. Den­noch gab sie ihm den Schlüs­sel­bund. Mach’s doch bes­ser, dach­te sie ge­reizt und wünsch­te, dass er schei­ter­te.

    Chris­ti­an schaff­te es, dass das Qua­drat mit dem Buch­sta­ben U auf­leuch­te­te.

    Mit her­un­ter­ge­klapp­ter Kinn­la­de nahm Ni­co­le den Schlüs­sel­bund wie­der ent­ge­gen.

    „Wenn Sie se­hen, dass Ihr Mo­dus Pro­ce­den­di drei­mal hin­ter­ein­an­der schei­tert, soll­ten Sie sich et­was an­de­res ein­fal­len las­sen. Das ist eine Fra­ge der fun­da­men­ta­len In­tel­li­genz, über die wir Men­schen ei­gent­lich schon seit ge­rau­mer Zeit ver­fü­gen."

    Sie woll­te ihn mit sei­ner Pa­ra­gra­phen­kra­wat­te stran­gu­lie­ren. Oder ihm mit dem Um­satz­steu­er­recht in­klu­si­ve der Durch­füh­rungs­ver­ord­nung und dem An­wen­dungs­er­lass links und rechts eine scheu­ern, dass ihm Hö­ren und Se­hen ver­gin­gen. Al­ter­na­tiv das kom­men­tier­te Ein­kom­men­steu­er­recht – Haupt­sa­che et­was, das weht­at. 

    Der Auf­zug blieb ste­hen und Chris­ti­an ging schnel­len Schrit­tes hin­aus, ohne sich zu ver­ab­schie­den. Ni­co­le fuhr eine Eta­ge tie­fer und schob den Wa­gen wü­tend durch die Gän­ge des Kel­lers. Es war kühl und roch nach Mo­der und die­ser Ge­ruch tat gut, denn er ver­trieb Chris­ti­ans pe­ne­tran­tes Pa­r­füm aus ih­ren ar­men Na­sen­höh­len.

    „Krie­gen Sie es nicht hin, gleich­zei­tig zu dre­hen und zu drü­cken, Frau Klin­ger?, äff­te sie vor der Tür in den Kel­ler­raum Chris­ti­an Rausch nach, wäh­rend sie den Schlüs­sel­bund nach dem rich­ti­gen Schlüs­sel ab­such­te. „Ge­ben Sie mir den Schlüs­sel! Sie schnaub­te. „Mo­dus Pro­ce­dings­bums, eine Fra­ge der fun­da­men­ta­len In­tel­li­genz, bah!"

    Ni­co­le be­gann mit der Sor­tie­rung der Ak­ten­ord­ner und po­w­er­te sich aus. Wie sie es ge­schafft hat­te, sich im Auf­zug zu be­herr­schen, wie sie es ge­schafft hat­te, ins­be­son­de­re auf sei­nen fi­na­len Kom­men­tar nichts zu­min­dest un­ter­schwel­lig Be­lei­di­gen­des zu er­wi­dern, wuss­te sie nicht.

    Eine hal­be Stun­de spä­ter wa­ren Chris­ti­an und Ni­co­le wie­der ge­mein­sam im Auf­zug. Ni­co­le ver­mu­te­te, dass er bei der Bank ge­we­sen war. Die Ent­schul­di­gung konn­te Herr Rechts­an­walt ver­ges­sen, eben­so das freund­li­che Grü­ßen. Hät­te sie

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