Henkersmahlzeit
Von K. D. Beyer
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Über dieses E-Book
Ein eiskalter Serienkiller sorgt für Angst und Schrecken im Ruhrgebiet, vor allem bei Sophie.
Mike, ihr neuer Nachbar erscheint ihr verdächtig. Gemeinsam mit dem Wissenschaftler Johannes macht sich Sophie auf Verbrecherjagd und wird selbst zur Gejagten.
Wasserleichen zwischen Essen und Duisburg werden zu Schlüsselfiguren und ein kluger Kopf kämpft bis zum bitteren Ende.
Wer soll dieses Buch lesen?
Nichts für zarte Gemüter!
Die Sogwirkung des Krimis führt den Leser in die dunkelste Vergangenheit der Protagonisten, lässt das Unwahrscheinliche Wirklichkeit werden und das Blut in den Adern gefrieren.
Was macht es spannend und einfach unwiderstehlich?
Ein Thriller wie guter Champagner zu einem edlen Mahl: geistreich und prickelnd, so süffig, dass man ihn bis zum letzten Tropfen genießen möchte.
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Buchvorschau
Henkersmahlzeit - K. D. Beyer
Alpha
Alpha ist der erste Buchstabe des griechischen Alphabets und steht für „Anfang".
Eine Führungspersönlichkeit wird manchmal als „Alphatier" bezeichnet, um ihre besondere Stellung innerhalb einer Gruppe zu charakterisieren.
Das Alphatier kann selbstbewusst und engagiert oder kompromisslos, machthungrig und grausam sein.
Durch seine Dominanz kann ein einzelnes Alphatier ganze Weltbilder auf den Kopf stellen und prallen Alphatiere aufeinander, können hochexplosive Mischungen entstehen, mit fatalen Folgen.
Sophie war alles andere als ein Alphatier.
Deshalb war ihr Leben weder spektakulär noch schillernd, wie das der meisten Zeitgenossen.
Bravo
„Bravo, na bravo …!" Sophie schaute ärgerlich auf das rohe Ei, das sich gerade gemächlich und eiskalt über ihren rechten, vollständig nackten Fuß ergoss. Das braune Ei war ihr vor Schreck aus der Hand gerutscht, als ein ohrenbetäubender Knall ihr beinahe das Trommelfell zerriss. Wahrscheinlich ging es mal wieder um missachtete Vorfahrtsregeln an der übersichtlichen kleinen Kreuzung in der Nähe. Doch darum konnte sie sich jetzt unmöglich auch noch kümmern. Die dunkle Eierschale war beim Aufprall in zwei Hälften zersprungen. Während sich das Eiweiß um ihre Zehen schleimte, thronte das Eigelb wie eine orangegelbe Signallampe auf Sophies Fußrücken. Sophie hatte die Hoffnung auf ein Spiegelei noch nicht aufgegeben. Sie schaute sich vorsichtig um. Die Pfanne stand schon auf dem Herd. Sie müsste sich nur hinüberbeugen … Entschlossen knallte Sophie heftiger als sonst die Kühlschranktüre zu und das Schwäbische Kochbuch, das auf dem eierschalenfarbenen Kühlschrank mit den abgerundeten Ecken gelegen hatte, landete auf dem Eigelb und zerstörte Sophies Traum von einem unkomplizierten Frühstück.
„Bravo …!" zischte Sophie. Während sie nun nach der Küchenrolle in der Nähe der Pfanne angelte fragte sie sich, weshalb sie ständig bravo ausrief, obwohl es doch nichts zu bejubeln gab.
Sie hatte den Ausdruck wahrscheinlich unbewusst von ihrem Chef übernommen. So begann er seine Predigten immer, wenn er jemanden zur Schnecke machen wollte.
Sorgfältig befreite Sophie ihren Fuß grob vom Glibber und hüpfte dann auf dem linken Bein zum Spülbecken. „Bravo … Aaauuaah …!" Schnell zog sie den Fuß unter dem kochend heißen Wasserstrahl zurück.
Mit Spülmittel, lauwarmem Wasser und Tränen in den Augen schrubbte Sophie ihren Fuß. Anschließend kroch sie auf dem Küchenfußboden umher wie eine Schnecke, um ihre Schleimspur zu entfernen.
Dabei hatte der Morgen so angenehm begonnen.
Ihr Wecker hatte sie zuverlässig mit niedlichem Vogelgezwitscher geweckt. Nachdem sie ihn ausgeschaltet hatte, lauschte sie noch ein paar Minuten dem Life-Konzert vor ihrem Schlafzimmerfenster.
Während sie darauf wartete, dass sich das Wasser in ihrer Kaffeemaschine aufheizte, schaute Sophie in ihrem Online-Duden nach.
„Bravo war ursprünglich der Beifallsruf der Zuschauer in der Italienischen Oper und bedeutete „hervorragend
oder „Kompliment".
„Wieso hat es bei uns mittlerweile eine so abwertende Bedeutung?", fragte sich Sophie, während sie sich eine dicke Vollkornbrotscheibe mit Himbeermarmelade bestrich.
Gedankenverloren las sie die Bedeutung von brav: sich so verhaltend wir andere es erwarten oder wünschen. Nachdem sie die Synonyme gelesen hatte, beschloss sie, „bravo und „brav
aus ihrem Wortschatz zu streichen. Wer will denn schon bieder, gefügig, fantasielos, hausbacken oder spießig sein?
Nach einem herzhaften Biss ins Marmeladenbrot und dem ersten Schluck Kaffee ging es Sophie schon viel besser. Sie hatte die Marmelade mit einem tüchtigen Schuss Himbeergeist und zarten Mandelblättchen selbst gemacht.
Als Sophie ihr Smartphone wegpacken wollte, tippte sie versehentlich auf das großgeschriebene „Bravo".
„Oha …"„ entfuhr ihr leise. Mit gerunzelter Stirn las sie: italienische Bezeichnung für Räuber, Meuchelmörder.
Gedankenverloren schaute sie aus dem Fenster und ließ ihren Blick über das idyllische Ruhrtal gleiten.
Charlie
Charlie erhob den Kopf und blinzelte in den dunklen Himmel.
Dicke Schneeflocken fielen in jener Nacht.
Die weißen Flocken legten sich schützend auf Zäune und Bäume. Eine glitzernde Decke erhellte die Straße und den Weg zum Fluss.
Charlie liebte diese kleine Bucht hinter der alten Eiche noch immer. So oft war sie schon hier gewesen. Mit ihren Freundinnen hatte sie hier gebadet, gespielt und in der Sonne geträumt.
Vom Weg aus war die Bucht nicht zu sehen. Kleine Büsche versperrten die Sicht auf ihren Lieblingsplatz.
Hier war das Ufer flach und mit kleinen Kieseln bedeckt. Das Wasser war klar und an warmen Tagen konnte man die winzigen Fische beobachten, die sich ganz nah ans Ufer trauten.
Der Vollmond spiegelte sich im Wasser.
Das Mädchen schloss die Augen und atmete tief aus.
Sie lauschte andächtig der weißen Stille und sog die reine Luft in sich auf wie ein zerbrechlicher, ausgetrockneter Schwamm.
Die Eiskristalle benetzten ihre dunklen Haare.
Dann öffnete sie ihre Augen und musterte ihre schweren Schuhe. Es waren die Schuhe ihres Großvaters. Sie waren schwarz und viel zu groß. Sie bewegte ihre Zehen langsam und bedächtig auf und ab. Ihr Großvater war Bergmann gewesen. Seine Lunge war früh vom feinen Staub der Kohle zerfressen und Charlie war noch ein Baby, als er starb. Ihre Mutter hatte seine Kleidung aufbewahrt wie eine Reliquie. In einem großen Kleiderschrank im Keller, der nach Mottenkugeln duftete, waren alte Kleider, Fotos und Erinnerungsstücke von ihm und ihrer Großmutter aufbewahrt. Die Großmutter hieß Charlotte, genau wie sie. Doch schnell war der ganzen Familie klar, dass dieser Wirbelwind, zu dem sie sich rasch entwickelt hatte, unmöglich Charlotte heißen konnte.
Charlie passte viel besser zu diesem kleinen, bezaubernden Frechdachs.
In dem großen Kleiderschrank im Keller hatte die 14jährige Charlie nun die viel zu großen Schuhe gefunden und sich darin auf ihren Weg gemacht.
Sie starrte auf die Steine am Boden. Wie unterschiedlich in Größe und Form sie doch waren! Sie waren so unterschiedlich, wie die Menschen, die sie kannte: manche waren klein, andere waren groß, einige fühlten sich gut an und andere waren gefährlich, verletzend, tödlich.
Geschickt suchte sie sich mit ihren schmalen Händen die größten Kiesel aus und packte sie in ihre tiefen Manteltaschen.
Der Mantel war schwarz und lang. Er reichte ihr bis an die Knöchel und war viel zu weit. Ihre Großmutter war eine große, stattliche Frau gewesen. Sie hatte sehr viel Wert auf teure, gute Kleidung gelegt. Ihre Sonnenschirmchen mit silbernen Griffen, die edlen Pelze und zahlreichen kunstvoll verzierten Hüte waren fein säuberlich in der obersten Ablage im Kellerschrank verstaut.
Charlie hatte sich den schweren Wollmantel mit den 5-Mark-Stück-großen Knöpfen aus Perlmutt ausgesucht. Schon als kleines Mädchen mochte sie diese Knöpfe. Sie schillerten warm in den unterschiedlichsten Pastelltönen. Charlie packte den Knopf zwischen Brust und Bauchnabel mit Daumen und Zeigefinger und rieb ihn sanft zwischen den Fingern. Das Material fühlte sich fest und zerbrechlich zugleich an.
Die Last der Steine und der Erinnerung verlangsamten ihre Schritte zum Ufer.
Sie schluchzte und Tränen verschleierten ihre Sicht als sie sich langsam dem Wasser näherte.
Das Kreuz stand noch da. Es hatte ihre Größe. Sie hatte gestern Abend hier an einem abgebrochenen Birkenstamm einen kürzeren halb verfaulten Ast mit einem rostigen Stacheldraht im oberen Drittel befestigt. Dabei hatte sie sich die Finger blutig gerissen.
Liebevoll strich sie über das Holz und schlang hastig ihren schwarzen Seidenschal darum.
Mit einem entschlossenen Lächeln setzte das Kind seinen Weg fort zum kalten Fluss, um nie mehr zurückzukehren in das Grau der 60er Jahre.
Delta
Delta - der dreieckige Großbuchstabe des griechischen Alphabets gab im 5. Jahrhundert vor Christi ursprünglich dem Nildelta und später jedem Flussdelta seinen Namen. Es handelt sich dabei um eine Flussmündung in ein anderes Gewässer, bei der sich der Hauptstrom in mehrere Mündungsarme gabelt.
Der griechische Komödienautor Aristophanes jedoch bezeichnete im Jahre 411 v. Chr. in seiner „Lysistrata" mit Delta die weibliche Scham.
Ruhig und gemächlich fließt die Ruhr seit vielen tausend Jahren Kilometer um Kilometer vom Sauerland in den Rhein. Sie fließt durch eine abwechslungsreiche Landschaft, vorbei an malerischen Dörfern mit schiefen Fachwerkhäusern, großen Städten mit beeindruckender Industriekultur und abwechslungsreiche Natur.
Nach ungefähr 220 Kilometern mündet die Ruhr bei Rheinkilometer 780 in Duisburg in den Rhein. An dieser Stelle befindet sich eine 25 Meter hohe leuchtend orangefarbene Landmarke aus Stahl. Die Skulptur „Rhine Orange ist 7 Meter breit und einen Meter tief. An diesem Ort scheint die Weite des Himmels unendlich zu sein. An sonnigen Tagen ist der Himmel besonders strahlend blau im Kontrast zu „Rhine Orange
. Ist der Himmel bewölkt, bieten die vorbeiziehenden Wolken ein ganz einzigartiges Schauspiel und die Weite des Himmels wird jedem Betrachter an diesem Delta besonders bewusst.
Nach über einem halben Jahrhundert war das Holzkreuz am Ruhrufer verwittert, vermodert, verschwunden. Die Leiche des Mädchens wurde damals nicht weit von der Stelle, an der Charlotte ins Wasser gegangen war, wenige Wochen später gefunden. Im Morgengrauen hatte die Ruhrwacht sie kurz vor der Schleuse aus dem Wasser geborgen. Die schlimmsten Befürchtungen der Eltern wurden zur traurigen Gewissheit und auch der kleinste Hoffnungsschimmer war für immer erloschen durch die bittere Wahrheit.
Die kleine Familie zerbrach an diesem traurigen Schicksal. Charlottes Verzweiflung steckte alle an. Sie hatte sich doch zunächst so gut erholt nach dieser schlimmen Zeit. Schien wieder glücklich und zuversichtlich zu sein. Zurück blieben ein Vater, der immer mehr dem Alkohol verfiel, eine Mutter, die sich immer weiter hinter ihren Zwängen, Ritualen und Depressionen versteckte und ein noch sehr kleiner Bruder, der von nun an immer mit dem Schatten der großen Schwester leben musste. Sie musste ihn sehr geliebt haben. Seine Mutter versicherte es ihm immer wieder und zeigte ihm Schwarz-Weiß-Fotos von seiner großen Schwester, die sie hütete wie einen kostbaren Schatz. Seine Charlie war so schön und strahlte so viel Wärme und Liebe aus. Der winzige Knirps strahlte vor Glück neben ihr. Dieses Familienidyll wurde jäh zerstört, als Charlie eines Tages einfach verschwunden war und für den kleinen Michael nur noch eine Mauer eisigen Schweigens übrig ließ.
Die eigentliche Zerstörung begann jedoch bereits viel früher. Sie begann, als Vater und Mutter verlernt hatten, sich zu achten, zu lieben und zu ehren.
Die Zeit hatte den Schmerz und die Erinnerung an Charlies frühen Tod gelöscht. Der Vater war tot und die Mutter lebte in ihrer eigenen Welt, jenseits aller Erinnerungen. Michael, der beinahe von Anfang an nur Mike genannt wurde, war weg gezogen, weit weg. Dort gelang es ihm halbwegs, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Es war Herbst, ein angenehmer Altweibersommer und es war noch lange kein Schnee in Sicht.
„Für die Jahreszeit zu warm!", meldete der Wetterbericht.
Sophie saß mit geschlossenen Augen auf einer Holzbank am Fluss und ließ sich die wärmende Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen. Diesen Tag, der so hektisch begonnen hatte, wollte sie in Ruhe ausklingen lassen. Sie lauschte andächtig den zwitschernden Vögeln. Neben ihr lag ein altes knallgelbes Büchlein. Sie hatte es neben einer zum Öffentlichen Bücherschrank umgebauten Telefonzelle gefunden.
Sophie hatte die Lektüre aufgehoben und mit dem Taschentuch abgewischt.
„Lysistrata" von Aristophanes.
Titel und Autor kamen ihr irgendwie bekannt vor. Sie überlegte kurz. Nein, sie hatte vergessen, um welches Thema es ging. Daher überflog Sophie schnell die kurze Zusammenfassung.
Aha – eine Geschlechterkampf-Komödie!
Allerdings schien dieses Werk anders zu sein, als die unzähligen modernen Titel in den Buchhandlungen. Diese Variante hörte sich frisch an, obwohl sie doch uralt war.
Sophie steckte das Büchlein, sorgfältig, wie einen kostbaren Schatz, in ihre Jackentasche, um es in Ruhe unten am Fluss zu lesen. Es ging um den Kampf einiger Frauen aus Athen und Sparta gegen die Männer als Verursacher von Krieg und seinen schrecklichen Folgen. Unter der Führung von Lysistrata besetzten sie die Akropolis und verweigerten sich ihren Männern. Nach zahlreichen Verwicklungen führte der Liebesentzug in der Komödie dann tatsächlich zum Frieden.
„Wenn das so einfach wäre, gäbe es längst keine Kriege mehr. Wie naiv und romantisch!", dachte Sophie, während sie mit ihrem Buch zum Fluss schlenderte.
Sie konnte sich später nicht daran mehr, was sie dazu veranlasst hatte, ihr Smartphone nach geraumer Zeit aus ihrer Tasche zu wühlen. Vielleicht hatte sie gehofft, irgendeine nette, liebevolle Nachricht von einem wohlgesonnenen Menschen darin zu entdecken. Dies war zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich.
Dummerweise war es eine Nachricht ihres Chefs, der ihr mitteilte, dass ihr Urlaub im Dezember leider gestrichen werden musste. Auf Grund einer Gesetzesänderung erwartete die Geschäftsleitung einen höheren Auftragseingang. Das bedeutete: Urlaubssperre für die letzten Wochen des Jahres. Der Resturlaub sollte unbedingt bis zum 30. November genommen werden. Sophie hatte sich beinahe ihren kompletten Jahresurlaub für diese vierwöchige Reise nach Mexiko und Peru im Dezember aufgespart. Und darauf sollte sie nun verzichten? Für den Rest der Woche könne sie zunächst gerne ihre Überstunden abbauen.
Hätte er nicht bis morgen mit dieser Nachricht warten können?
Nun war Sophies Laune auf dem Nullpunkt angekommen und ihr Feierabend versaut.
Das Bild, das sie vorher noch von ihrem Chef hatte, der ihr einen schönen Feierabend gewünscht hatte, verwandelte sich im Nu. Wie bei diesem berühmten Kipp-Bilder: aus der Schönen wird das hässliche Biest.
Mit einer weit ausholenden Armbewegung wollte Sophie das sündhaft teure Smartphone in die Ruhr werfen. Dieses blöde Ding, das nichts als Hiobsbotschaften für sie bereit hielt!
„Mist - mein Umgang mit technischen Geräten – was sagt er über mich und meine Beziehungen aus …"
„Na, gut – wer weiß wofür es gut ist. Dann gehe ich eben in den Bunker!" sagte sie trotzig. Seit die Kinder aus dem Haus waren, verbrachte sie mit anderen Sozialromantikern fast jede freie Minute in einem 75 Jahre alten Hochbunker, um aus dem alten, grauen Gemäuer einen Kulturbunker zu machen. Dort gab sie auch in einem gemütlich eingerichteten Raum auf der obersten Etage ein Mal in der Woche Yogaunterricht. Als Geburtstagsüberraschung hatten Freunde aus dem Verein diesen Ort der Meditation für sie renoviert. Der Boden war mit einem weichen grünen Teppichboden ausgestattet und die Decke war mit orangegelben Tüchern abgehängt. Es duftete immer nach Räucherstäbchen.
Der Koloss aus Stahl und Beton gehörte einem Kletterverein. Die Außenwände waren mit kunterbunten Klettergriffen übersät. Nur das geübte Auge erkannte Routen, die bis nach oben auf das flache Dach führten. Sophie war erstaunt, wie beliebt dieser alpine Sport hier im Ruhrgebiet war. Bei gutem Wetter war die Anlage immer sehr gut besucht. Man konnte glatt vergessen, weshalb diese meterdicken Mauern damals aus dem Boden gestampft wurden.
Sophie drosch enttäuscht mit der Faust auf den Baumstamm. Doch der körperliche Schmerz hatte keine Chance. Er konnte den verletzten Teil in ihr nicht überlagern und zum Schweigen bringen.
„Wo der Geist ist, ist die Energie … verdammt – ändere deine Gedanken!" befahl sie sich ungeduldig.
„Ändere sie und du wirst dir selbst das Glück erschaffen, das du möchtest. Versuche es jetzt, gleich sofort! Ich weiß, dass du das kannst."
Sophie schlich mit hängenden Schultern und gesenktem Blick langsam weiter.
„Hör auf so grimmig zu glotzen! Schimpfte sie laut vor sich hin. „Wenn du so grimmig glotzt, musst du dich nicht wundern, dass du so miese Laune hast. Akzeptiere endlich, dass es Dinge gibt, die du nicht ändern kannst.
Sie hatte sich so sehr auf die Reise nach Mittel- und Südamerika gefreut! Und sie fühlte sich so urlaubsreif. Sophie seufzte und setzte nach. „Eine ganz, ganz tolle Yogalehrerin bist du! Wie glaubwürdig ist dein Geschwafel eigentlich, wenn du es selber nicht umsetzen kannst. Du scheinst von deinen eigenen Worten nicht wirklich überzeugt zu sein, wenn es wirklich darauf ankommt!"
Wieso, wieso, wieso immer ich?
Resigniert glitt sie auf die regennasse Bank.
„Lass‘ es einfach geschehen – du wirst es nicht ändern und du kannst es auch nicht ändern! Was genau mache ich eigentlich immer falsch? Was habe ich noch immer nicht kapiert?"
„Hallo Sophie, meditierst du?" Sophie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nur stur geradeaus auf das Wasser gestarrt hatte und gar nicht mitbekommen hatte, dass ihre Freundin Vera von links mit dem Fahrrad angebraust kam. Mit geröteten Wangen und zerzausten Haaren sprang Vera vom Rad.