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Das Lachen der Sonne: Cover Artwork: Evita Slivowitz
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eBook327 Seiten4 Stunden

Das Lachen der Sonne: Cover Artwork: Evita Slivowitz

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Über dieses E-Book

Im Labyrinth des eigenen Bewusstseins bleibt nur die Sonne als einziger Punkt der Orientierung. Geblendet schauen wir aufs Meer und sehen für einen kleinen Moment nur uns selber.
Das Lachen der Sonne erzählt von Liebe und Angst, ihrem ständigen Konflikt. Eine symbolische Geschichte über einen jungen Mann, der auf See anheuert, um seinem Alltag zu entfliehen, sich dort verliebt, doch an seinen eigenen Emotionen scheitert.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Okt. 2021
ISBN9783754173930
Das Lachen der Sonne: Cover Artwork: Evita Slivowitz

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    Buchvorschau

    Das Lachen der Sonne - Dennis Klofta

    (Prolog – Alraune)

    Die Stimme der Einsamen singt in einer anderen Sprache, als die der Alleingelassenen – –

    Er saß im warmen Sand und hörte dem fernen Rauschen der Wellen zu – wie sie brechen, fallen und wieder aufstehen, um zu ihren ewigen Tanz zurückzukehren. Es sind nur ein paar salzige Tropfen, die im Sand hängen bleiben und leise in der Sonne gären. Auf diesen Tropfen saß er nun und lauschte ihren wilden Ursprüngen.

    »Hff« – müde atmete er aus und ließ sich nach hinten fallen. Sanft sanken seine Ellenbogen in den Sand ein, als er sich wieder aufsetzte und in die falsche Stille hinaussah, wo jede Bewegung ihren Platz hat, wo es keinen Zweck gibt, sondern alles in Seelenruhe wieder in sich selbst einkehrt, wo die Wellen nicht brechen, sondern nur zu brechen scheinen, wo jedes Niederfallen mit einem sofortigen wieder Aufstehen verbunden ist. Er lachte auf.

    »Wie merkwürdig ähnlich sich beide sind. Manchmal scheint es fast, als würde das Meer bis zum Himmel reichen. Was, wenn der Himmel nichts anderes als dein Spiegel ist? Dein tiefes Blau seine große Unendlichkeit und dein grelles Weiß, das den Stillstand nie gelernt hat, wie die Wolken ist –«

    Er ließ sich erneut zurückfallen und atmete tief aus. Er war erschöpft. Müde und erschöpft von all den Fragen, die in seinem Kopf herumirrten. All den Fragen, auf die er keine Antwort fand und wusste, dass er keine Antwort finden würde. Diese Fragen kannten keine Antworten. Ihm war egal, wie weit der Himmel von ihm entfernt lag, welche Farbe ein Apfel hat oder wo genau in diesem Moment Norden oder Süden lagen. Das interessierte ihn alles nicht. Er wollte wissen, wohin die Wolken gehen, wenn sie nicht am Himmel stehen, warum auch der Himmel weint und warum der Mond nie alleine schläft. Dabei wusste er, wie absurd diese Fragen waren, aber genau aus diesem Grund wollte er eine Antwort auf sie finden oder zumindest irgendeinen Ausdruck für sie. Wenn er noch nicht einmal das Absurde begreifen konnte, wie sollte er dann erst das Alltägliche zu fassen bekommen?

    »Fliegende Wellen, schlafende Wolken«

    Er lachte, richtete sich mit einem Schwung wieder auf und sah noch ein letztes Mal zum Meer hinaus. Langsam verschwand die Sonne bereits in der blauen Flut und zerlief tief rot im schwimmenden Horizont. Dann drückte er sich mit Hilfe seiner Arme vom Boden ab und kehrte dem Meer, den Sand von sich klopfend, seinen Rücken zu.

    Als er endlich seine Wohnungstür öffnete, warfen die Sterne bereits kleine kalte Schatten in sein Zimmer. Ohne sich niederzuknien, schlüpfte er aus seinem Schuhen, bevor er laut gähnend ins Badezimmer ging. Mit beiden Händen aufs Waschbecken gestützt, starrte er in den Spiegel vor ihm. Über ihm summte das matte Licht, das einen dunklen Schatten in sein Gesicht warf. Kleine Wassertropfen liefen sein Kinn herunter. Er schwieg. Er hätte duschen gehen sollen oder sich zumindest vernünftig waschen, doch er war einfach zu erschöpft; er wollte nur noch ins Bett. Stöhnend ließ er das Becken los, griff nach dem Handtuch, das neben dem Becken hing, fuhr sich damit grob übers Gesicht, hing es zurück und losch das sanfte Rauschen. Endlich im Bett starrte er noch kurz zur Zimmerdecke, bevor auch er in den Tiefen der Meere versank.

    Ein Phosphor-Himmel liegt über der Stadt. Die Welt weht, badend in Demut, durch die kalten Häuserreihen. Im purpurroten Sonnenrauschen liege ich mitten in ihrem pochend kalten Kern. Im nebel-schimmernden Horizont fliegen Vögel, in leise weinenden Mustern, während die Stadt die leeren Melodien einer glühenden Dämmerung spielt. In die Leere blickend, streifend durch das graue Gewand der leblosen Stadt, liege ich zwischen Brücken, die über Seen treiben und Häusern, die bis zum Himmel reichen, ihn aber doch nicht greifen können. Langsam stolpere ich vorwärts – wie ein Fisch in einem Vogelschwarm, hilflos flüchtend von einer Wolke zur nächsten, um dann vom nächsten Windstoß, doch nur wieder in die kreischende Richtung gestoßen zu werden. Der Lärm ist ohrenbetäubend, so dass ich die Kälte der dämmernd rauschenden Sonne nicht spüre. Blind stolpernd im Wolkenparadies, gejagt vom Gekreische der Vögel, die mir hungrig auflauern, stoße ich gegen die Wände der Welt. Wie Steine in einem Glashaus stoßen sie gegen mich, werfen mich durch die Stadt, in meinem taumelnden Tanz der Unachtsamkeit. Angeschlagen von den Steinen, treibt der Wind mich immer tiefer in den Nebelhorizont. Ein Stein streift mein Bein. Ich falle – – – auf eine Insel im sonnen-getränkten Meer der Stadt. Nichts ist auf ihr zu sehen, nur ein Baum, der das Zentrum meines Käfigs bildet. Einsam und verlassen steht er da, halb erfroren in der kalten Sommernacht. Seine Augen, denen jedes Grün längst entwichen ist, blicken leer auf das graue Meer, das tonlos, drohend die farblose Insel zu fressen, vor sich hertreibt. Während Haie, in Vogelgestalten, um meine Insel treiben, fällt die Sonne von ihrem Thron. Um mich verfällt die Stadt nun vollkommen dem Nebel des Phosphor-Himmels.

    Langsam flieht das salzige Wasser von meiner Brandung. Das Meer verschwindet und hinterlässt ein düsteres schwarzes Loch. Meine Insel bleibt, so einsam wie ihr Baum, als gelb-schwimmender Fleck im schwarzen Nebelmeer zurück. Die anbrechende Dunkelheit enthüllt rot-brennende Sterne. Wie gefangene Fische zappeln sie im grauen Netz, glühend rote Auge, die mich in der tiefen Nacht beobachten, drohen mich zu fressen. Sie greifen nach mir, mit schäumenden Mündern, flüstern mit leise-kreischenden Stimmen in mein Ohr. Das Flüstern einer Schlange, der Schrei eines neugeborenen Kindes der tief in mein Ohr eindringt, beginnt meine Sinne zu benebeln. Singend und tanzend dringen sie, mit ihrer bitter-süß gespaltenen Zunge, in mich ein. Mein Herz brennt in den lüsternen Küssen ihrer kalten Lippen, glüht auf im kristallenen Grün ihrer feuerroten Augen, rast im brennenden Schmerz der Leidenschaft. Plötzlich kreischen sie tief in meinem Kopf: »Wir kriegen dich! Wir haben dich! Wir lieben dich!« Ich kreische auf, springe, voll Panik, in den Nebel hinein und renne in die feuchte Wüste der Ebbe. Tiefer, immer tiefer hinein in die erbarmungslose Dunkelheit. Ich kann nicht fliehen, kann nicht entkommen – –

    Doch plötzlich verstummen die kreischenden Stimmen. Ein wildes Rauschen vertreibt sie aus meinen Ohren. Ein merkwürdig, grell-scheinendes Licht durchbricht die dunkle Wand des Nebelmeers, feuerrot, wie ein Phönix der Unsterblichkeit. Oh du süße Gestalt, du Engel, Tränen rennen über mein Gesicht. Völlig frei tanzt sie in ihrem blumen-weißen Kleid des Glücks, durch die kalte Ozeannacht. Mein Atem steht still, keine Luft dringt ein noch aus. Ich fliege – – ertrunken in ihren tiefsten Tiefen, badend in der strahlenden Sonne ihres Lächelns. Die fliegende Leichtigkeit umgibt mein Herz, rauscht in jeden Tropfen meines Bluts, enthebt mich der Schwere der brennenden Augen, die mich in die Tiefen der Meere zu ziehen drohten. Tanzend, immer weiter tanzend, den immer selben Tanz des Glückes, der in alle Tiefen reicht und alles in die höchsten Höhen treibt, schwebt sie vor mir, schaut mir lächelnd in meine Augen. Sanft hält sie meinen Kopf, damit ich nicht davon fliege, schließt ihre Augen und führt ihre ewig lächelnden Lippen küssend auf meine Stirn. Wie von Helium getragen, stoße ich zum Himmel auf

    »Heech-äh« Panisch rang er nach Luft. Hektisch atmete er in seine Brust. Schweiß tropfte von seinem Kinn. Blind starrte er an die weiße Wand vor ihm. Langsam kamen seine Augen wieder zur Besinnung.

    Wie jeden Morgen brauchte er ein wenig Zeit, um sich vom Traum zu lösen und sich seiner Umwelt wieder bewusst zu werden. Er kannte das Spiel: jeden Morgen saß er schweißgebadet senkrecht im Bett und suchte hilflos nach seinem Traum, der noch irgendwo im Raum herumschwebte – erfolglos. Verwirrt richtete er sich auf und ging, noch völlig in Gedanken versunken, zum offenen Fenster. Schweigend lächelte ihn die Sonne an.

    ›Ganz ruhig dreht sie immer die gleiche Runde, tanzt immer den selben Tanz. Unerreichbar, von allem fern, strahlt sie selbst über die schrecklichsten‹ – er war gerade erst aufgewacht und schon störten ihn seine Gedanken.

    Ein leichter Windzug schlug ihm ins Gesicht, dass er seinen Kopf leicht zur Seite neigte und sein Blick auf einen weißen Umschlag fiel, der ungeöffnet, fast unberührt, auf seinem Schreibtisch lag. Warm schien die Sonne auf das bleiche Holzgestell, das direkt unter seinem Fenster stand. Seufzend, drehte er sich um und verließ sein Zimmer, die kleine knarrende Holztreppe hinuntersteigend. Er setzte Wasser auf, ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen und starrte an die weiße Wand. Ungeduldig zappelte dort eine Spinne an ihrem eigenen Faden. Mit jedem weiteren Schritt verlor sie ihren Takt, so dass sie sich mehr stolpernd als tänzelnd fortbewegte, als würde sie sich in ihren eigenen Fäden verfangen. Er war unruhig, kippelte leicht mit dem Stuhl vor und zurück, wippte mit seinem Fuß auf und ab und atmete hastig ein und aus. Dann wurde die Stille von einem sanften Rauschen durchbrochen. Ganz leise kroch es aus seinem Versteck hervor. Er bewegte sich nicht, starrte einfach weiter, unruhig zitternd, an die Wand. Doch dann sprang er plötzlich auf, lief zum Tisch, griff nach dem dort liegenden Schlüssel und riss die Tür auf, die mit einem lauten Knall hinter ihm zufiel.

    »Da laufen sie, alle im Gleichschritt voreinander her, hastig ihr Essen niederschlingend, während sie in Gedanken ihre Wohnungen gar nicht verlassen haben. Planlos, doch mit klarem Ziel hetzen sie durch die Stra-« – mit einem Husten lachte er kurz auf, »vor sich, nicht voreinander, unbewusst stolpern sie alle, gefangen in ihrer eigenen kleinen Welt, vor sich her. Überall kleine Welten, unglaublich, dass sie nicht ständig miteinander kollidieren« – ›aber Planeten kollidieren auch nicht miteinander, sondern sind alle ganz fest in ihrer Bewegung aufeinander abgestimmt. Jeder hat seinen Platz, wie in einem Fischschwarm, nur dass sie miteinander und nicht voreinander schwimmen, oder nicht?‹ Im Stillen hatten seine Gedanken, sein leises Gemurmel unterbrochen und weitergesponnen.

    Die Stadt war voll, voll von Lärm und Leben. Kleine Kinder tobten unter sicherer Beobachtung ihrer Eltern an einem Brunnen, bespritzten sich mit Wasser, verliebte Paare, zogen sich gegenseitig, kämpfend um die Richtung ihrer Schritte, an den Händen hintereinander her, Geschäftsfrauen und -männer, trauten sich in ihrer Mittagspause aus den Büros, um ein wenig von der Sonne zu ergattern, begleitet vom lauten Gesang des Frühlings, den die Vögel aus breiter Kehle durch die Straßen schrien.

    Er hatte sich auf eine kleine Bank direkt neben dem Brunnen niedergelassen und schaute die Stadt entlang. Er schwitzte. Heftig brannte ihm die Sonne direkt auf die Stirn, als hätte sie sich nur auf ihn fokussiert. Doch er war nicht der Einzige, der ihren brennenden Blick zu spüren bekam. Immer wieder ließen sich kleine Gruppen angestrengt von der Hitze auf die Bänke vor ihm fallen. Geduldig warteten sie dann, ohne eine Miene zu verziehen, darauf, sich wieder in den Schwarm einzuordnen, um erneut in der Masse zu verschwinden. Sein Blick war auf eine blonde Frau gefallen, die mit einem sturen Lächeln da-saß und sich nicht bewegte. Ihre Beine überschlagen, saß sie auf der Bank gegenüber von ihm. Auf der Bank neben ihr saß ein älteres Paar. Deutlich mitgenommen von der Hitze, ruhten sie sich dort aus. Leicht verwirrt schaute der alte Mann die Straße entlang, ohne dabei die Wasserflasche, die er in seiner Hand hielt, aus den Augen zu verlieren. Seine Frau hingegen, die ganz außen an der Bank saß und jeden Moment drohte von dieser zu fallen, beäugte misstrauisch all die Menschen, die aus den umliegenden Geschäften kamen. Als sein Blick dann wieder zurück zur anderen Bank fiel, war die blonde Frau verschwunden. Hastig schaute er hin und her –

    ›Sobald sie wieder im Schwarm verschwunden sind, haben sie ihre eigene Existenz wieder vergessen. Und wenn sie dann wieder ausbrechen sind sie überfordert – überfordert von der Wirklichkeit!‹

    Überrascht von der plötzlichen Lücke auf der Bank war sein Blick kurz suchend auf den Boden gefallen, bevor er zur Bank zurückkehrte.

    ›Was ist es doch für eine unglaubliche Erleichterung, wenn das Warten ein Ende hat – – Wenn sie bloß wüssten, worauf sie warten.‹

    Mit der Zeit wurde die Stadt leerer. Der Strom von Menschen löste sich langsam auf. Nur vereinzelte Paare, die sich im Netz der Sonne verfangen hatten, und ein paar einsame Wanderer waren noch unterwegs. Ein kleiner Spatz sprang vor seine Füße und schaute ihn mit seinen dunklen Augen an. Leicht neigte er seinen Kopf nach rechts und nach links, bevor er ihn aus seinem Blick ließ und auf den Boden nach Futterspuren suchte. Langsam hüpfte er von einer Stelle zur nächsten, ohne den Blick vom Boden zu heben. Suchend hüpfte er so einmal um den Brunnen herum, bis er wieder bei ihm angelangt war und ihn noch einmal schräg mit seinem dunklen Augen anschaute, bevor er wieder erfolglos davon flog.

    ›So viele Menschen sind an mir vorbei gelaufen und nur dieser kleine Vogel hat mich gesehen.‹

    Ruhig beobachtete er den Vogel, wie er von einem Ort zum nächsten flog und überall nach etwas essbaren suchte, bis er hinter einem Dach verschwand.

    »Ach du hast es leicht,«, murmelte er leise vor sich hin, »du musst nur deine Flügel ausbreiten und kannst davon fliegen, einfach flüchten vor diesem Chaos der Wiederholung, vor diesem Käfig, der sich langsam, aber sicher um einen schließt und dich, hat er dich einmal gefangen, nicht mehr los lässt. Ach du kleiner Spatz, für mich gibt es keinen Wind, der mich einfach so davon trägt. Meine Flügel sind so schwer, dass sie einen immer wieder auf den Boden drücken wollen und am Boden ist die Luft so unglaublich dünn, dass einem das Atmen schwer fällt – dabei habe ich solche Angst zu ersticken.«

    Gedanken versunken sah er die Stadt entlang.

    ›Kein Wunder, dass sie mich nicht bemerken, wie sollten sie auch, wenn sie schon an sich selbst vorbeilaufen. Jeden Tag leben sie das immer gleiche Leben, sehen die immer gleichen Gesichter, machen die immer gleiche Arbeit und schlafen im immer gleichen Bett. Flüchten von einem Tag zum nächsten, in der Hoffnung, sich selbst nicht einzuholen. Deswegen ist ihnen der Boden auch so lieb, denn von dort fällt man nicht so hart.‹ »Lauft nur! Lauft! –Platz heißt Flucht! Die Zukunft wird doch immer vor euch liegen.« ›Egal wohin du läufst, sie wird immer vor dir liegen.‹

    Er blickte auf – vor ihm flog ein kleines Stück Papier, das leicht vom Wind getragen, über die Straße tanzte – und seufzte.

    »Hier bin ich nur ein salziger Tropfen in einem Becken voll Süßwasser, ein süßer Tropfen im salzigen Meer. Ich kann nicht das Leben eines anderen leben, nur weil ich Angst habe vor einer Entscheidung! – einer Entscheidung, die längst entschieden ist.«

    Da stand er nun vor seiner Zukunft, diesem weißen Fleck auf seinem Schreibtisch.

    Es war bereits einige Zeit vergangen, seitdem er versucht hatte auf einem Schiff anzuheuern. Er wollte ausbrechen, die Ewigkeit spüren, den süßen Atem des Salzes riechen und die goldene Zunge der Dämmerung küssen. Er wollte jeden Morgen aus seinem Bullauge sehen und das Gefühl haben, dass die ganze Welt vor und hinter ihm liege. Frei zu sein, sich für eine Richtung entscheiden zu können. Doch dieses Vorhaben war gar nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte. Von ihrer Schwierigkeit hatte er sich bereits vor Jahren überzeugen dürfen. Ganz naiv hatte er damals ohne jede Ausbildung versucht Heuer zu finden. Natürlich versank dieser Versuch unbemerkt im Meer. Niemand interessierte sich für einen unerfahrenen Matrosen. Die romantischen Zeiten, wo jeder, sofern er kräftig genug war, einfach irgendwo anheuern konnte, waren längst vorbei. Die Welt war gewachsen und die Ozeane geschrumpft. Es war ihm also gar keine andere Wahl geblieben: wollte er aufs Meer, musste er sich darauf vorbereiten. Er hatte fast alle Hoffnung aufgegeben, sich mit seinem Käfig abgefunden, als dann ein Brief für ihn kam. Ein kleiner weißer Umschlag, der schon vor ein paar Tagen bei ihm angekommen war und seitdem auf seinem Schreibtisch lag – ungeöffnet. Jetzt stand er vor diesem Umschlag, der zu einem Fleck verkommen war und sich perfekt in den Rest seiner Wohnung integriert hatte. Starr vor Angst glotze er ihn an. Dann atmete er plötzlich tief durch, löste sich aus seiner Spannung, setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch und nahm völlig entspannt den Brief in seine Hand.

    Langsam fuhr er mit seinen Fingerspitzen an den äußeren Kanten des Umschlages entlang, bevor er ihn mit einem leichten Schwung umdrehte und auf die Versiegelung blickte. Ohne klaren Gesichtsausdruck hielt er sie mit seinem Blick fest – Dann ging alles ganz schnell: mit einem gewaltigen Ruck riss er den Brief auf, so dass eine kleine Ecke vom Briefpapier mit hinfort gerissen wurde, zog hektisch, aus Angst den Mut zu verlieren, das Papier aus dem Umschlag und entfaltete es. Seine Hände zitterten. Seine Augen strömten über das Papier, rasten orientierungslos hin und her, bis er sich plötzlich zurückfallen ließ, stöhnend aufatmete und der Brief am Ende seines nun kraftlosen am Stuhlrand herunterhängenden Armes, langsam zu Boden segelte.

    Ausdruckslos saß er da. In diesem Moment ging es ihm gar nicht mehr um den Brief, er war einfach nur erleichtert von dieser ihm alle Nerven-raubenden Aufgabe befreit zu sein. Er hatte sich den Brief auch gar nicht durchgelesen, sondern nur wild nach einem Ja oder Nein gesucht. Er war angenommen.

    Langsam versank die Stadt im dämmernden Tag. Die letzten Sonnenstrahlen färbten die Häuserkanten in ein dunkel-leuchtendes Violett und der sanfte Sprühregen ließ die Luft glühend rot leuchten. Einsam flog eine Krähe über die in der Dämmerung verschwindenden Dächer.

    In dieser Atmosphäre stand er am Fenster und schaute der Stadt beim Einschlafen zu. Kleine Spatzen hatten inzwischen die Plätze der spielenden Kinder am Brunnen eingenommen, singend tanzten sie auf dem Wasser. Immer noch liefen vereinzelt Menschen durch die Straßen, verlorene Wanderer des sterbenden Tages. Still blickte er auf die Blüten der Baumäste, die herausragende Kirche, die Häuserreihen, die durch das Licht in den Zimmern Einblicke in die Leben Unbekannter gaben – er liebte es in diese Fenster zu schauen und sich die Geschichten zu ihren Leben zu erzählen. Die Menschen wirken so unbefangen und unbeschwert, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, so selbstbewusst und frei. Ein gelber Kran ragte neben der Kirche hervor und kratze am goldenen Horizont in dem die Krähe schwamm. Leicht konnte er die Umrisse der umliegenden Landschaft erkennen und wenn alles einen, nur einen Moment lang schwieg, konnte er sogar das leise Rauschen des Meeres hören.

    Reglos starrte er noch, als auch die letzten Strahlen der Sonne verschwunden waren und von den grellen Lichtern der Laternen ersetzt wurden, einige Zeit in die Finsternis hinein. Langsam legte sich ein breites und tiefes Lächeln auf sein Gesicht. Er war Glücklich – warum oder worüber war unwichtig.

    (Kapitel 1 – Meridian)

    Es gibt zu viele kleine Welten, die es einem unmöglich machen genau zwischen ihnen zu leben. Darin liegt die wahre Einsamkeit: Nicht seine eigene Welt zu sein.

    Die Sonne stand direkt über dem Hafen und brannte heiß auf ihn nieder. In der Luft lag ein sanfter Sand- und Salzgeschmack. Verschwitzt und mit angestrengten Gesichtern quetschten sich die Menschen wild aneinander vorbei. Der Schweiß diente als wunderbares Schmiermittel, das die Reibungen verringerte und die Menschen wie nasse Fische in der Hand hindurchglitschen ließ. Es war Mittag, er hatte wenig geschlafen und keine Zeit mehr zum Essen gehabt. Verzweifelt stand er in der sich in alle Richtungen bewegenden Masse und suchte nach Orientierung. Er streckte sich, drückte sich mit seinen Zehen hoch, doch er bekam keinen Überblick. Er wusste nicht wie spät es war, er hatte keine Uhr dabei, er besaß nicht mal eine. Wie er rechtzeitig wach geworden war, wusste er selbst nicht. 13 Uhr stand im Brief – 13 Uhr was? Er überlegte, ob er jemanden fragen oder einfach in Richtung der drei großen Schiffe gehen sollte.

    Unentschlossen schaute er in die Menge. In diesem Gewimmel war es eh vollkommen unmöglich jemanden zu fragen. Überall hingen Gesprächsfetzen in der Luft, flüchtige Blicke fielen von einem Ort zum nächsten und ständig stiegen sich die Menschen, auf der Suche nach etwas nicht Identifizierbaren, gegenseitig auf die Füße. Sie würde ihn einfach verschlucken und am anderen Ende wieder ausspucken. Er würde einfach zwischen den glitschigen, nassen Fischen hindurchtanzen, die ihm, am Boden zappelnd, Beifall klatschen würden. Zumindest dachte er das. Stattdessen prallte er einfach an der Masse ab, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Es gab keine Lücke, durch die er hätte hindurch tanzen können. Zurückgestoßen auf seinen alten Platz schaute er erneut, verzweifelt durch die Köpfe zu den Schiffen. Wenn er doch nur wüsste, wie spät es war – so stand er, gezwungen eine Lösung zu finden, vor der Menschenwand und suchte nach einem versteckten Weg. Sorgsam schaute er auf die Menschen, die an ihm vorbei strömten, konzentrierte sich auf jede einzelne Bewegung, jede einzelne Berührung. Langsam löste sich die wilde Masse auf, langsam nahm sie Struktur an, begann Sinn zu ergeben. Stück für Stück löste sie sich vor ihm auf und zergliederte sich in immer kleiner werdende Strömungen. Sie fing an sich vor ihm zu teilen, ihm ihre geheime Struktur preiszugeben. Es war keine sich auf wild durcheinander rennende Menschen beschränkende Masse mehr, keiner lief dort allein, wild oder willkürlich. Es waren kleine Gruppen, die alle zwar in eine eigene, aber bestimmte Richtung rannten. Während die Masse wild und gehetzt wirkte, wirkten die einzelnen Gruppen ruhig und entspannt. Es war eine gewaltige Struktur, die sich vor ihm öffnete, eine Struktur, die keine Regeln, kein Gesetz besaß. Ein natürliches Durcheinander, das nie ihre eigene Form verlor, getrieben von den verschiedenen Richtungen, den verschiedenen Zielen, die sich ständig schnitten, sich erstaunlicherweise aber nie tödlich verletzten. Immer wieder öffneten sich die ansonsten geschlossenen Ströme, um dem Gegenüber zu diesem wilden Tanz aufzufordern – kleine unscheinbare Gesten, ein Lächeln, ein freundlicher Blick, manchmal sogar eine konkrete Handbewegung, die jeden Einzelgänger mit in ihre eigenen Reigen einladen wollte, bevor sie sich wieder schlossen. Fast war es ein Kampf, um den neuen, den unbekannten Tänzer – ein Kampf, der von allen Seiten rief: Wer bist du? Lass mich dich kennenlernen! Diese Struktur eröffnete ihm einen unsichtbaren Weg durch die Masse, das Einzige, was er tun musste, war auf eine neue Lücke, eine neue Öffnung, eine Aufforderung zu warten.

    Es dauerte nicht lange bis sich ihm die Chance zum Tanz bot. Eine hübsche junge Frau lächelte ihm freundlich zu, während sie hinter ihrem Freund, der die Richtung angab, hinterherlief. Schnell verstand er das geheime Zeichen und folgte den beiden. Jetzt war er selbst mitten in der Masse. Nacheinander folgte er Gruppe um Gruppe, wechselte bei jeder Gelegenheit seine Richtung, um immer der Gruppe zu folgen, die ihn näher an sein Ziel brachte. Mal war es eine Gruppe junger Frauen, mal eine Gruppe junger Männer, mal Familien, mal eingeschworene Paare. Er tanzte so viele Tänze, mit so vielen unterschiedlichen Paaren, dass er immer tiefer in Ekstase geriet und vor lauter Tanzen sein Ziel aus den Augen verlor, bis ihn die Masse am Ende doch, ganz unerwartet, wieder ausspuckte.

    Kaum hatte ihn das Menschenmeer ausgespuckt, stand er verwirrt im Nichts. Plötzlich war es leer, er hatte Platz – –

    Jetzt stand er direkt am Hafen, vor ihm, lagen die drei Schiffe. Wie kleine Wellen am Strand sich verlaufen und dann wieder zurück ins Meer flüchten, schwappte auch immer ein kleiner Teil aus der Masse heraus, schaute verwirrt um sich, bewunderte die großen Schiffe und stürmte wieder zurück in den Schutz der Masse, die ihn dankbar wieder verschluckte. Während er selbst noch von dieser Verwirrung eingenommen war, starrte er auf eine Gruppe, die im gebrochenen Chor nach einem Zurückgebliebenen rief, bis schließlich eine junge Frau den Verlorengegangenen an der Schulter packte und zurück zur Gruppe schleifte.

    Er blickte, sich langsam um-sich-selbst-drehend, suchend umher und versuchte, sich nun wieder zu erinnern, was er eigentlich gehofft hatte hier zu finden. Hinter ihm lagen die großen Schiffe, heroisch, fast gewaltsam, ragten sie aus dem Wasser zum Hafen hinauf. Er drehte seinen Kopf und schaute sie über seine Schulter blickend an –

    ›Das soll meine Heimat werden – dieses Ungeheuer?‹

    Von unten hinauf-schauend drückte sich ihre Gewalt noch stärker aus, als sie es sowieso schon tat. Jeden Augenblick drohten sie über ihn herzufallen, ihn zu verschlingen. Er wusste nicht, welches dieser Schiffe seine neue Heimat werden sollte, doch in diesem Moment waren es keine drei, sondern bloß ein einziges Schiff: sein neues Zuhause.

    Es waren nur Sekunden gewesen, die er sie gesehen hatte, doch für ihn stand die Zeit immer noch still. Dabei hatte er sie gar nicht richtig gesehen. Eigentlich sah er nur einen Schatten in der schimmernden Sonne. Kein dunkler Schatten, wie er an der Wand hängt, sondern ein heller, ein brennender Schatten, der alles um sich herum in Dunkelheit hüllt.

    Verschlossen lag seine Tasche in einer Ecke der kleinen Kajüte. Er lag auf dem kleinen Bett und streckte sich. Dabei machte er sich so lang, dass er sich mit seinen Armen an der Wand, die am Ende seines Bettes lag, abdrücken konnte. Dann ließ er die Wand los und verschränkte seine Arme über seiner Stirn. Sein Magen knurrte. Langsam machte sich der wenige Schlaf und das nicht stattgefundene Frühstück bemerkbar. Sein Atem dämmte sich. Er konnte spüren, wie seine Gedanken langsam von ihm wichen und in den Raum hinausflogen – er war kurz davor einzuschlafen. Dann richtete er sich wieder auf und setzte sich an den Rand des Bettes. Gekrümmt saß er da, seine Ellenbogen auf

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