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TRAVULY: Fragmente eines Jahrhunderts
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eBook266 Seiten3 Stunden

TRAVULY: Fragmente eines Jahrhunderts

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Über dieses E-Book

Es gibt Geschichten, die derart unglaubwürdig erscheinen, dass sie selbst für einen Roman kaum Verwendung finden können. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen entstanden vermutlich überdurchschnittlich viele Erzählungen solcher Gattung. Der erste Weltkrieg läutete endgültig das Zeitalter der Versklavung und Vernichtung des Menschen durch die Maschine ein, ein Zeitalter, das am Ende des zweiten Weltkriegs mit der Atombombe einen vorläufigen Höhepunkt erlebte. Seither lässt sich Kriegskunst so zusammenfassen: Aus dem Bomber per Knopfdruck Abertausende von waffenlosen Menschen blitzartig dem Tod überführen, ohne dass die Täter sich jemals vor einem menschlichen Gericht zu verantworten haben. Schuld am Unheil scheint alleine der Knopf zu tragen, der den Abwurf der Bombe auslöst, so wahrscheinlich die Geschichtsschreibung der heldenlosen Siegermächte – der Zweck heiligt die Mittel. Ob die Maschine den Menschen als ebenbürtig betrachtet? - Eines Tages wird man wohl den Maschinengeist und das Maschinengefühl erfinden, welche die Maschinen als solche beseelen werden, etwa auf die gleiche Art und Weise, wie das Maschinengewehr das Gewehr und das Gewehr die Armbrust und die Armbrust die Schleuder und die Schleuder den Stein animiert haben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Okt. 2021
ISBN9783754173794
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    Buchvorschau

    TRAVULY - Chris DEJUSIS

    Maria

    1929

    Es gibt Geschichten, die derart unglaubwürdig erscheinen, dass sie selbst für einen Roman kaum Verwendung finden können. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen entstanden vermutlich überdurchschnittlich viele Erzählungen solcher Gattung. Der erste Weltkrieg läutete endgültig das Zeitalter der Versklavung und Vernichtung des Menschen durch die Maschine ein, ein Zeitalter, das am Ende des zweiten Weltkriegs mit der Atombombe einen vorläufigen Höhepunkt erlebte. Seither lässt sich Kriegskunst so zusammenfassen: Aus dem Bomber per Knopfdruck Abertausende von waffenlosen Menschen blitzartig dem Tod überführen, ohne dass die Täter sich jemals vor einem menschlichen Gericht zu verantworten haben. Schuld am Unheil scheint alleine der Knopf zu tragen, der den Abwurf der Bombe auslöst, so wahrscheinlich die Geschichtsschreibung der heldenlosen Siegermächte – der Zweck heiligt die Mittel. Ob die Maschine den Menschen als ebenbürtig betrachtet? - Eines Tages wird man wohl den Maschinengeist und das Maschinengefühl erfinden, welche die Maschinen als solche beseelen werden, etwa auf die gleiche Art und Weise, wie das Maschinengewehr das Gewehr und das Gewehr die Armbrust und die Armbrust die Schleuder und die Schleuder den Stein animiert haben.

    Der Stein, der Boden für Leben wird, wenn und wo auch immer es einen Tropfen Wasser gibt.

    Nachahmung kennt keine Grenzen in ihrer Schöpfungskraft, so meine Einsicht im Alter der Weisheit: Dem Stein wird Leben eingehaucht, indem man ihn gegen seinen Feind wirft. Demgegenüber lautet die Volksweisheit heute: wenn es Wasser auf einem Planeten gibt, kann man auf Leben schliessen. Welcher These Glauben schenken, wenn man weiss, dass ein Steinwurf unter Wasser sein Ziel kaum erreicht? - Das Unterseeboot als Waffe hat die Vereinigten Staaten dazu veranlasst, in den ersten Weltkrieg einzurücken, eine Ursache, die schlussendlich dazu geführt hat, Europa als Weltmacht zu enthaupten. Fische bewegen sich im Wasser wie Vögel in der Luft und die Maschine ermöglicht dem Menschen dasselbe, jedoch nicht unentgeltlich: Maschinen dienen dem Menschen zu Friedenszeiten, Menschen dienen Maschinen zu Kriegszeiten; wenn Maschinen eines Tages über Krieg und Frieden richten, werden sie sich nicht mehr von Menschen unterscheiden. Vom Stein durch das Wasser zum Himmel empor und zurück als Stein zum Stein, so die Entwicklungsgeschichte vom Steinzeitalter bis morgen, dem Tag des Weltgerichts, gemäss dem Gesetz des Stärkeren. Wie würde eine solche Geschichte lauten, falls das Recht des Schwächeren gelten würde? - Das wollte Frau Freiherrin Maria von Pergola erkunden und erproben, deren Geschichte nicht romanfähig ist, weshalb der Leser sie in keinem Roman finden wird.

    Maria war eine der ersten Frauen, die zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in Wien zugelassen wurden. Nach einer Karriere, die mit Unterbrechungen ziemlich erfolgreich war, gönnte sich Maria eine vorzeitige Pensionierung im Alter von fünfzig Jahren. Sie war dazumal bereits dreimal glücklich geschieden. Sie hatte sich einen jungen Zigeuner, der schön und gescheit war, zum Liebhaber gemacht. Dies erfolgte als Echo auf das Verhalten ihres letzten Ehemanns, der Maria abrupt und schonungslos für eine Liebhaberin verlassen hatte, die über 25 Jahre jünger war als sie. Blutjunges Blut wurde zum Ruf der Stunde, als Maria ein halbes Jahrhundert erreichte, nach wie vor äusserst attraktiv und in vollem Schwung, geistig, seelisch und körperlich. In diesem vorzüglichen Zustand wollte Maria ihrer zeitgenössischen Männerwelt es zeigen: Als Frau ist man nicht nur gleichberechtigt, sondern auch ebenbürtig. Marias Ex-Mann verstarb kurz nach der Trennung an einem Herzinfarkt während eines sportlichen Geschlechtsakts mit seiner neuen Liaison. Am Begräbnis, an dem Maria als geschiedene Witwe neben der fatalen Demoiselle dem gefallenen Hengst die letzte Ehre erwies, bemerkte sie zum ersten Mal den Zigeuner Sole, kaum der Pubertät entronnen, dessen Ausstrahlung sie sofort vollständig vereinnahmte. Sole diente dem alten Gärtner des Friedhofs als Hilfskraft für schwere Körperarbeit, nachdem er einige Wochen vor dem Eingangstor als fliegender Schuhputzer sein tägliches Brot verdient hatte und damit zu einer vertrauten und bald einmal beliebten Gestalt in der Nachbarschaft wurde. Die Uniform, die der alte Gärtner ihm auslieh, verdeutlichte seinen sozialen Aufstieg, ein sprunghafter Übergang von der lauten grauen Gasse in einen farbenprächtig blumigen und nach Zypressen wohlduftenden Hort des Friedens, der fortan für Sole Antriebskraft für weitere Schritte empor der Leiter des Ansehens werden sollte. Es schien daher, dass das Schicksal einer konsequenten Logik folgte, als sich die Wege von Maria und Sole anlässlich dieses Begräbnisses kreuzten. Zunächst fürchtete Maria ein wenig, dass die Verlobte ihres verstorbenen Ex-Gemahls sie der Aufmerksamkeit Soles berauben würde, doch schien der Jüngling in Sachen Schönheitsempfinden Reife der Blüte vorzuziehen. Unter dem dunklen Schleier war es ohnehin kaum möglich, einen Altersunterschied zwischen den beiden Damen wahrzunehmen, die am offenen Grab wie ein Schwesternpaar erschienen. Die junge Liebhaberin verliess nach erfolgter Bestattung die ewige Ruhestätte unverzüglich, wohl aus Aberglaube, sodass es schliesslich Maria oblag, die Beileidsworte der Trauernden entgegenzunehmen, eine Übung, die sie mit würdevoller Gelassenheit geradezu genoss. So verliess Maria als Letzte den Friedhof, alleine, wobei sie an der Pforte Sole eine Banknote in die Hände drückte, die ihm wohl ein Jahresgehalt wert war, mit der Bitte, er möge sich doch um das Gedeihen der Pflanzen gebührend sorgen. Das frische Grab gab Maria den Vorwand, nun dreimal wöchentlich an Soles Arbeitsplatz vorbeizuschauen, kurze unverbindliche Worte und ein Lächeln auszutauschen, bis es nach wenigen Wochen endlich zu einem eigentlichen Gespräch kam. Zunächst wusste Maria nicht so recht, ob Sole einzig und allein ein Mittel stiller Rache sein sollte, ein lustig lustvoller Flirt auf dem Grabmal ihres ehemaligen Gatten. Sole könnte auch bloss als Beweisstück dazu dienen, dass Maria noch über genau so viel Anziehungskraft verfügte, wie der Tote damals, als er sie wegen jenem anderen Weib verlassen hatte, das seine Tochter hätte sein können. Bald begann Maria täglich jeweils frühmorgens das Grab aufzusuchen und verharrte dort, solange der Friedhof leer blieb. Sole füllte eine Giesskanne am Brunnen und bewässerte damit die Ruhestätte vor Marias Augen, die sich am Anblick des Jünglings erfreute. Sie gab ihm sodann ein Trinkgeld, das ihr nie als angemessen erschien, wollte sie doch nicht den Eindruck erwecken, mittels Grosszügigkeit Soles Bereitschaft zu kaufen - Anziehungskraft kraft Geld stinkt in Liebesdingen, was wohl selbst ein verschnupfter Vespasian nicht bestritten hätte. In Marias Vorstellung sollte Sole glauben, sie sei zwar betucht, jedoch vernünftig und sittsam im Umgang mit Geld, was der Wahrheit keineswegs entsprach. Allmählich wurde aus Trinkgeld Geld zum Trinken, zunächst Kaffee und sodann bald auch Wein an der Theke des Biergartens neben dem Friedhof, der den exotischen Namen Jean Valjean Ressuscité trug. Sole verliess immer unbemerkt seinen Arbeitsplatz durch die Gärtnerpforte und gönnte sich eine Pause mit Maria, wobei er seine Uniform zurückliess, um in einem weissen Hemd zu erscheinen, das zu dieser Morgenstunde makellos und noch ohne Schweissspuren war. Er wusste, dass sein Vorsteher diese Abwesenheit nicht bemerken würde, denn er war nach einer schlaflosen Nacht bereits zu dieser frühen Stunde nach dem siebten Gläschen Schnaps einem Tiefschlaf verfallen, der mehrere Stunden dauern konnte, je nach Jahreszeit.

    So kam es zum ersten Geschlechtsakt zwischen Maria und Sole, kaum zwei Wochen nach dem Begräbnis. Er erfolgte innig im Gebüsch hinter dem Grab, während eines heftigen Mairegens in stehender Stellung an einer alten Eiche, nach einem Glas Champagner auf leeren Magen. Und so geschah es, dass sich Maria und Sole jeden Morgen am Grab trafen, dieses bewässerten, sich im Gebüsch eine Ewigkeit lang küssten, als ob ihre Lippen für dieses Werk geschaffen wären. Sie liebten sich wild und feurig und trennten sich nach dieser allzu kurzen Ewigkeit mit einem verzückten Lächeln bis zum nächsten Morgen, wobei sie den Rest des Tages auf einer rosa Wolke schwebten und dafür keines Glases Sekt mehr bedurften. Der Friedhof wurde zu ihrem Paradies auf Erden, über die Süsse der Rache und das blosse Abenteuer hinweg vertiefte sich die Beziehung zwischen Maria und Sole. Maria schloss wahre Liebe nie aus und hatte sich vorgenommen, auch Sole in Anbetracht dieser Möglichkeit zu verführen, den blossen Geschlechtsakt in einen echten Liebesakt zu verwandeln. In ihrem bisherigen Leben hatte Maria bereits etliche Männer betört und verzehrt, ohne indes ihren Hunger nach diesem Wunschtraum stillen zu können. Nach wie vor war sie auf der Suche nach ihrem eigenen Ebenbild - sich selbst in männlicher Gestalt.

    Um die beabsichtigte Eroberung elegant zu vertiefen und zu verfestigen, schlug Maria ihrem Liebhaber vor, neue Bücherregale für die private Bibliothek in ihrem Palast zu errichten. Tatsächlich bewies Sole handwerkliches Geschick, obwohl er keinerlei vorhergehende Erfahrung im Umgang mit Holz hatte, mit Ausnahme der Wartung von Fuhrwerken und Hüttenwagen, mit denen seine Familie durchs Land zog. Sole konnte weder lesen noch schreiben, weshalb ihm Marias Bibliothek zunächst losgelöst von jeglicher Wirklichkeit erschien. Die Bücher mit kurzen Titeln in goldenen oder silbrigen Lettern in Reih und Glied in den Regalen brachte Sole vage allmählich mit Grabmäler in Verbindung, eine Wahrnehmung, die er als angenehm empfand und die ihn gar erregte, liess sie doch die Bilder des Liebesrausches mit Maria im Friedhof wiederaufstehen.

    Maria erteilte Sole mit beträchtlicher Disziplin Unterricht in der deutschen Sprache. Sie lehrte ihn lesen und schreiben. Im Gegenzug brachte Sole ihr Romani, seine Muttersprache, bei. Sie hatten vereinbart, sich gegenseitig die eigene Sprache im Tandem zu lehren. Sole lernte zudem rasch von Maria deren Unterrichtsmethode, die er sodann ihr gegenüber anwandte, was bald zu einem schönen Lernerfolg auf beiden Seiten führte. Dieser Austausch der Muttersprachen trug nicht unwesentlich dazu bei, die Beziehung des Paares von einer anfänglich scheinbar rein körperlichen Liebe, allmählich in eine geistig reichhaltige Gefühlsbindung zu veredeln. Maria, deren Gelassenheit seit Ende der Kindheit unter ihrem Ehrgeiz litt, der sie zu vielseitigen und nicht immer wirklichkeitsnahen Vorhaben anspornte, kam eines schönen Tages auf die gute Idee, aus der neu erlernten Zigeunersprache eine lingua franca für Europa zu entwerfen - die Sprache des machtlosesten Volks. als gemeinsame Sprache für die Völker der machtvollen Nationen. Dieses Vorhaben würde es Europa erlauben, Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten besser standzuhalten, welches nun das Englische als Weltsprache allen Völkern der Erde nach Ende des Ersten Weltkrieges mehr oder minder sanft aufzwang. Maria hatte zunächst gehofft, dass Esperanto oder eine ähnliche künstliche Sprache diese Rolle erfüllen könnte, um in Europa Zusammenhalt im Innern und Vormachtstellung gegenüber der Aussenwelt zu erzeugen. Sie kam indes zum Schluss, dass einzig und alleine eine echte Muttersprache der Verstümmelung widerstehen könne, der eine gemeinsame Sprache zwangsläufig ausgesetzt werden würde, nämlich durch diejenigen, die sie verwenden würden, ohne, dass sie ihre Muttersprache wäre. Maria war der Überzeugung, dass keine künstliche Sprache je zu einer Muttersprache werden könne, weshalb sie immer der grobschlächtigen Abnutzung durch alle, die sie gebrauchten, ausgesetzt wäre. Es machte für Maria auch keinen Sinn, das Rad neu zu erfinden. Es gab in Europa ein Volk der Fahrenden, das überall und nirgendwo zu Hause war, keine Grenzen kannte und wohl daher auch keine Kriege führte, trotz tausender Dialekte sich doch immer und überall unter sich verständigen konnte. Eine Gemeinschaft von Menschen, die über Jahrhunderte hinweg dem Streben nach Macht, nach Geld und nach Beliebtheit einfach die kalte Schulter gezeigt hatte und dafür stets einen sehr hohen Preis zahlte, Unterjochung, Ausschluss und Verachtung erntete, zur Bettelei verurteilt wurde, wenn es von seiner Kunst und seinem Handwerk nicht mehr leben konnte. Als Aussätzige behandelt zu werden, weil die Sesshaften es den Nomaden nicht vergönnten, Freizügigkeit dem Landbesitz vorzuziehen, sei es aus Angst, Abscheu oder Eifersucht

    Wenn man es mit fünfzig Jahren zu keinem eklatanten und nachhaltigen Erfolg gebracht hat, glaubt keiner mehr, dass ein solcher später noch erfolgen könnte - nichts hat weniger Erfolg als Misserfolg, lautet bekanntlich eine Volksweisheit. Maria zog sich daher aus ihrer beruflichen Laufbahn als Rechtsanwältin frühzeitig zurück, um fortan das Leben ohne Ehrgeiz geniessen zu können. Dieser Broterwerb hatte sich ohnehin als äusserst spärlich erwiesen, galt es doch in jener Zeit, sich in einer reinen Männerdomäne zu behaupten, die als Körperschaft keinen Fremdkörper duldete und - nackte Wahrheit füdliblut - steif den Phallus der Vagina vorhielt. Maria konnte sich diesen Wandel erlauben, hatte sie doch von ihrem Vater, einem Erfinder von Turbinen, der dank Patente zu beträchtlichem Vermögen gelangte, eine Erbschaft erhalten, die es ihr erlaubt hätte, über mindestens drei Generationen hinweg vollkommen sorglos ein Dasein in Saus und Braus zu geniessen. Bekanntlich macht zu viel Geld genauso wenig glücklich wie zu wenig davon, weshalb Maria sich entschloss, einen Lebensstil zu pflegen, der sich weder als üppig noch als spartanisch gestaltete. Sie forderte das gleiche Mass an Gleichmässigkeit von ihren drei Töchtern, denen sie ein Studium in angesehenen Universitäten finanzierte, wobei die ausgewählten Disziplinen Vielfalt vorwiesen: Medizin, Kunstgeschichte und Mathematik. Maria pflegte zu ihrem Nachwuchs eine herzliche und fröhliche Beziehung. Sie bedauerte zwar, dass keine Tochter eine Künstlerlaufbahn in Angriff nehmen wollte, was für Maria bei entsprechender Begabung den Inbegriff der Berufung, der Leidenschaft, ja der Vollkommenheit - des Menschseins überhaupt bedeutete. Zum Trost freute sich Maria jedoch umso mehr um die ausgezeichneten akademischen Leistungen ihrer Töchter, die alle drei den Ehrgeiz vorwiesen, nicht nur zu promovieren, sondern gar einen Lehrstuhl als Hochschulprofessorinnen anzustreben. Auch auf der Ebene des Gefühls gab es nichts zu bemängeln, hatten doch alle drei Töchter dem Anschein nach charmante und elegante Verlobte, mit denen Maria vorzüglich auskam. Das nicht eingelöste Erfolgsversprechen der Mutter war somit an die drei Halbschwestern delegiert, was auch deren drei Vätern in den Kragen passte, zumal diese von ihren jeweiligen Töchtern geradezu bezaubert waren und auch untereinander freundlich verkehrten, hahnenstolz über die Brut. Alle drei Töchter stammten aus ausserehelichen Verhältnissen, denn es fehlte Marias drei Ehemännern jegliche Zeugungskraft. Die Existenz der Töchter dank Liebhabern und das Fehlen von Nachkommenschaft aufgrund der Unfruchtbarkeit der Gatten hatte dazu geführt, dass Maria sich dreimal scheiden liess, was beim zuständigen Gericht in Wien bald ein Aufnahme in den Fundus der skurrilen Anekdoten fand. Anlässlich des zweiten Scheidungsverfahrens verurteilte ein ewiggestriger Richter Maria, eine erneute Heirat in den folgenden fünf Jahren zu unterlassen. Maria, die damals im Begriff war, ihren dreissigsten Geburtstag zu feiern, legte gegen das Urteil erfolgreich Rekurs ein, was zu einer ausführlichen Berichterstattung des Prozesses in der Tagespresse führte, und zwar durch einen Journalisten, den Maria im Jahr darauf ehelichte – der dritte Ehemann, der nun auf dem Friedhof ruht, wo Maria ihren neuesten Liebhaber, den sonnigen Sole, finden würde.

    Maria nahm sich vor, Sole über ihr vergangenes Liebesleben nichts zu verraten. Sie griff zur Lüge, wonach ihre drei Töchter von ihrem soeben verstorbenen ehemaligen Ehemann stammten, von dem sie wegen Ehebruchs seit mehreren Jahren geschieden lebte. Sole war diese Geschichte gleichgültig und er schenkte ihr deswegen lediglich einen gutmütig gelangweilten Glauben. Er genoss zunehmend seinen neuen Lebenswandel, weshalb er sich von seiner minderjährigen Verlobten insgeheim getrennt hatte, um sich fortan ausschliesslich und vollkommen Maria hinzugeben. Marias Töchter, mit ihren Studien an Hochschulen im Ausland beschäftigt, hatten keine Ahnung von der neuen Affäre ihrer Mutter, was dieser das heitere Gefühl bescherte, vogelfrei zu sein. Sie glaubte zu wissen, dass diese Leichtigkeit des Daseins kaum Bestand haben würde, zumal Wien wegen der braunen Pest, die immer breitere Bevölkerungsschichten vereinnahmte, zunehmend an gelassener Weltoffenheit, vergnügtem Geist und spielerischer Lebenslust einbüsste – die Hauptstadt des ehemaligen Kaiserreichs verkam allmählich zu einem kleinen maroden Dorf, wo massloses Saufen am Stammtisch die Gemüter zum bald nicht mehr abzuwendenden Anschluss weich wusch - Verrohung durch Erosion des Guten und des Schönen und des Wahren.

    Maria liess sich von Sole ins Burgtheater begleiten, Sole verführte Maria zum Boxkampf. Maria entdeckte Wiens Unterleib, Sole deren Kopf, und beide wunderten sich darüber, wo in diesem Irrgarten das Herz zu finden war. Sie genossen zu zweit eine wahrhaftig klassenlose Gesellschaft, deren Tore eine körperliche Anziehungskraft geöffnet hatte, die sich nun in reine Liebe zu verwandeln schien. Es war dies die Zeit des Reinheitswahns und mitten darin betrachteten sich Maria und Sole als reine Verkörperung der reinen Liebe, die keine andere Art von Reinheit zulassen würde, selbst und vor allem keine Rassenreinheit. Maria hatte ihre Eltern bereits vor etlichen Jahren verloren, den Vater an einen Herzinfarkt und die Mutter an einen Krebsleiden. Soles Mutter war kaum älter als Maria, doch hätte man ihr mindestens zehn bis fünfzehn Jahre mehr gegeben, als aus ihrem gefälschten Ausweis hervorging, der ihr bald einen Zigeunerstern bescheren würde.

    Maria schlug Sole vor, dass seine Mutter und seine zwei jüngeren Brüder in eine kurz zuvor frei gewordene Wohnung ihrer Liegenschaft einziehen sollten, ansonsten Maria sie wieder an Fremde vermieten würde. Das grossbürgerliche Haus, günstig in der Stadtmitte gelegen, gehörte Maria seit mehreren Jahrzeiten. Sie hatte es in sieben geräumige Mietwohnungen mit üppiger Einrichtung aufgeteilt, die einen äusserst komfortablen Ertrag erzeugten. Um indes Spannungen zwischen der kleinen Zigeunerfamilie und den übrigen Mietern zu vermeiden, die allesamt wohlhabenden und konservativen Schichten angehörten, wollte Maria zunächst für den guten Anschein sorgen. Es wurde daher vereinbart, dass Maria ihrem Liebhaber, dessen Mutter und Geschwistern Unterricht in gutbürgerlichem Denk- und Verhaltenssitten erteilen würde und dass im Gegenzug Soles Sippe nun gemeinsam Maria die Muttersprache der Zigeuner vertieft beibringen würden - nach dem Anfängerkurs mit Sole sollte ein Unterricht für Fortgeschrittene folgen. Bald wurde Maria jedoch bewusst, dass sie nebst Etikette in vermeintlich guten Manieren auch komplexere didaktische Methoden im Sprachunterricht ihrer neuen Schulklasse zu vermitteln hatte. Selbst für eine begabte Deutschlehrerin wäre diese Aufgabe herausfordernd gewesen, in Anbetracht der Tatsache, dass Sole, seine Mutter und Geschwister Lesen und Schreiben noch kaum beherrschten. Maria wollte sie ambitiös zu den ersten Lehrerinnen und Lehrern einer neuen gemeinsamen Sprache für Europa ausbilden - ein Experiment, das fortan einen grossen Anteil ihres Lebensinhaltes ausmachen würde. Doch zunächst ging es darum, in ganz trivialen Aspekten die neuen nachbarschaftlichen Verhältnisse unter Marias Mietern zu gestalten. Es gab zwei Lösungsansätze: entweder die geldlosen Zigeuner an die Sitten der zahlungsfähigen Bürger anzupassen oder umgekehrt. Letztere Lösung war offensichtlich nicht machbar, dies bereits aus dem einfachen Grund, dass überhaupt kein Anreiz für die Sesshhaften vorlag, sich den Fahrendene anzunähern. Ein Dach über dem Kopf und überdies eine Bleibe, die der Durchschnittsbürger (sofern es einen solchen überhaupt gibt) als luxuriös bezeichnen würde, hätte hingegen einen gewissen Anreiz für eine Gleichschaltung oder für eine „Motivation zur Assimilation" für Sole und seine Familie hergeben sollen - es sei hier nebenbei bemerkt, dass Marias Vorliebe für die französischen Sprache sie zu einem regen Gebrauch von Fremdwörtern lateinischen Ursprungs verleitete, der den Zeitgeist verklären sollte.

    Es war für Sole und seine Angehörigen indes nicht geheuer, sesshaft zu werden und damit liebgewordene Eigenarten und Traditionen des Nomadentums vor der Öffentlichkeit zu verbergen, als ob es dafür irgendeinen Grund zum Schämen gäbe. Der soziale Status erscheint bekanntlich als relativ und somit niemals losgelöst von der Gesellschaft, der man angehört. Erachtet sich eine Minderheit als fremd, so herrschen zweierlei Wertvorstellungen nebeneinander: die der zahlenmässig minderen Gemeinschaft sowie diejenigen der Mehrheit. Beide Gruppen unterhalten manchmal friedliche, manchmal feindliche Beziehungen oder auch nur blosse Gleichgültigkeit zueinander. Kann die eine Seite Beliebtheit für ihre Wertvorstellungen bei der anderen erzeugen, so kann dieses Wertschätzung zu einer Übernahme eben dieser Wertvorstellungen kommen. Sesshaftigkeit konnten sich Sole, seine Mutter und seine Geschwister jedoch nicht als Wert vorstellen, der es wert war, im Leben angestrebt bzw. übernommen zu werden. Das Gleiche galt für gutbürgerliche Bekleidung, den akzentlosen Gebrauch der hochdeutschen Schriftsprache und für so mancherlei andere Wertvorstellungen und deren Ausdrucksformen, welche im Wien der Zwischenkriegszeit Beliebtheit innerhalb der zahlenmässigen Mehrheit genossen. Die kleine

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