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Kostrows Wahrheit
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eBook584 Seiten7 Stunden

Kostrows Wahrheit

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Über dieses E-Book

Was kann man tun, wenn die Realität anders ist als gedacht? Privatermittler Jokim Kostrow fühlt schon seit einiger Zeit, dass sich die Dinge ändern. Auf seine Heimatstadt München rollt eine dunkle Bedrohung zu, die sich nicht konkret fassen lässt. Zusammen mit seinem Partner Stephan Sieblat kommt er einer monströsen Verschwörung auf die Spur, die die Stadt ins Chaos stürzt. Das ist nur eine von mehreren Erfahrungen, die Kostrows Welt auf den Kopf stellen. Er muss erkennen, dass Deutschland nicht das ist, was es zu sein vorgibt. Gleichzeitig manifestiert sich in ihm eine Realität, die ihn geradewegs in eine tiefgreifende Identitätskrise führt. Jokim Kostrow wird klar, dass Wahrheit nicht der fest umrissene Begriff ist, für den er sie stets gehalten hatte. - "Seit ich dieses Buch gelesen habe, sehe ich Deutschland mit neuen Augen." - Wolfgang Schäuble
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Apr. 2021
ISBN9783753185774
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    Buchvorschau

    Kostrows Wahrheit - Emil Horowitz

    Phase 1 \\ 4. August – 23:14 Uhr

    Das sanfte Rauschen des niemals versiegenden Stadtverkehrs auf der entfernten Ringstraße wirkt beruhigend auf ihn, ganz so, als würde die Klangkulisse zur Einrichtung gehören.

    Es ist schön mit dir, sagt Sira. Sie fühlt die angenehme Wärme seiner nackten Haut an der ihren. Immer wieder schön.

    Behutsam löst er sich von ihr, legt sich neben sie. Durch den schmalen Spalt, den die Vorhänge offen lassen, schimmert die neonbeleuchtete Nacht herein. Ich habe mich nach dir gesehnt. Er sollte nicht so empfinden, aber Sira wirkt wie eine Droge, hat es schon immer getan.

    Sie dreht sich zur Seite, sieht ihn prüfend an. Trotzdem denkst du an sie.

    Der erste Impuls: leugnen. Ich bin nur bei dir.

    Sira lächelt auf diese traurige Weise, die Sira zu dem macht, was sie ist. Dein Körper ist es.

    Du weißt, wie wichtig du mir bist. Merkwürdig, es geht ganz leicht von der Zunge, muss wohl die Wahrheit sein.

    Sira lächelt nicht mehr. Auf eine gewisse Weise stimmt das wohl.

    Er blickt in das ebenmäßige Gesicht. Wie immer versinkt er in der mystischen Schönheit der indischstämmigen Frau. Wie immer regt sich sein Gewissen.

    Sira liest in ihm, wie nur sie es kann. Mach dich nicht verrückt.

    Ich mache mich verrückt?

    Mir ist klar, wie es um uns steht. Ich kann damit leben.

    Ihr Blick lässt sich nur schwer deuten. Kannst du das?

    Das Lächeln kehrt zurück. Zugegeben, es ist nicht das, was ich mir wünschen würde. Aber es ist besser als ein Leben ohne dich.

    Zärtlichkeit überflutet ihn. Er zieht sie an sich, gibt sich der Leidenschaft des Kusses hin, dem sie sich bereitwillig öffnet.

    Als Kostrow aus dem Schlaf hochschreckt, ist noch immer Nacht. Vage glaubt er, den Grund für das Erwachen zu kennen. Da war ein Traum. Miriam kam darin vor. Ein Kino. Mit Miriam im Kino? Nein, anders.

    Miriam auf der Leinwand. Ja, so ist es richtig. Miriam auf der Leinwand, er selbst im Zuschauerraum. Großaufnahme. Das ganze Kino erfüllt von Miriams Gesicht. Sie sagt etwas. Er kann nichts verstehen, obwohl der Ton laut ist, sehr laut sogar. Was sagst du, Miriam? Sprich deutlicher!

    Plötzlich ist alles klar hörbar. Nur ein Satz. Der Satz, der ihn aus dem Schlaf gejagt hat. Ich hasse dich.

    Er blickt zur Seite. Sira ist wach, beobachtet ihn aufmerksam. Alptraum, flüstert er.

    Das dachte ich mir.

    Habe ich ... habe ich etwas gesagt?

    Nur ein Schrei.

    Ein Schrei?

    Keine Sorge, nur leise.

    Er lässt sich auf das Kissen zurückfallen.

    Wirst du trotzdem bleiben? Ihre Stimme dünn, kaum hörbar.

    Bleiben? Warum sollte ich nicht?

    Sira stützt sich auf dem Ellenbogen ab. Dein Traum.

    Was ist damit?

    Wir wissen beide, wovon du geträumt hast.

    Er stößt die Luft aus. Warum abstreiten?

    Es ist auch für dich nicht einfach, das ist mir schon klar, sagt Sira.

    Vielleicht solltest du nicht so nachsichtig sein.

    Ja, vielleicht.

    Er setzt sich auf. Wie kannst du das nur ertragen?

    Wieder dieses traurige Lächeln. Es ist nicht leicht.

    Vielleicht sollten wir ... Nein, das nicht.

    Zu spät. ... es beenden?, ergänzt Sira.

    Nur dir zuliebe. Es ist einfach nicht fair, was ich dir zumute.

    Möchtest du es beenden?

    Natürlich nicht.

    Ihr Blick geht ins Leere. Miriam wäre sicher glücklich darüber.

    Ja, wahrscheinlich.

    Ich wäre es an ihrer Stelle.

    Kostrow streicht sanft über ihr Haar. Lass uns nicht von Miriam sprechen, in Ordnung?

    Für eine Frau, die ich noch nie getroffen habe, beeinflusst sie mein Leben ziemlich intensiv.

    Miriam weiß nichts von uns.

    Glaubst du das wirklich?

    Sie hat keinen Beweis.

    Beweise zählen hier nicht. Sie fühlt es, verlass dich darauf.

    Seine Gedanken schweifen zurück zu dem verwehenden Traum. Ich hasse dich.

    Mist!, bricht es aus Kostrow heraus.

    Phase 2 \\ 5. August – 8:44 Uhr

    Durch die sich öffnende Lifttür sieht er den Mann, der dabei ist, die Reste der Beschriftung von der Glastür des Büroeingangs zu entfernen. Der Handwerker blickt ihm entgegen. Gut, dass Sie kommen, Herr Kostrow, ich wollte gerade anfangen.

    Schön, in Ordnung, murmelt Kostrow zerstreut.

    Und was soll es sein?

    Wie bitte? Die Gedanken sind noch bei Sira.

    Der Name.

    Welcher Name?

    "Ihr Name! Sie wollten noch darüber nachdenken."

    Die Erinnerung will sich nicht einstellen. Worum geht es hier?

    Der Handwerker blickt ihn geduldig an. Schließlich zieht er einen zusammengefalteten Zettel aus der Brusttasche seines Arbeitsmantels. Er entfaltet ihn und hält ihn Kostrow vor die Augen.

    Kostrow & Partner

    Jokim Kostrow & Partner

    Jokim Valerian Kostrow & Partner

    Welche Variante wollen Sie?

    Die Erinnerung ist wieder da. Der neue Firmenname. Die Streichung des Zusatzes Detektei. Die Form der Namensnennung. Wie entscheiden?

    Ist Stephan schon da?

    Wer?

    Stephan Sieblat, mein Partner.

    Ich glaube nicht.

    Ich gebe Ihnen in fünf Minuten Bescheid, in Ordnung?

    Kein Problem, ich muss die Scheibe sowieso noch reinigen.

    Er betritt die Agentur. Hinter dem Empfangsbereich steht die Tür zum Chefbüro halb offen. Frau Geist ist noch nicht da, ihr Dienst beginnt erst in einer Viertelstunde. Aber Stephan könnte noch hier sein.

    Er betritt das leere Büro. Schade. Wenn es um Entscheidungen geht, ist Stephan unschlagbar. Sein Partner weiß immer, welche Alternative zu wählen ist. Kostrow bekommt schon Probleme, wenn es darum geht, eine Sorte für den Frühstückstee auszusuchen. Wie also soll der Firmenname lauten?

    Kostrow & Partner

    Etwas dünn. Und unpersönlich. Dann lieber der volle Name.

    Jokim Valerian Kostrow & Partner

    Wichtigtuerisch. Wer soll sich das merken?

    Jokim Kostrow & Partner

    Klingt vernünftig. Zu vernünftig? Schließlich geht es auch um das Image. Hervorragend. Ich bin so weit wie zuvor.

    Herr Kostrow?

    Er geht wieder zur Glastür, wo der Handwerker ihm wartend entgegensieht. Ich wäre dann so weit. Also, was soll es sein?

    Schweigend tippt Kostrow auf die dritte Variante. Wenn schon, denn schon. Jetzt nur nicht lange darüber nachdenken.

    Das Telefon summt. Er geht zur verwaisten Empfangstheke und nimmt den Hörer ab. Jokim Valerian Kostrow und Partner, guten Tag. Fürs Telefon zu lang, eindeutig.

    Wieso gehst du nicht ans Handy? Miriam klingt verärgert.

    Handy. Es ist noch immer abgeschaltet. Ich werde unvorsichtig. Der Akku war leer. Es hängt noch am Kabel.

    Der Akku war leer.

    Genau.

    Unglaublich, wie oft so etwas geschieht.

    Gar nicht oft. Ich habe nur vergessen, das GPS wieder abzuschalten.

    Schweigen.

    Hast du angerufen, um herumzumeckern, oder gibt es sonst noch etwas?

    Der Job erledigt?

    Falls du die Observation meinst, die war nicht ergiebig.

    So ein Pech.

    Jetzt ist es genug. Für mein schlechtes Gewissen bin ich selbst zuständig, ich brauche kein Publikum. Sag mal, bist du auf Streit aus?

    Überhaupt nicht.

    Dann würde ich sagen, du rufst wieder an, wenn du bessere Laune hast.

    Schweigen.

    Gut, ich lege dann auf.

    Nein, bleib da. Miriams Stimme nun sanft. Tut mir leid.

    Sag mal, was ist eigentlich los?

    Ach, gar nichts. Bin wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden.

    In Ordnung.

    Eigentlich wollte ich ja fragen, ob wir heute zusammen Mittag essen können.

    Prima Idee.

    Tartufo Nero?

    Warum nicht?

    Zwölf Uhr?

    Aber bitte sei diesmal pünktlich, ich hasse es, in einem Lokal herumzusitzen und zu warten, besonders, wenn ich Hunger habe.

    Wie der Herr befehlen. Großer Massa, er stark.

    Kostrow muss grinsen. Na, dann sei mal eine brave Sklavin und tu, was der Massa sagt.

    Träum weiter.

    Du hast damit angefangen.

    Bis zwölf, Schatz, sagt Miriam und legt auf.

    Während er den Hörer auf den Apparat legt, betritt Frau Geist den Empfangsraum, vorbei an dem Handwerker, der gerade damit beginnt, den Nachnamen an die Scheibe zu reiben. Etwas nicht in Ordnung mit dem Telefon?

    Doch, wieso?

    Die korpulente, fünfzigjährige Empfangskraft geht um die Theke herum, stellt ihre riesige Schulterriementasche in einer Ecke ab und setzt sich auf ihren Bürostuhl. Es sah so aus, als würde es nicht funktionieren.

    Natürlich funktioniert es. Ich habe eben mit Miriam gesprochen.

    Warum ruft sie nicht an Ihrem Handy an?

    Nicht Sie auch noch! Ich wurde schon von Miriam verhört.

    Sybil Geist kramt eine riesenhafte Tüte fettfreier Brotchips aus ihrer Tasche und legt sie neben die Computertastatur. Die wird schon wissen, warum.

    Also wirklich, Frau Geist. Sie wissen genau, wie loyal ich bin.

    Na sicher. Das hat mein Schleimbeutel von Exmann auch immer gesagt.

    Wir sind nicht alle so.

    Von Sybil Geist ist ein trockenes, lustloses Lachen zu hören. Sie blickt auf die neue, fast fertiggestellte Firmenbezeichnung, die sie durch die Glastür in Spiegelschrift abliest. Bisschen protzig.

    Was, der neue Firmenname?

    "Jokim Valerian Kostrow und Partner. Klingt nach einer Anwaltskanzlei für Auftragskiller."

    So heiße ich nun mal.

    Wann hat Sie das letzte Mal jemand Valerian gerufen?

    Ich dachte mir, ein bisschen offizieller ist gut fürs Image.

    Frau Geist zuckt die Achseln. Sie reißt die Tüte auf und steckt zwei Chips gleichzeitig in den Mund.

    Wohl bekomm's.

    Faschd geine Galorien, nuschelt Sybil mit vollem Mund. Brotkrümel fliegen umher.

    "Aber Frau Geist. Sie müssen doch nicht aufs Gewicht achten."

    Durch Einschleimen wird der neue Firmenname auch nicht schöner.

    Sie werden sich schon daran gewöhnen.

    Aber am Telefon bleibt es beim Alten.

    Ganz, wie Sie meinen, Frau Geist, seufzt Kostrow.

    "Übrigens, um zehn Uhr kommt Herr Muhrmann von Westworld Analytics."

    Schreck am Morgen. Wann hat er angerufen?

    Gestern Nachmittag.

    Und er wollte einen persönlichen Termin, nicht einfach telefonieren?

    Richtig.

    Reklamation?

    Neuer Auftrag.

    Oh. Das kommt unerwartet, nach der schwachen Leistung beim letzten Mal. Offenbar macht er nicht die Agentur dafür verantwortlich. Na, dann stürze ich mich mal in die Arbeit. Auf mich warten drei Abschlussberichte. Er macht sich auf den Weg ins Chefbüro. Sybil Geist steckt sich eine Handvoll Brotchips in den Mund.

    Phase 3 \\ 5. August – 11:51 Uhr

    Kostrow überlegt, ob er auf der Terrasse Platz nehmen soll. Die von der Mittagssonne durchglühten Steinplatten am Sebastiansplatz und die von ihnen aufsteigende Hitze sprechen trotz der großen Sonnenschirme dagegen. Kostrow betritt das angenehm gekühlte, noch schwach besetzte Restaurant.

    Enzo Milano geht auf Kostrow zu. Buona giornata, Signor Jokim.

    Hallo Enzo. Kann ich meinen üblichen Tisch haben?

    Kein Problem. Der glatzköpfige Chef des Tartufo Nero weist mit einer vagen Geste in den hinteren Teil des Lokals, führt Kostrow dann zu einem kleinen Ecktisch neben dem großen, in die Wand eingelassenen Aquarium, in dem sich acht Kois tummeln.

    Der athletische Wirt rückt Kostrow den Stuhl zurecht. Der Privatdetektiv zeigt auf das Aquarium. Ehrlich gesagt, ich verstehe immer noch nicht, was das soll.

    Milano lächelt. Japanische Karpfen in einem italienischen Restaurant?

    Kois sind schön, wunderschön sogar, aber hier – nichts für ungut – ist das nicht ein Stilbruch?

    Der Wirt lässt den Blick durch sein im modernen, italienischen Stil gehaltenes Restaurant schweifen. Italienisches und japanisches Design haben verwandte Elemente.

    Tatsächlich?

    In ihrer reinen Form neigen beide zu Minimalismus.

    Nachdenklich blickt Kostrow auf die großzügig platzierten Tische und Stühle aus hellem Holz. Ja, vielleicht.

    Enzo Milano legt eine Speisekarte vor Kostrow auf den Tisch. Ein Glas Montepulciano?

    Nein, ich warte noch.

    In Ordnung.

    Irgendetwas an den Kois stört Kostrow, hat ihn schon seit dem ersten Besuch gestört. Wer kümmert sich eigentlich um die Fische? Kois verursachen doch jede Menge Aufwand.

    Milano, der sich bereits abgewendet hat, dreht sich wieder um. Das erledige ich selbst.

    Was, Sie? Bei all der Arbeit, die das Restaurant macht?

    Milano lächelt. Jeder Mensch braucht ein Hobby. Er wendet sich ab, geht auf das Reservationspult zu.

    Hobby, von wegen. Da steckt mehr dahinter. Nachdenklich versinkt er in den Anblick der farbenfrohen Fische, folgt ihren unermüdlichen Bahnen durch das große Bassin. Er stellt fest, dass sie sich mit einer gewissen Würde bewegen. Müssen sie wohl, beim Preis eines Kleinwagens pro Fisch. Er stellt sich vor, wie sich ein Koi-Aquarium in seinem Wohnzimmer ausmachen würde.

    Erde an Kostrow. Er erwacht aus seinem Tagtraum. Vor dem Tisch steht Miriam im schwarzen, kurzen Businesskostüm. In Kostrow macht sich Sonnenschein breit. Auf welchem Planeten warst du?

    Er lächelt. Auf dem Planeten Koi.

    Miriam setzt sich über Eck neben ihn. Lassen dir die Fische noch immer keine Ruhe?

    Irgendetwas ist mit diesem Aquarium.

    Und Detektiv Kostrow muss der Sache auf den Grund gehen.

    Er sieht sie an, taucht in ihre hellblauen Augen ein, doch nach kurzer Zeit zieht das Aquarium wieder seinen Blick auf sich. Etwas in der Art, ja.

    Miriam streicht mit zwei Fingern über seine Wange, die Berührung leicht, fast nicht spürbar. Armer Jokim, immer ein Opfer seiner Berufung.

    Mach dich nur lustig.

    Tue ich gar nicht.

    Tust du schon.

    Na ja, ein bisschen vielleicht.

    Kostrow schiebt ihr die Speisekarte zu. Ich mag nichts, sagt Miriam.

    Aufmerksam blickt er sie an. Echt?

    Um diese Tageszeit habe ich oft keinen Hunger.

    "Aber du hast mir doch vorgeschlagen, zum Mittagessen zu gehen."

    Sie blickt in seine Augen. Ich wollte dich einfach sehen. Sie beugt sich zu ihm, haucht einen sanften Kuss auf seine Lippen.

    Seine Besorgnis hält an. Und sonst ist nichts?

    Nein, wirklich nicht. Alles in Ordnung.

    Aber ein Glas Wein trinkst du mit?

    Lieber ein Wasser.

    Kostrow gibt Enzo Milano ein Zeichen. Der Restaurantchef tritt an den Tisch. Was kann ich bringen?

    Ihre Idee mit dem Montepulciano war gut, ein Glas für mich, bitte.

    Sehr gerne.

    Und ein San Pellegrino.

    Klein?

    Kostrow blickt Miriam fragend an. Sie nickt schweigend.

    Ja, klein.

    Er sieht unentschlossen auf die Karte. Die Fusilli Vongole wären heute zu empfehlen, sagt Milano.

    Posano Pesci?

    Genau. Mit dem Kühlwagen direkt aus Mazarra del Vallo geliefert. Vor 16 Stunden aus dem Meer geholt.

    Das ist ein Wort. Einen großen Teller bitte.

    Vielen Dank. Der Wirt macht sich auf den Weg zur Küche.

    Schweigend sehen sie sich an. Du hast mir gefehlt, sagt Miriam nach einer Weile.

    Schwierig, jetzt zu lügen. Du hast mir auch gefehlt. Es kommt ohne Anstrengung über seine Lippen. Also bin ich ein gewissenloser Lügner? Er spürt seinen Gedanken nach, seinen Gefühlen, seinen Erinnerungen. Nein, das ist es nicht. Es war keine Lüge. Sie hat mir gefehlt, trotz Sira.

    Sie versinken in Schweigen. Enzo Milano bringt die Getränke, geht wieder.

    Frau Geist findet den neuen Firmennamen protzig.

    Für welche Variante hast du dich nun entschieden?

    Die lange.

    Miriam blickt ins Leere. Jokim Valerian Kostrow und Partner.

    Ist das wirklich zu protzig?

    Es ist ganz in Ordnung.

    Aber es wäre nicht deine Wahl.

    Ich denke, das kannst du besser beurteilen.

    Also gefällt es dir nicht.

    Der Name muss dir gefallen, nicht mir. Außerdem würde ich die Verantwortung nicht übernehmen wollen.

    Verantwortung?

    Wenn mein Vorschlag sich als schlechte Wahl herausstellt, möchte ich nicht hören, dass ich schuld am Ruin der Firma bin.

    Nun ist es seine Hand, die sanft über ihre Wange streicht. Kätzchen, mach dir keinen Kopf. Es ist ganz allein meine Entscheidung.

    Dann ist es ja gut.

    Die Nudeln kommen. Kostrow macht sich hungrig darüber her. Er spießt zwei Nudeln und eine Muschel auf, hält sie Miriam entgegen. Mal probieren?

    Sie schüttelt schweigend den Kopf. Wie ist eigentlich Stephans Meinung dazu?

    Dem Namen?, sagt Kostrow zwischen zwei Bissen. Keine Ahnung, ich habe ihn noch nicht gesprochen heute.

    Dein geheimnisvoller Geschäftspartner. Wann lerne ich ihn endlich einmal kennen?

    Der ist überhaupt nicht geheimnisvoll. Ein typischer stiller Teilhaber, der im allgemeinen Geschäftsbetrieb nicht auftaucht.

    Merkwürdig.

    Eigentlich nicht. Er meint, dass sich die Beteiligung an einer Detektei nicht gut mit seinem Hauptgeschäft kombinieren lässt.

    Und findest du das auch?

    Kann ich nicht beurteilen. Ich habe ja keine Vermögensverwaltung.

    Nachdenklich nimmt Miriam einen Schluck aus ihrem Glas. Was ist so schlimm daran, an einer Detektei beteiligt zu sein?

    Stephan sagt, es könnte die Vertrauensbasis zwischen der Firma und den Kunden beschädigen. Viele würden sich nicht wohl fühlen, wenn sie wüssten, dass das Unternehmen, dem sie Teile ihres Vermögens anvertrauen, auch Nachforschungen betreibt. Vertraulichkeit ist ein grundsätzliches Element der Branche.

    Miriam blickt nachdenklich auf das Koi-Aquarium. Klingt plausibel.

    Stephan ist eine wirkliche Bereicherung. Er ist ein Wahnsinnsanalyst.

    Bist du selbst auch.

    Nicht wie Stephan. Das ist manchmal schon übersinnlich.

    Miriam sieht ihn an, lächelt. Na gut, Schatz. Ich bin manchmal einfach zu misstrauisch.

    Kostrow denkt an ihr Telefongespräch am Vormittag. Ja, Kätzchen, das bist du manchmal wirklich.

    Phase 4 \\ 5. August – 15:28 Uhr

    Die Jahre lasten auf dir, alle, vom ersten an. Die einsame Gestalt im Garten fühlt, wie die Zeit sich gegen ihn wendet. Willkommener Erfahrungsschatz für die erste Lebenshälfte, dann mehr und mehr Ballast, ein bleiernes Senklot, das den Rücken krümmt, den Blick zum Himmel vereitelt.

    Wie so oft in den letzten Monaten steigt in Paolo Forcone das Bild des Vaters auf. Ein Bild, das schon fast vergessen war, über die Jahrzehnte verblasst, überlagert vom ekstatischen Farbrausch eines außergewöhnlichen Lebens. Ein Leben, das keine Grenzen kennt, alles möglich erscheinen lässt, übliche Regeln außer Kraft setzt. Ein Leben, das sich seinen Weg bahnt wie Lava durch brüchiges Gestein bis zur Eruption über weitem Land, und schließlich der Sturz von der Klippe, der Blitzschlag aus wolkenlosem Himmel.

    Es ist immer dasselbe Bild, das Paolo Forcone erscheint, wie ein verblasstes, zerknittertes und eingerissenes Foto, das man jahrelang ahnungslos mit sich herumträgt, um es in einem unterwarteten Moment aus einer nie genutzten Tasche zu ziehen. Papa. Es ist nicht leicht, dein Sohn zu sein, selbst heute, Jahrzehnte nach deinem Tod. Gefühl ist Schwäche. Rücksichtnahme ist Schwäche. Liebe ist Schwäche.

    Forcone betrachtet das Bild in seinem Inneren, den herrischen Mann, der starr aufgerichtet an derselben Stelle sitzt wie jetzt er, im Schatten von Il Nonno, dem Urbaum des 130 Jahre alten Olivengartens neben dem Familienanwesen.

    Alles, was du jemals wolltest, war ein Nachfolger. Einen capobastone, dessen du dich nicht zu schämen brauchtest. Einen Mann, der dein Werk fortführt. Was du nicht wolltest, war ein Sohn.

    Forcone lässt den Blick durch den Olivengarten schweifen. Die schräg einfallende Sonne des fortgeschrittenen Nachmittags zeichnet durch das feine Blattwerk der alten Bäume rätselhafte Muster auf den Rasen. Vier Generationen haben den Hain entwickelt, gepflegt, kultiviert, seine Früchte geerntet, sie zu edlem Olio Extra Verigine gepresst. Er war immer stolz auf das Öl gewesen, sein Treuegelübde an das Land seines Herzens, Kalabrien, Gottes Paradiesgarten.

    Nicht so Gianna Lucia. Bis zum Tag ihres Todes hatte sie den Garten gehasst. Niemals hatte er sie dazu bewegen können, neben ihm auf der Rundbank um Il Nonno den Sonnenuntergang zu betrachten. Der Garten ist eine Lüge, Paolo. Das waren ihre Worte gewesen, immer und immer wieder. Öl kann Blut nicht abwaschen. Ein wehmütiger Schmerz legt sich auf seine Brust. Gianna Lucia, Ehefrau und Ratgeberin. Sie war sein Halt gewesen, seine Inspiration. Sie hatte ihm Dinge gesagt, die andere mit dem Leben hätten bezahlen müssen. Möge dir die Erde leicht sein, meine Sonne.

    So deutlich wie schon lange nicht mehr empfindet er die Last seiner achtundsiebzig Jahre. Seit Emanueles Tod hat sich alles geändert. Die schier endlose Kraft, die er immer zuverlässig aus seinem Inneren hatte schöpfen können, ist versiegt. Alles, was übrig bleibt, ist Resignation, Trauer, Müdigkeit. Und, darüber schwebend, alles überschattend, der unbändige Wunsch nach Rache. Emanuele, sein einziger Sohn, dem er all die Liebe und Zuwendung geschenkt hatte, die ihm vom eigenen Vater versagt geblieben war. Emanuele, der alle Anzeichen eines überragenden capobastone in sich getragen hatte, überragender als er selbst es jemals gewesen war. Was soll nun werden? Wer soll die Familie führen, wenn Gott mich ruft?

    Hinter der hohen, aus roh behauenem Kalkstein zusammengefügten Gartenmauer hört er einen Wagen ankommen. Eine Minute später betritt ein hoch gewachsener, schlanker junger Mann in einem hellbeigen Anzug und dunkelbraunem, offenen Seidenhemd den Garten. Er blickt kurz um sich, bemerkt Forcone auf der Rundbank, geht auf ihn zu. Salve, zio.

    Buonasera, nipote.

    Raphaele Campovallo blickt seinen Onkel prüfend an. Fühlst du dich wohl?

    Mit Gottes Hilfe, es ist alles in Ordnung.

    Raphaele, dem der gebrochene Blick des Alten nicht entgeht, ist beunruhigt. Bitte verzeihe mir, Onkel, aber ich habe nicht den Eindruck.

    Forcone zwingt sich ein schmales Lächeln ab. Haben wir nicht alle bessere und schlechtere Tage?

    Die Unruhe des Neffen vertieft sich. Vielleicht sollte ich Dottore Pasini bitten, dich zu besuchen.

    Beruhige dich, Raphaele, du musst dich nicht ängstigen. Es waren nur einige dunkle Gedanken. Sie kommen und gehen.

    Bist du sicher?

    Absolut.

    Raphaele setzt sich neben seinen Onkel auf die Bank, blickt ihn von der Seite an. Ich habe eben mit Frederico Pescaro telefoniert.

    Wie steht die Sache?

    Alles läuft programmgemäß. Die logistische Planung ist so gut wie abgeschlossen. Die Beschaffung der Ausrüstung ist bereits angelaufen.

    Das sind gute Nachrichten.

    Allerdings.

    Wie steht es mit den Teufeln? Werden sie kooperieren?

    Raphaele betrachtet seine Hände. Da stehen wir ganz am Anfang. Die Kontaktaufnahme ist ein Hochseilakt. Ein falscher Schritt, und der Schuss geht nach hinten los.

    Aber wir werden es schaffen, nicht wahr?

    Wenn Gott will. Wir tun, was wir können.

    Forcone legt seinem Neffen beruhigend die Hand auf den Unterarm und drückt ihn sanft. Ich habe volles Vertrauen zu dir.

    Onkel, wenn du erlaubst – ist die Einbindung der Teufel wirklich notwendig? Der Plan würde auch ohne sie zum Erfolg führen.

    Forcone blickt Raphaele gerade in die Augen. Der Neffe bemerkt, wie ein Funke des alten Feuers in sie zurückkehrt. So fragen normale Menschen. Aber du, Raphaele, bist kein normaler Mensch. Du wirst der capobastone von Palace sein, vielleicht auch mehr als das. Für dich gelten andere Maßstäbe.

    In Raphaeles Gesicht zeigt sich Erschrecken. Verzeih, Onkel, ich wollte nicht respektlos sein.

    Das ist keine Frage des Respekts, sondern der Führungsstärke.

    Onkel?

    Als capobastone wird dir Macht verliehen, die du zum Wohl der Familie und der gesamten 'ndrina einsetzen musst. Versagst du, stürzt du alle, die auf dich vertrauen, ins Verderben.

    Ich weiß, Onkel.

    Was ich damit sagen will: Deine Pläne müssen besser sein als die normaler Menschen. Deine Pläne müssen alles, was möglicherweise geschehen kann, einbeziehen. Sie müssen sein, als hätte Gott selbst sie geschmiedet.

    Denkst du, Onkel, dass ich scheitern werde?

    Hätte ich dich als capobastone vorgesehen, wenn ich das glauben würde?

    Raphaele senkt den Blick. Nein, Onkel. Es ist nur ...

    Was möchtest du sagen?

    Mir ist bewusst, dass ich nicht der capobastone bin, den du dir gewünscht hättest. Es sind nur die tragischen Umstände, die mich in diese Position gehoben haben.

    Wieder senkt sich ein bleiernes Gewicht auf Forcones Herz. Emanuele, geliebter Sohn. Was soll nun werden? Rasch drängt er die schwarzen Gedanken zur Seite. Natürlich wäre mein Sohn die erste Wahl gewesen, das ist uns beiden klar. Aber da Gott es anders bestimmt hat, bin ich glücklich, einen so fähigen und verlässlichen Mann an meiner Seite zu haben, wie du es bist.

    Raphaele blickt hoffnungsvoll auf seinen Onkel. Ist das wirklich deine Ansicht?

    Sei sicher, ich werde immer hinter dir stehen.

    Raphaele greift sanft die rechte Hand seines Onkels, führt sie zum Mund und küsst sie. Ich danke dir, Onkel.

    Mit Gottes Hilfe wirst du ein großer capobastone werden.

    Schweigend blicken sich die Männer an. Darf ich dich fragen, was das mit den Teufeln zu tun hat?

    Ein guter Plan berücksichtigt Details, Dinge, die auf den ersten Blick keine Bedeutung haben, aber letztendlich über Erfolg oder Misserfolg entscheiden.

    Und die Einbeziehung der Teufel ist ein solches Detail?

    Erst die Teufel machen das strategische Ziel möglich, das wir anstreben.

    Raphaele versinkt in intensive Überlegungen. Inwiefern die Teufel das Projekt positiv beeinflussen können, ist ihm auch jetzt nicht klar. Trotzdem muss er das Thema ruhen lassen, um in der Wertschätzung seines Onkels nicht abzugleiten. Ein begriffsstutziger capobastone? Das würde sein Onkel, der selbst einer der Größten und ihnen ist, nicht dulden. Er wird die Antwort selbst finden müssen.

    Ich habe heute Nacht einen Telefontermin mit einem Vertrauten in der Botschaft, von der wir sprachen, berichtet er seinem Onkel. Ich werde bei dieser Gelegenheit noch einmal Druck machen.

    Tu das, Neffe. Forcone fühlt bleierne Müdigkeit auf sich herabsinken.

    Phase 5 \\ 5. August – 21:04 Uhr

    Wenige Minuten nach einundzwanzig Uhr hört Kostrow die Eingangstür. Kurz danach betritt Stephan Sieblat das gemeinsame Büro. Kostrow blickt von seinem Notebook hoch. Ich dachte, du kommst heute nicht mehr.

    Sieblat setzt sich zwanglos auf eine Ecke des Schreibtischs und schielt auf den Notebookbildschirm. Kommt ganz gut, der neue Name.

    Kostrow folgt dem Blick seines Partners, sucht vergeblich auf dem Bildschirm herum, bis ihm klar wird, was gemeint ist. Ich bin mir nicht mehr so sicher.

    Warum?

    Miriam findet ihn großkotzig, Frau Geist auch.

    Gut.

    Gut?

    Wie viele Prozent unserer Kunden sind weiblich?

    Kostrow stellt eine kurze Überschlagsrechnung an. Etwa sechs Prozent.

    Na bitte.

    Was soll das heißen, na bitte?

    Frauen sind vernünftig, Männer wollen beeindruckt werden. Der Name ist goldrichtig.

    Wenn man's so sieht ... Kostrow fühlt sich augenblicklich wohler. Dann fällt ihm der Vormittagstermin ein. Übrigens, Muhrmann war heute da.

    Weiß ich.

    Kostrow ist verblüfft. Woher weißt du nun das schon wieder?

    Wortlos zieht Sieblat sein Smartphone aus der Innentasche seines Sakkos und wedelt damit herum. Weil Frau Geist zuverlässig alle Termin einträgt, im Gegensatz zu einem gewissen Geschäftspartner, mit dem ich das Pech habe, zusammenzuarbeiten.

    Dumpfbacke.

    Neuer Auftrag?

    Kostrow lehnt sich zurück. Ja, tatsächlich. Ich hätte das nicht erwartet.

    Warum nicht?

    Da fragst du? Nach dem Mist, den wir beim letzten Mal abgeliefert haben?

    War kein Mist. Wir haben den Umständen entsprechend das Optimale geleistet.

    Sehe ich nicht so.

    Wir haben alle Ressourcen genutzt, die für uns erreichbar waren. Damit konnte nicht mehr Substanz entstehen.

    Weißt du noch, wie unser alter Firmenname gelautet hat?

    Was hat das damit zu tun?

    Kostrow und Partner, Detektei.

    Ja, und?

    Detektei, verstehst du?

    Kein Wort.

    Für den Fall, dass das deiner Erinnerung entglitten ist – eine Detektei ist nicht dazu da, erreichbare Ressourcen zu verwerten, sondern sich neue Ressourcen zu erschließen. Gerüchteweise nennt man so etwas Ermittlungsarbeit.

    Haben wir doch versucht.

    Unsere Versuche kann man bestenfalls halbherzig nennen, wenn nicht Schlimmeres.

    Sieblat rutscht von der Schreibtischecke und lässt sich in einen der beiden bequemen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen. Ich räume ein, da ist was Wahres dran.

    Na immerhin etwas.

    Also, wenn ich mal offen sprechen darf – die Sache war so etwas von langweilig, dass ich einfach nicht die erforderliche Motivation entwickeln konnte.

    Und wenn etwas langweilig ist, müssen wir nicht volle Leistung bringen?

    Sieblat hebt beschwörend die Hände. Schon gut, schon gut, ich gelobe Besserung. Aber so lange ich dir bei den Abschlussberichten hilfreich zur Seite stehe, kann uns eigentlich nichts passieren.

    Ach wirklich?

    Siehst du ja bei Muhrmann – neuer Auftrag. Er ist auf meine Argumentation eingestiegen.

    Na toll.

    Und wie ist die neue Sache?

    Langweilig.

    Sieblat stöhnt und reibt sich die Augen. Kostrow holt Luft. Keine Panik, ich werde mich reinhängen, sagt Sieblat schnell.

    Kostrow macht sich wieder an seine Projektplanung, während Sieblat sich im verwaisten Empfangsraum einen Kaffee holt. Ein unterschwelliger Gedanke pocht hartnäckig an Kostrows Unterbewusstsein, stört ihn in seiner Konzentration. Jeder Versuch, den Störenfried zu fassen, führt zu dessen Zurückweichen. Nach einigen Minuten ist die Jagd erfolgreich. Der Gedanke gibt sich zu erkennen: Koi.

    Wieder wendet Kostrow sich von seiner Arbeit am Computer ab, blickt auf seinen Partner, der sich mit dem Kaffeebecher in beiden Händen im Besuchersessel räkelt. Sag mal, könntest du mir bei einer Sache helfen?

    Definiere Sache.

    Hat nichts mit der Agentur zu tun. Da ist etwas, das mir seit einigen Wochen nicht aus dem Kopf geht.

    Liebeskummer? Wenn es um Miriam geht, lass jede Hoffnung fahren. Ich bin in jedem Fall auf ihrer Seite, du Beziehungszombie.

    Nein, nichts in der Art. Ich beobachte da seit einiger Zeit etwas im ... was soll das heißen, Beziehungszombie?

    Vergiss es.

    Nein, jetzt will ich es wissen. Inwiefern bin ich ein Beziehungszombie?

    Ich sagte schon, vergiss es.

    Ich bin kein Beziehungszombie!

    Wenn du es sagst.

    In welchem Kontext könnte ich ein Beziehungszombie sein? Ich liebe Miriam, bin aufmerksam, einfühlsam, treu ...

    Sieblat lässt ein lautes Niesen hören, das entfernt wie Sira klingt. Entschuldigung, leichter Fall von Quatschgrippe.

    Das lässt Kostrow verstummen. In Ordnung, verstanden, murmelt er schließlich.

    Miriam ist eine absolute Traumfrau, die eine Witzfigur wie du nicht verdient hat. Leck dir täglich alle Finger, dass sie sich mit dir abgibt, und überlege, was du da tust.

    Ich sage doch, ich habe dich verstanden. Aber darum geht es gar nicht.

    Sondern?

    "Warst du letztens im Tartufo Nero?

    Dem Italiener am Viktualienmarkt? In letzter Zeit nicht, Marlen steht derzeit auf afghanische Küche.

    Kannst du dich an das Aquarium erinnern?

    Die Kois? Natürlich. Das ist seltsam.

    Du findest das also auch?

    Selbstverständlich. Japanische Luxusfische in einem italienischen Edelrestaurant, da ist eindeutig etwas faul.

    Himmel, bin ich froh. Ich dachte schon, ich fange an zu spinnen. Hast du eine Theorie?

    Genau genommen zwölf.

    Zwölf!

    Alle nicht substantiiert. Da müsste man voll einsteigen, um weiter zu kommen. Aber da es kein Auftrag ist, kümmere ich mich nicht weiter darum.

    Interessiert dich denn nicht, was dahinter steckt?

    Nicht wirklich.

    Also, mich macht das wahnsinnig.

    Dann mach dich doch daran!

    "Geht nicht, ich muss mich auf Muhrmann konzentrieren, Und dann sind da noch die beiden Sachen von Global Automotive, die wollen bis Monatsende einen Zwischenbericht."

    Stephan Sieblat steht auf. Tja, das ist der Fluch des Erfolgs. Er geht in den Empfangsraum und stellt seine Kaffeetasse in die Spüle. Dann bis morgen. Nach einem kurzen Winken verschwindet er durch die neu beschriftete Glastür.

    Phase 6 \\ 6. August – 12:14 Uhr

    Kostrow erinnert sich daran, was Stephan Sieblat über den Münchner Ostbahnhof gesagt hat. Einer der schönsten hässlichen Bahnhöfe Europas. Er blickt durch die Scheibe des Imbissladens auf die belebte Ladenzeile. Die Uhr im Zeitungskiosk gegenüber zeigt vierzehn Minuten nach zwölf. Der mittägliche Stoßverkehr ist in vollem Gange. Auf dem Weg vom Haupteingang zu den Gleisen muss fast jeder hier vorbei, eine überdachte Nabelschnur zwischen Stadt und Reiseverkehr. Trotz der umfassenden Umbauten und Renovierungsarbeiten ist das Ambiente unpersönlich, abweisend, kalt, wie zuvor. Dennoch ist der Bahnhof einer der Brennpunkte des Viertels, den Geschäften der Ladenzeile geht es glänzend.

    Schlagartig, ohne Vorwarnung, überrollt Kostrow eine dunkle Woge tiefster Mutlosigkeit. Es ist, als wäre das bisherige Leben eine lückenlose Abfolge absurder, zielloser und überflüssiger Aktionen gewesen. Es ist, als wäre jedes Bemühen, der Zukunft Inhalt zu verleihen, ein sinnwidriges Vorhaben, aussichtslos, ausweglos. Es ist, als hätte jemand eine strategisch wichtige Sicherung herausgeschraubt. Es ist, als gäbe es eine ganz persönliche Verdammnis, nur für ihn geschaffen. Nein, nicht jetzt, nicht schon wieder! Es wird schlimmer, von Mal zu Mal. Und es wird immer schwieriger, zur Oberfläche aufzusteigen, sie zu durchstoßen und in bewohnbaren Lebensraum zurückzukehren. Kostrow schließt die Augen, versucht, regelmäßig zu atmen, die bisher wirksamste Gegenstrategie. Langsam verwehen die dunklen Schwaden.

    Nach einer gefühlten Ewigkeit, die etwa eine Minute dauert, ist der Anfall überwunden. Luong Thi Han kommt hinter der Ausgabetheke hervor, zwängt sich mit Kostrows Bestellung durch den voll besetzten Imbissladen. Er stellt den Teller auf das schmale Ablagebrett, das vor dem Fenster angebracht ist. Kostrow schüttelt die letzten Schatten ab, blickt den Vietnamesen an. Danke, Luong.

    Immer Freude wenn kommen, sagt Thi Han mit einer leichten Verbeugung und kehrt in den Kochbereich zurück. Der außergewöhnliche Duft der Currywurst auf seinem Teller erinnert Kostrow daran, warum er sich immer wieder freiwillig in die menschenfeindliche Umgebung dieser zugigen Bahnhofspassage begibt. Mit Heißhunger stürzt er sich auf die Wurst. Keine andere Currywurst kann da mithalten, einschließlich aller Currywursttempel Berlins.

    Durch die Scheibe sieht er Michail Lasarew auf den Imbiss zugehen und eintreten. Der Ukrainer drängt sich zwischen den Gästen hindurch neben Kostrow. Komischer Treffpunkt, brummt er anstelle einer Begrüßung.

    Die Currywurst ist es wert.

    Currywurst ist gepresster Dreck.

    Kostrow muss lachen. Ach was, Michail, du hattest nur einen schlechten Start damit. Gönne dir eines von Luongs Meisterwerken, dann wirst du anders darüber denken.

    Ich esse doch keine Currywurst, die ein Chinese macht.

    Erstens ist er Vietnamese, und zweitens sollte man nicht vorschnell urteilen. Probier es einfach.

    Danke, kein Bedarf.

    Na los, Genosse, ich lade dich ein. Mit mürrischer Miene zuckt Lasarew die Schultern. Kostrow wendet sich dem Imbissbesitzer zu, reckt einen Arm hoch und zeigt von oben auf Lasarew, während er mit den Lippen lautlos das Wort Currywurst formt. Thi Han nickt bestätigend.

    Lasarew sieht Kostrow an. Also, worum geht es?

    Kostrow wischt sich mit der kleinen Papierserviette Currysauce aus den Mundwinkeln. Bist du frei?

    Teilweise.

    Kannst du ein Undercoverprojekt übernehmen?

    Kommt drauf an.

    Was soll das nun wieder heißen?

    Das ist abhängig von Termin, Dauer und Manpower.

    Es müsste ziemlich bald losgehen.

    Was heißt bald?

    Diese Woche, am besten innerhalb zwei Tagen.

    Von Lasarews Pokerface ist nichts abzulesen. Wie lange?

    Schwer zu sagen. Es kommt darauf an, wie schnell ihr fündig werdet. Ich schätze, maximal eine Woche.

    Mit wie vielen Leuten kann ich reingehen?

    Wie viele hast du aktuell?

    Drei. Die anderen haben Kontrakte bis zum Quartalsende.

    Thi Han bringt die Currywurst, stellt sie vor Lasarew ab. Der blickt mit Todesverachtung darauf. Nicht wollen?, fragt der Vietnamese besorgt.

    Doch, Luong, alles wunderbar, sagt Kostrow lächelnd. Vielen Dank. Mit einer erneuten Verbeugung zieht sich der Imbisschef zurück.

    Drei Leute und du wären zu auffällig. Schaffst du es mit zwei Leuten?

    Kommt darauf an, was die Aufgabe ist.

    Der Auftraggeber wird gehackt.

    Dachte ich mir schon.

    Es geht vor allem um seine Projektdatenbanken. Da ist offenbar jemand eingedrungen.

    Das kann doch jeder normale Datenanalyst mühelos reparieren. Wozu braucht ihr da eine Undercoveraktion?

    Wie es aussieht, hatten die Angreifer Hilfe von innen. Die implantierten Bots und lokalen Crawler lassen darauf schließen.

    Und wir sollen herausbekommen, wer die Bösen sind.

    So ist es. Ihr geht rein als Mitarbeiter des Systemanbieters, die die Möglichkeiten einer Netzwerkoptimierung prüfen.

    Mit Wissen des Systemanbieters?

    Nicht, wenn es vermeidbar ist.

    Lasarew versinkt in Überlegungen. Geduldig wartet Kostrow auf seine Antwort.

    Könnte funktionieren, sagt Lasarew schließlich.

    Nimmst du an?

    Lasarew blickt auf seine Currywurst. Wenn ich dieses Dreckszeug nicht essen muss.

    Jetzt probier doch erst einmal.

    Aus den Augenwinkeln wirft Lasarew dem Detektiv einen zweifelnden Blick zu. Seufzend schneidet er schließlich ein kleines Stück Wurst ab und steckt es in den Mund. Sekunden später reißt er die Augen auf. Wahnsinn!

    Na siehst du, sagt Kostrow lächelnd.

    "Das ist Currywurst?"

    "Das ist Luongs Currywurst. So etwas findest du auf der ganzen Welt nicht noch einmal."

    Lasarew hat bereits ein weiteres, erheblich größeres Stück in den Mund gesteckt und kaut genussvoll darauf herum. Das ist hervorragend. Wie wird das gemacht?

    Genau genommen sind es zwei Geheimnisse. Das eine ist die Sauce. Niemand weiß, wie er die so hinbekommt.

    Wahrscheinlich vietnamesische Gewürze.

    Gut möglich.

    Und das zweite Geheimnis?

    Kostrow lacht. Das ist die Wurst selbst. Er verwendet koschere Würste aus einer Schächterei in Bad Tölz.

    Koschere Currywurst?

    Könnte man so sagen.

    Genussvoll isst Lasarew den Rest der Wurst.

    Also, was ist? Übernimmst du den Job? fragt Kostrow, nachdem er fertig ist.

    Standardhonorar?

    Wie immer.

    Sag den Leuten, dass wir übermorgen anrücken.

    Kostrow zieht den vorbereiteten Zettel mit Muhrmanns Kontaktdaten aus der Tasche und legt sie neben Lasarews Teller. Sag es ihm selbst. Er klopft dem Hacker freundschaftlich auf die Schulter und geht zur Ausgabetheke, um zu bezahlen.

    Phase 7 \\ 6. August – 20:37 Uhr

    Die Pumpe der Espressomaschine dröhnt lautstark durch die Küche, ihr baldiges Ende vorausahnend. Auch einen Cappuccino?, ruft Kostrow durch die halb geöffnete Tür.

    Gerne, kommt es von Miriam leise zurück.

    Kostrow balanciert die beiden randvollen Tassen über den Gang ins Wohnzimmer, wo Miriam auf der Couch ausgestreckt liegt und in einem Magazin blättert. Es stellt die Tassen auf dem Couchtisch ab, lässt sich in einen der beiden Sessel fallen. Im Fernsehen ereifert sich eine Talkrunde bei heruntergeregeltem Ton über ein fraglos wichtiges Thema.

    Ich hab's immer gewusst, sagt Miriam, den Blick auf einen Artikel in ihrem Magazin gerichtet.

    Was hast du gewusst?

    Du bist emotional belastet.

    "Ich bin was?"

    Emotional belastet. Steht hier.

    Über mich steht etwas in der Illustrierten?

    Nicht über dich persönlich, Torfkopf! Aber die Anzeichen sprechen dafür, eindeutig.

    Anzeichen, aha.

    Hast du Probleme, deine Gefühle zu artikulieren?

    Überhaupt nicht.

    Doch, hast du.

    "Hab

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