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Die JunkieFabrik
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eBook257 Seiten3 Stunden

Die JunkieFabrik

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Über dieses E-Book

Wie schon das Buch "Der Heroin Schuster", orientiert sich auch das Buch "Die JunkieFabrik" an der Lebensgeschichte des Autors.
Eigentlich nicht der klügste Einfall, zwei biografische Bücher über ein und dieselbe Drogenabhängigkeit zu schreiben. Trotzdem ließ den Autor eine Frage nicht los: Wie viel Mitschuld trägt unsere Gesellschaft am entstehen einer Drogenkarriere? Das Buch ist seine Antwort darauf. Um jedoch nichts frei erfinden zu müssen, ist es größtenteils biografisch.

Zum Inhalt: Das Buch soll dem Leser eine Art "Draufsicht" in das Leben eines Drogenabhängigen vermitteln. Wie bei einem Foto, das alle Dinge eines Geschehens festhält und nicht nur die Abschnitte zeigt, die von Medien gerne, in Hinblick auf Drogenabhängige, der Öffentlichkeit präsentiert werden. Es befasst sich nicht mit richtig oder falsch – es will zeigen und soll helfen zu verstehen. Und für diejenigen die einen Weg suchen, soll es eine Hilfe sein.
Es wird kritisch die Rolle unserer konsumorientierten, aber sinnentleerten Leistungsgesellschaft hinterfragt, die Nikotin- und Alkoholkonsum nicht nur billigt, sondern auch zig Milliarden daran verdient - obwohl daran die meisten Menschen zugrunde gehen. Während gegen Konsumenten illegaler Drogen eine wahre Hetzjagd betrieben wird – ungeachtet der Tatsache, dass im Ranking internationaler Studien, Alkohol und Tabak unter den zehn schädlichsten Drogen zu finden sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Aug. 2014
ISBN9783847657774
Die JunkieFabrik

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    Buchvorschau

    Die JunkieFabrik - Alexander Golfidis

    Kapitel 1

    Vorwort

    Dieses Buch ist entlang den Eckdaten, der authentischen Geschichte des Autors geschrieben. Es beschreibt seine über 15 Jahre dauernde Drogenabhängigkeit und führt den Leser schonungslos in den Abgrund der Sucht – beginnend in der wohlbehütenden Atmosphäre einer bürgerlichen Einfamilienhaussiedlung ...

    Der Autor hat in diesem Buch versucht, dem Leser eine Art „Draufsicht" in das Leben eines Drogenabhängigen zu vermitteln – wie bei einem Foto, das alle Dinge eines Geschehens festhält und nicht nur die Abschnitte zeigt, die von den Medien gerne in Hinblick auf Drogenabhängige der Öffentlichkeit präsentiert werden.

    Dieses Buch befasst sich nicht mit richtig oder falsch – es will zeigen und es soll helfen zu verstehen. Und für diejenigen die einen Weg suchen, soll es eine Hilfe sein.

    Dennoch wird in diesem Buch kritisch die Rolle unserer konsumorientierten, aber sinnentleerten Leistungs-gesellschaft hinterfragt, die Nikotin- und Alkoholkonsum nicht nur billigt, sondern auch Milliarden daran verdient (obwohl daran die meisten Menschen zugrunde gehen), während sie gegen die Konsumenten illegaler Drogen eine wahre Hetzjagd betreibt – ungeachtet der Tatsache, dass im Ranking internationaler Studien, Alkohol und Tabak unter den zehn schädlichsten Drogen zu finden sind. 

    Kapitel 2

    Es war ein warmer Tag im Mai. Sascha lag in der Wiese vor seinem Haus und sah in den strahlend blauen Himmel. Im satten Gras um ihn herum erblühten Gänseblümchen und dazwischen lugte ockergelb der Löwenzahn hervor, wie blitzende weiße und gelbe ins Gras geworfene Perlen. Am Horizont, weit oben, sah er einen Vogel seine Kreise ziehen. Sascha musste die Augen fest zusammenkneifen, als er sich langsam in der Weite wie ein Punkt am Himmel verlor.

    Der Garten war von einer grünen Hecke umgeben und davor schlängelte sich eine kleine Straße entlang, an der sich links und rechts ähnliche Häuser befanden – die alle gleich aussahen. Es war eine Einfamilienhaussiedlung.

    Obwohl es sich bei Neuaubing um den Vorstadtbezirk einer Großstadt handelte, lebten die Bewohner dort wie in einem Dorf. Aus Instinkt alles ablehnend was nicht bürgerlich war, wussten sie wenig von der weiten Welt dahinter und waren der Ansicht, ihr Stadtviertel wäre der Mittelpunkt der Welt. Sie lebten wie unter einer Dunstglocke. Ihr Denken war flach und einfach. Trafen sich die Bewohner in ihren Vorgärten, beim Friseur oder beim Bäcker, stimmten sie über das Wetter an, tratschten über die Nachbarn oder sie gaben ihre Ansichten weiter: »Dies und das gehört sich so«, »Der Mensch muss klein sein«, und »Arbeit ist der Welt Lohn.«

    In dieser Umgebung lebte Sascha mit seinen Eltern. Doch nun wollten sich die Eltern scheiden lassen und der Vater war bereits ausgezogen – aber das passierte sowieso in jeder dritten Ehe.

    Sascha war ein schmächtiger Junge, geradezu dürr, ein Windhauch hätte ihn forttragen können. Besonders die Beine waren dünn wie Grashalme. Was er zunächst beim Fußballspielen zu spüren bekam – wenn die Kinder am Sportplatz ihre Mannschaften zusammenstellten und die »Profis« nach und nach ihre Lieblingsspieler aufriefen, war er immer unter den letzten derer, die gewählt wurden.

    Sascha empfand das als Gemeinheit, doch er wusste auch, dass er nicht so schnell laufen konnte wie die anderen. Und Tore schießen … davon war er weit entfernt. Insgeheim gefiel ihm das Fußballspielen gar nicht. Doch dies behielt er für sich, denn für die anderen Kinder war Fußball das Größte.

    Offensichtlich hatte er nichts anderes, um in der Welt der Größeren, Schnelleren und Stärkeren mitzuhalten, außer, dass er ein wenig frech war …

    Manchmal provozierte Sascha größere Kinder. Sobald sie an seinem Gartentor vorbeiliefen, rief er ihnen hinterher: »Hau bloß ab, du blöde Sau, du!«.

    Doch mit Mut konnte man weder Fußballspiele gewinnen noch Stärkere besiegen oder vor anderen davonrennen.

    So wurde Sascha, der reichlich Fantasie besaß, ein wenig zum Tagträumer. Er träumte sich die Dinge einfach schön: Wo er schwach war, träumte er sich stark – wo es wenige gab, die ihn bewunderten, träumte er von vielen, die ihn bewunderten. Alles, was er nicht konnte, aber gern gekonnt hätte, war in seinen Träumen möglich. Oft saß er in der Schule und blickte nach vorne Richtung Tafel wie die anderen Kinder auch, doch in Wirklichkeit war er ganz in seine Träume vertieft.

    Einmal träumte er sich einen Traum sogar so schön, dass er nicht mehr zu unterscheiden vermochte, was Traum und was Wirklichkeit war.

    Ein Nachbarsjunge hatte Sascha erzählt, dass er ein Flugzeug bauen wollte … und Sascha hatte in seinen Gedanken das Flugzeug weiter entworfen und fertig gebaut: Aus Kisten und Brettern hatte er den Rumpf gezimmert. Das Untergestell bestand aus einem alten ausgedienten Kettcar. Die Tragflächen waren aus Spannplatten, je eine oben und eine unten, wie bei einem Doppeldecker. Und der Motor stammte von einem Rasenmäher.

    Nun besaßen der Nachbarsjunge und Sascha ein eigenes Flugzeug. Es wartete in der Garage seines Freundes, bis beide von der Schule nach Hause kamen. Dann würden sie endlich losfliegen und über den Wolken schweben können. Sascha freute sich so sehr, dass er seine Lieblingslehrerin, Frau Walter, in sein Geheimnis einweihte und ihr von dem Flugzeug erzählte. Doch statt sich mit ihm zu freuen, bezeichnete Frau Walter ihn als Lügner. Er wollte ihr noch erklären, dass es doch in der Garage stand, dieses Flugzeug, und beteuerte unter Tränen: »Es ist in der Garage … ganz ehrlich … wir haben es dort zusammengebaut … und es fliegt richtig.« Doch Frau Walter schenkte ihm kein Gehör, sie glaubte ihm kein Wort und behauptete, er würde Lügen erzählen …  

    Manchmal träumte Sascha davon, ein Rockstar zu sein. Zwei Straßen weiter von seinem Zuhause gab es eine große Wiese und dort gab er in seinen Träumereien Open-Air-Konzerte. Er war ein richtiger Rockstar mit langen Haaren, die wild im Wind flatterten. Sascha hatte eine E-Gitarre umgehängt, dazu trug er ein ärmelloses Glitzer T-Shirt und seine Beine steckten in knallengen schwarzen Lederjeans. Die Wiese war mit tausenden Zuschauern gesäumt und alle jubelten ihm begeistert zu.

    Saschas hatte einen Lieblingstraum, den er immer wieder vor sich hinträumte. Er war ein gefährlicher Rocker. Einer, vor dem alle zitterten. Eine feindliche Rockerbande hatte seine Mitschülerin Claudia Pusselt entführt. Sascha war heimlich in sie verliebt.

    Er stellte sich den Rockern in den Weg und kämpfte. Mit ein paar gezielten Schlägen hatte er schnell die Anführer ausgeschaltet und den Rest der Bande in die Flucht geschlagen. Dann trug er Claudia Pusselt auf seinen Armen zu sich nach Hause. Sie war nackt. Die Feinde hatten ihr schon die Kleider entrissen, und er war gerade noch rechtzeitig hinzu gekommen, um Schlimmeres zu verhindern. Vorsichtig legte er sie in seinem Zimmer auf den Tisch und untersuchte ihre Wunden. Dies war Saschas Lieblingstraum …

    Aber Sascha war nicht nur ein Träumer, auf der anderen Seite war er ein aufgeweckter Junge mit vielen Begabungen und in manchen Dingen sogar nahezu genial. So hatte er schon mit neun Jahren damit begonnen, eigenständig Radio- und Fernsehgeräte zu reparieren. Seine Kommode glich einem Ersatzteilschrank mit vielen Kabeln, Röhren, Transistoren und Sicherungen, welche, sobald man die Schranktüre öffnete, in einem bunten Durcheinander herausflogen.

    Es war zwar so, dass jedes Mal, wenn er die Geräte wieder zusammenschraubte, Schräubchen und andere Kleinteile übrigblieben, aber dennoch funktionierten sie einwandfrei. Auch ein paar Stromschläge hatte er schon abbekommen und nicht nur einmal hatte er dabei mehr Glück als Verstand gehabt.

                Als Sascha zehn Jahre alt war, zog er in den Keller. Dort hatte er sein Reich mit mehreren Alarmanlagen gesichert. Wollte man zum Beispiel im Erdgeschoss durch die alte niedere Rundbogentüre, hinter der sich die Kellertreppe befand, hatte Sascha über ein Seilzugsystem am unteren Ende der Treppe eine Puppe an einem Galgen befestigt. Jedes Mal, wenn jemand nun die Türe öffnete, fuhr die Puppe gespenstisch in die Höhe. Dabei hatte sie einen Strick um den Hals gebunden, an dem sie über eine Hebelwirkung nach oben gezerrt wurde. Zur besonderen Abschreckung der nicht willkommenen Besucher war sie mit blutunterlaufenen Augen geschminkt und hatte ein Messer in der Brust stecken.

    Hatte man die erste Hürde hinter sich gebracht und war die Treppe nach unten gelangt, stand man auf der zweiten Alarmanlage. Unter dem Teppich befand sich ein Kontaktblech, welches in einem Bogen über einen Draht angeordnet war. Sobald jemand darauf stieg, leuchtete in Saschas Zimmer eine rote Warnlampe auf. Die dritte Alarmanlage befand sich direkt vor Saschas Kellerzimmer unter dem Fußabstreifer. Wieder ein Kontaktblech. Trat jemand darauf, ging in Saschas Zimmer das Radio in voller Lautstärke an, dabei führte ein Kabel zu einem Lautsprecher, welcher direkt vor der Tür in Kopfhöhe in einem Regal versteckt war. Dieser brüllte dem ungebetenen Gast dann vollgas in die Ohren …

    Außerdem war Sascha manchmal ein richtiges Früchtchen. So hatte er einmal die batteriebetriebene Puppe seiner großen Schwester, die selbstständig gehen konnte, von der Hausecke in den Kellerschacht laufen lassen. Vorher hatte er das Schachtgitter zur Seite geschoben, sodass die Puppe beim Erreichen des Schachts in den Abgrund fiel und sich beim Sturz den Kopf abbrach, was er wiederum nicht beabsichtigt hatte.

    An einem anderen Tag hatte Sascha aus einem alten Blecheimer, einem weißen Laken und zwei zusammengebundenen Bohnenstangen ein Gespenst gebastelt, welches oben an der Bohnenstange in fünf Meter Höhe vor dem Fenster seiner Oma hin und her schwebte. Die Oma bewohnte im selben Haus das obere Stockwerk. Über eine lange Schnur, die Sascha über zwei Hausecken geleitet hatte, bewegte er heimlich das Gespenst, während er ganz unschuldig im Blickkontakt mit dem Rest seiner Familie im Garten saß. Das Gespenst wippte indessen vor dem Fenster seiner Oma wild hin und her.

                Als einmal im Sommer ein Graben für die Kanalisation durch den Garten gezogen wurde, eröffnete Sascha dort eine Rennstrecke für das Meerschweinchen seiner Schwester. Er setzte es in den Graben und spritzte ihm mit dem Gartenschlauch hinterher. Das arme Tier rannte auf der Flucht vor dem Wasser wie der Teufel den Graben auf und ab. Stunden später lag es tot darin und Sascha beerdigte es heimlich. Erst als die Schwester nach tagelangem Bitten und unter tausend Schwüren beteuert hatte, dass sie nichts davon zu Hause erzählen wolle, führte sie Sascha zu dem Grab des Meerschweinchens, welches sich außerhalb des Gartens neben einer Telefonzelle in einem Gebüsch befand. Durch einen schmalen Eingang konnte man durch das Geäst zu einer kleinen Lichtung kriechen. Mit Zweigen hatte er dort ein Kreuz zusammen geknotet. Während er seiner Schwester nicht verriet, wieso das Meerschweinchen im Grab gelandet war, hatten beide noch einmal andächtig Abschied genommen und Blumen auf das Grab gelegt. Saschas offizielle Version lautete, das Meerschweinchen habe einen Herzinfarkt gehabt. Was vermutlich auch stimmte. 

    Kapitel 3

    Die neue Schule

    Als Sascha von der Volksschule zur Hauptschule wechseln sollte, begann für ihn ein Albtraum und seine Kindheit nahm ein jähes Ende. Die Hauptschule lag im Hochhausgebiet - und dort gab es Gangs. Sascha hatte schon öfter durch das fremde Viertel gemusst. Zur Kirche und auch zur alten Schule hatte der Weg ein Stück weit durch das Neubauviertel geführt. Meistens hatte er eine sichere Strecke am unteren Rand des Viertels gewählt, aber an manchen Tagen, wenn er zu viel Angst hatte, machte er einen ganz großen Bogen darum und lief sicher die Hauptstraße entlang.

    Alle mieden das Hochhausviertel, sogar die Erwachsenen. Sie sagten, es hätte einen schlechten Ruf.

    In der Vergangenheit hatte Sascha schon schlechte Erfahrungen in diesem Viertel gemacht: Einmal, als er zum Kommunionsunterricht zu spät dran war, hatte er den Weg durch das andere Viertel abgekürzt. Er war mit dem Rad unterwegs. Am Spielplatz hingen ein paar Jugendliche herum und einer rief ihm nach: »Hey du, komm mal her.« Sascha hatte zwar Angst, aber er war kein Feigling und so fuhr er die paar Meter, die er schon an ihnen vorüber war, wieder mit dem Fahrrad zurück. »Wer is’n des?«, rief einer der Jungs, die sich um ihn herum aufstellten. Zwei der Jungs waren beinahe einen Kopf größer wie Sascha und bestimmt ein oder zwei Jahre älter. Der dritte Junge war in Saschas Alter. Er hatte die Rolle des Rädelsführers übernommen und es war ihm anzusehen, wie sicher er sich mit seinen größeren Freunden fühlte. »Der hat ja Mädchensandalen an«, spottete er. Sascha hatte keine Ahnung, dass er Mädchensandalen anhaben sollte. Er hatte die Sandalen zwar von seiner Schwester geerbt, aber dass es sich demzufolge um Mädchensandalen handeln musste, war ihm nicht klar gewesen. »Das sind keine Mädchensandalen«, gab er trotzig zurück. Und schon schubste ihn einer von seinem Fahrrad herunter. »Jetzt gibt’s Ponches«, hörte er eine Stimme hinter sich und da boxte ihm der etwa gleichaltrige Junge von der Seite ins Gesicht. Sascha wirbelte herum und warf ihn zu Boden. Blitzschnell hatte er ihn überrumpelt und saß auf ihm drauf, so dass dieser nicht mehr zuschlagen konnte. Damit hatte der Gleichaltrige gar nicht gerechnet. Doch dann zogen ihn die beiden Größeren von hinten herunter, und jeder von ihnen kniete sich auf einen von Saschas Armen, sodass er sich nicht mehr wehren konnte. Und der Junge, den er eigentlich schon besiegt hatte, drehte ihm solange die Nasenspitze, bis sie rot und lila leuchtete. Als sie endlich mit ihm fertig waren, ließen sie ihm noch die Luft aus dem Reifen und Sascha musste sein Rad schieben. Seine Jacke war zerrissen, die Fahrradreifen waren platt und aus Saschas Augen rannen unaufhaltsam Tränen. Er hatte so eine Stinkwut. Es war so ungerecht!

    Und nun sollte Sascha dort, in dem Neubauviertel, zur Schule gehen. Er war zwar mutig, aber er war kein Schläger – immer wenn er zuschlagen wollte, hatte er eine Hemmung in sich verspürt und seine Schläge wurden wie von Watte abgebremst. Er konnte einfach niemandem wehtun.

    Sascha stand alleine da. Und so träumte er sich Rache, er wollte auch zu einer Gang gehören, zu einer Rockergang und dann sollten sie alle vor ihm zittern. So wie in seinen Träumen!

    Am ersten Tag in der neuen Schule war Sascha von der gewaltträchtigen Atmosphäre so verängstigt, dass er sich in die Hosen machte. Am Schuleingang hatten zwei größere Schüler einen kleineren blutig geschlagen. Einer hatte den Jungen von hinten festgehalten, der andere hatte davor gestanden und wie beim Fußballspielen mit seinen Füßen auf ihn eingetreten.

    Sascha hatte sich an ihnen vorbeigestohlen und war dann so angstvoll in seinem Klassenzimmer gesessen, dass er sich nicht zu fragen traute, ob er auf die Toilette dürfe. Eisern hatte er es verdrückt. Als der Mittagsgong ertönte, war er aus der Schule gestürmt und gerade, als er durch den Haupteingang kam, konnte er es nicht mehr halten. Ein nasser Fleck prangte pfannkuchengroß vorne mitten auf seiner Hose. Sascha hielt die Schultasche davor und rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her, den ganzen weiten Weg bis nach Hause.

    Den Tag darauf bot sich ihm ein ähnliches Bild. Er hörte lautes Geschrei, als er von dem Teerweg in den mit grauem Schiefer gepflasterten Vorhof zur Schule bog. Kaum war er um die Ecke, sah er in einem Halbkreis angeordnet etwa acht Mädchen, die um eine liegende Gestalt herumstanden.

    Nachdem er noch ein paar Schritte näher heran war, sah er, dass es sich um einen schmächtigen Jungen handelte, der sich Zuflucht suchend am Boden wie ein Igel zusammengerollt hielt. Doch sein eigener Körper bot ihm wenig Schutz. Die Mädchen traten mit ihren Füßen nach ihm. Gemeine, fiese Stöckelschuhe hieben in seinen Leib. Die Anführerin, ein hässliches Mädchen mit einer wild abstehenden Frisur, vielen Pickeln im Gesicht und einem knallrot geschminkten Mund, zog ihn an den Haaren hoch und fuhr ihm mit ihren lila lackierten Fingernägeln quer über das Gesicht. Blut lief über seine Wange und tropfte auf die Pflastersteine. Dann kreischte sie ihm noch eine Drohung ins Ohr: »Nächstes Mal kommst du nicht so leicht davon!« Mit einem kräftigen Schubs stieß sie ihn wieder zu Boden. Noch einmal trat eine jede zu, endlich ließen sie von ihm ab. Der Schulgong war ertönt.

    Zurück auf den Pflastersteinen blieb ein Junge, der zitterte und wimmerte wie ein zu Tode erschrockenes Tier. Es war ein Siebtklässler, Sascha sollte ihn später noch kennenlernen.

    Diese Schule war die Hölle: Im Pausenhof und in der Vorhalle standen immer wieder solche Grüppchen zusammen, die auf Schwächere losgingen. Der Toilettengang zwischen den Schulstunden wurde zum Spießrutenlauf: Jedes Mal blieb offen, ob man wieder heil zurück ins Klassenzimmer fand, oder ob man in die Arme der Acht- oder Neuntklässler lief, die sich einen Spaß daraus machten, jüngere Mitschüler mit dem Kopf in die Toilettenschüssel zu tauchen. Gewalt, Schläge und Erpressung waren an der Tagesordnung.

    Selbst die Lehrer hatten es nicht leicht: Lehrer wurden aus dem Fenster gehängt, geohrfeigt, oder, wenn ihnen so nicht beizukommen war, wurden auf dem Lehrerparkplatz ihre Autos beschädigt.

    Doch mit der Zeit arrangierte sich Sascha mit der Situation. Er hatte sich mit Marcel angefreundet. Marcel war ein kräftiger, drahtiger Junge und drückte neben ihm die Schulbank.

    Marcels ganzer Körper schien nur aus Muskeln zu bestehen – er war sogar so stark, dass er es gar nicht nötig hatte, sich gegen Schwächere zu wenden. Marcel konnte es mit jedem aufnehmen, denn obendrein hatte er auch Mut.

    Eigentlich trumpfte Marcel überall dort, wo Sascha nichts zu bieten hatte. Im Sport war er immer unter den Ersten. Er hatte viele Freunde. Und er war sogar der Kopf einer Jungenbande.

    In seinem Viertel hatte Sascha früher auch Freunde gehabt. Helmut, Robin und Karl wohnten alle in seiner Straße.

    Sie waren gute Freunde gewesen, die täglich miteinander spielten. Im Winter, wenn tiefer Schnee in den Straßen und Gärten lag, zogen sie mit ihren Schlitten zu einem nahegelegenen Hügel und donnerten in halsbrecherischer Fahrt hinunter. Im Sommer fuhren sie mit ihren Rädern raus vor die Stadt zu einem Baggersee zum Baden. Manchmal hatten sie auf dem Weg zum See, an einer Brücke haltgemacht. Dort hatten sie am Geländer um die Wette gepisst. Sieger war, wer am weitesten kam. Karl hatte den stärksten Strahl, er lag immer um einen Meter in Führung.

    … Und so etwas machten doch nur wirklich gute Freunde miteinander.

    Doch seit Sascha in die neue Schule gewechselt war und nun zu seinen Freunden Marcel aus dem Hochhausviertel gehörte, hatten die Eltern von Helmut, Karl und Robin ihren Kindern verboten mit ihm zu spielen, sie hatten ihnen erzählt, Sascha sei jetzt ein »Rocker«.

    Die Freundschaft zwischen Sascha und Marcel wurde schnell enger, innerhalb kürzester Zeit waren die beiden beste Freunde. Außerdem hatte Sascha etwas, womit von Marcels Freunden niemand aufwarten konnte. Er hatte ein eigenes Haus mit Garten.

    Von nun an spielten die beiden oft auf der Wiese vor Saschas Haus – sie wetteiferten im Bogenschießen mit selbst geschnitzten Pfeil und Bogen, oder kletterten auf den Obstbäumen umher, die sich ebenfalls im Garten befanden. Und manchmal ging Sascha

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