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Paris und die Mörder der Liebe: Kriminalroman
Paris und die Mörder der Liebe: Kriminalroman
Paris und die Mörder der Liebe: Kriminalroman
eBook302 Seiten3 Stunden

Paris und die Mörder der Liebe: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Paris bei Nacht. Ein Partyboot kracht gegen einen Brückenpfeiler am Pont Neuf. Die Gäste, alle Mitarbeiter eines Social-Media-Konzerns, der sich durch eine Dating-App am Markt etabliert hat, wurden offenbar durch Liquid Ecstasy betäubt. Auch ein Todesopfer ist darunter: die Lobbyistin Laetitia Vicault - ein Versehen?
Als kurz darauf sämtliche User-Daten und Chatverläufe der Dating-App veröffentlicht werden, kommen verheimlichte Affären, verschwiegene Seitensprünge und Sexbeziehungen der Pariser Bevölkerung ans Tageslicht. Ein Fall, der für Kommissar Lafargue zu einem persönlichen Albtraum wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum13. Apr. 2022
ISBN9783839271544
Paris und die Mörder der Liebe: Kriminalroman
Autor

Frédéric Breton

Frédéric Breton ist das französische Pseudonym des deutschen Drehbuch- und Hörspielautors Markus B. Altmeyer. Er kreierte unter anderem eine tragikomische Weltuntergangsserie für den SWR und schrieb zahlreiche Filme für ARD und ZDF, darunter auch Krimis wie „Wilsberg“, „Friesland“ und den „Athen-Krimi“. Am liebsten schreibt er in den Cafés von Paris und in einem kleinen Dorf an der französischen Atlantikküste. Den Rest des Jahres verbringt er mit seiner Familie in der Pfalz. „Paris und die Mörder der Liebe“ ist sein erster Kriminalroman. Mehr Informationen zum Autor: Website: www.fredericbreton.com Instagram: @pariskrimi

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    Buchvorschau

    Paris und die Mörder der Liebe - Frédéric Breton

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

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    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © Beboy / stock.adobe.com

    ISBN 978-3-8392-7154-4

    1

    Es ist verboten, Träume zu zertrampeln. Laetitia Vicault wusste nicht, weshalb sie ausgerechnet jetzt an das selbst gemalte Schild denken musste, das all die Jahre an ihrer Kinderzimmertür gehangen hatte. »Il est interdit de piétiner les rêves.« Damals hatten sich die meisten Menschen in ihrem Umfeld brav an diese Aufforderung gehalten. Doch in der sogenannten Erwachsenenwelt scherte sich niemand mehr darum.

    Laetitia trank einen letzten Schluck aus ihrem Glas und analysierte die tanzende Menge. Es waren nur wenige Frauen an Bord. Umso geballter drängten sich die männlichen Mitarbeiter beim Tanz um die wertvolle Ware.

    Hemingway blieb von dem Treiben unbeeindruckt. Stoisch lag der Pudel zu ihren Füßen auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Laetitia lächelte zufrieden. In seiner Authentizität verkörperte das Tier für sie das komplette Gegenteil der Businessmenschen um sie herum.

    Laetitia wusste, dass es eine kleine Provokation gewesen war, ihren Hund mitzunehmen, doch sie war inzwischen in einer Position, in der sie sich solche Dinge erlauben konnte. Außerdem sollte man in einem Unternehmen, in dem es ein Bällebad, einen Kickertisch und eine Carrera-Bahn gab, auch mit einem Pudelmischling klarkommen.

    Wie sehr sie damals von diesen Dingen fasziniert gewesen war. Von dem Fitnessstudio, den Meditationskursen, den Power-Nap-Kabinen und den Mittagsdiscos.

    Heute fand sie die Tatsache, dass das Unternehmen, für das sie arbeitete, über eine eigene »Happiness-Abteilung« verfügte, die ausschließlich für das Wohlbefinden der Angestellten zuständig war, reichlich absurd. Die Menschen hier waren vielleicht happy, aber glücklich waren sie nicht. Von dem erhabenen Gefühl, Teil einer digitalen Avantgarde zu sein, war kaum mehr etwas übrig geblieben. Alle Träume zertrampelt. Und jetzt war auch noch das Weinglas leer. Vorsichtig schaute Laetitia hinüber zur Bar. Von den Blicken, die Dominique ihr schon den ganzen Abend zuwarf, fühlte sie sich nahezu physisch bedrängt. Weshalb musste dieser Typ ausgerechnet hier als Servierkraft arbeiten? War seine Anwesenheit Zufall, oder hatte er sich nur deshalb diesen Job zuweisen lassen, weil er wusste, dass sie hier sein würde? Er trug mal wieder einen seiner schwarzen Rollkragenpullover. Eine existenzialistische Anmutung, wie er wahrscheinlich dachte. Dabei waren die 60er Jahre längst vorbei.

    Laetitia stellte sich unauffällig in die Schlange. Bisher hatte sie eine direkte Konfrontation mit dem verkappten Schriftsteller vermeiden können, doch diesmal drängte er sich forsch an den anderen Servicekräften vorbei, um sie persönlich zu bedienen.

    »Magst du noch einen Muscadet?«

    Dominique sah schlecht aus. Sein Gesicht war fahl, seine Haut wirkte seltsam übersäuert. Laetitia hielt ihm schweigend ihr Glas hin und nickte. Woher auch immer er wusste, dass sie Muscadet getrunken hatte.

    Während Dominique einschenkte, scannte er sie von oben bis unten ab. Er zog sie förmlich mit seinen Blicken aus. Zumindest fühlte es sich so an. Sie musste dringend hier weg. Wie konnte man nur so grausam sein und eine Party auf einem Schiff veranstalten? Ein Ort wie in einem Horrorfilm. Niemand konnte fliehen. Wieso tat man so etwas? Nur um hinterher stolz verkünden zu können, dass die Feier so gut gewesen war, dass alle bis zum Schluss geblieben waren?

    »Wie geht’s dir denn?«

    »Gut«, log Laetitia knapp, nahm Dominique das Glas aus der Hand und drehte ihm direkt wieder den Rücken zu. Und das, obwohl sie eigentlich früher eine Meisterin des Small Talks gewesen war.

    »Lass dir den Wein schmecken«, rief er ihr hinterher, »ich habe ihn mit Liebe eingeschenkt!« In seiner Stimme lag etwas Wahnsinniges. In der Spiegelung der Fenster konnte sie sehen, wie er sich den Schweiß von der Stirn tupfte.

    Sie wollte gerade zurück zu ihrem Tisch, als plötzlich die Musik verstummte. Sie blickte zum DJ-Pult, hinter dem gerade noch ein junger Mann mit großen Kopfhörern gestanden hatte. Jetzt lag er am Boden. Offenbar war der DJ ohnmächtig geworden und hatte bei seinem Sturz die Plattennadel vom Teller gerissen. Blut sickerte aus einer Platzwunde. Paralysiert sah Laetitia zu, wie einige ihrer Kollegen zu dem reglosen Körper eilten. War es die Sorge um ihren Mitmenschen oder vermissten sie schlicht die Musik?

    Aus dem Stimmengewirr hörte sie immerhin heraus, dass der Mann noch lebte.

    Laetitia wollte helfen, doch sie konnte nicht. Sie versuchte, das Deck zu überqueren, aber der dichte Wald aus Anzugmenschen erschien ihr undurchdringlich. Am liebsten hätte sie sich eine Machete genommen, um sich ihren Weg durch die schwitzende Menge zu bahnen. Laetita wunderte sich noch über ihre absonderlichen Gedanken, als sie plötzlich von einem heftigen Schwindel ergriffen wurde. Sie hätte den letzten Joint nicht anrühren sollen, dachte sie, und trank einen großen Schluck von dem kühlen Muscadet, in der Hoffnung, das süffige Getränk würde vielleicht ihren Kreislauf ankurbeln, doch das Gegenteil war der Fall.

    Laetitia verspürte das unbändige Verlangen, sich zu setzen. Sie drehte sich um sich selbst und hielt Ausschau nach einem freien Stuhl. Aber da war kein Stuhl. Da war überhaupt nichts mehr. Die Konturen der Dinge verloren ihre Form und damit ihre Bedeutung. Ihr Gehirn war offenbar nicht mehr in der Lage, die Informationen des Lichts, das Millisekunde für Millisekunde auf ihre Netzhaut prallte, in ein verständliches Bild ihrer Umwelt zu verwandeln. Sie senkte den Kopf und versuchte, einen konkreten Punkt zu fixieren, der ihr Halt geben würde. Doch ein schmerzhaft lauter Knall, der das ganze Schiff erschütterte, hielt sie sogleich davon ab. Laetitia stürzte. Das Glas zersprang. Der Hund bellte. Erschöpft krabbelte sie über die Planken, und auf einmal tat sich ein Loch vor ihren Augen auf. Sie blickte in die Dunkelheit. War das etwa ein Kaninchenbau? Neugierig kletterte sie hinein. Ein Stück weit verlief der Gang geradeaus, wie ein Tunnel, aber dann senkte er sich so plötzlich nach unten, dass sie nicht mehr anhalten konnte. Laetitia befand sich nun im freien Fall. Sie fiel tief und immer tiefer. Krampfhaft versuchte sie, sich selbst und die Wirklichkeit festzuhalten, doch es wollte ihr nicht gelingen. Wie gut, dass Hemingway ihr nicht hinterher gesprungen war, dachte sie noch. Schließlich kannte er die ganze Wahrheit.

    2

    Nur weil allen bekannt war, dass Gustave Lafargue kein Privatleben hatte, war das noch lange kein Grund, ihn zu behandeln wie den personifizierten Kriminaldauerdienst. Er hatte einen festen Schlafrhythmus und reagierte äußerst sensibel, wenn er vor dem planmäßigen Weckerklingeln von irgendjemandem oder irgendetwas zum Aufstehen genötigt wurde. Zumal er mit seinen 54 Jahren auch nicht mehr das war, was man gemeinhin das »blühende Leben« nannte. Nachdem er am frühen Morgen vom schrillen Klang seines Mobiltelefons aus seiner heiligen Tiefschlafphase gerissen worden war, wusste er also, dass dies unmöglich ein guter Tag werden würde.

    Am anderen Ende der Leitung meldete sich Henri Le Rouge, ein kleiner, etwas übergewichtiger Streifenpolizist, der dem Alkohol nicht abgeneigt war und stets Lafargue privat anrief, wenn er während seiner nächtlichen Fahrten durch Paris auf irgendeine Bagatelle gestoßen war, die er für ein großes Verbrechen hielt.

    »Ein Schiff hat einen Brückenpfeiler touchiert. Unten am Pont Neuf.«

    »Und was habe ich damit zu tun?«

    »Sieht nach einem Mordanschlag aus.«

    »Was? Wieso? Ist die Brücke tot?« Lafargue schämte sich für seinen müden Witz.

    »Da waren jede Menge Menschen an Bord. Das war eines dieser Partyschiffe. Irgendwelche Internet–Freaks haben da ihr Betriebsfest gefeiert. 85 Verletzte und eine Tote.«

    »Wie bitte?« Lafargue fragte sich, ob Henri Le Rouge mal wieder seinem Namen alle Ehre gemacht und ein Glas Rotwein zu viel getrunken hatte, der seine Nase in einer gewissen Regelmäßigkeit bordeauxrot leuchten ließ, oder ob doch etwas Wahres in diesen wirren Worten lag.

    »Ja. Wenn ich’s doch sage!«, raunzte er.

    »85 Verletzte und eine Tote, weil das Schiff einen Brückenpfeiler touchiert hat?«

    »Nein, die sind vergiftet worden. Meinen die Rettungssanitäter.«

    Die Welt wurde immer verrückter. Inzwischen analysierten also schon die Rettungssanitäter den Tathergang.

    Trotz aller Unlust zog sich Lafargue an und fuhr hinunter zur Seine, wo bereits drei Krankenwagen mit Blaulicht im morgendlichen Raureif standen und in der Kälte auf weitere Verletzte warteten. Der Pont Neuf, die neue Brücke, war in Wahrheit die älteste Brücke von Paris. Irgendein Henri hatte sie erbauen lassen. Lafargue wusste nicht mehr genau, welcher. Henri Le Rouge war es jedenfalls nicht gewesen.

    An Deck der beschädigten Saint Amour bot sich dem Kommissar ein bizarres Bild: Zahlreiche Businessleute lagen regungslos auf dem Boden herum. Scherben zersprungener Weingläser reflektierten ihre bunten Spektralfarben in einer unangebrachten Heiterkeit in das gräuliche Entsetzen des Todes hinein. Irgendwo bellte ein Hund.

    Männer in Anzügen hatten Lafargue eigentlich noch nie sonderlich interessiert. Er konnte nicht verstehen, was an Uniformität so reizvoll sein sollte. Doch in dem Moment kam auch schon Henri mit der roten Nase auf ihn zu und wollte wissen, wo denn die Kollegen von der Spurensicherung blieben.

    »Das sind keine Kollegen!«, schimpfte Lafargue. Der Kommissar hatte noch nie die Spurensicherung gerufen, bevor er nicht selbst den Tatort in aller Ruhe inspiziert und sich ein adäquates Bild vom Ort des Geschehens gemacht hatte. Nicht selten hatte ihm sein Chef für dieses Vorgehen einen heftigen Einlauf verpasst. Lafargue hasste das Wort »Einlauf«, da es ihn jedes Mal wieder an eine unangenehme Darmspiegelung erinnerte, die er vor einiger Zeit über sich hatte ergehen lassen müssen. So oder so hatten die regelmäßigen Standpauken eines wütenden Monsieur Cavallet jedenfalls keinerlei Auswirkungen auf Lafargues Verhalten.

    Um nicht ein einzelnes Krankenhaus einer Überlastung auszusetzen, hatte man sich entschieden, die zahlreichen Verletzten auf mehrere Krankenhäuser aufzuteilen. Für eine junge Frau, die laut Ausweis Laetitia Vicault hieß, kam jede Hilfe zu spät.

    Unwillkürlich dachte Lafargue über mögliche Motive für einen solchen Anschlag nach, auf ein Unternehmen, das sich selbst den sprechenden Namen Zukunftsagentur gegeben hatte. Die L’agence pour l’avenir, die, wie Henri Le Rouge berichtete, im Februar ihr alljährliches Betriebsfest auf der Seine abhielt, hatte vor einigen Jahren ein soziales Netzwerk an den Start gebracht, das sich primär über den regionalen Charakter definierte. Das Netzwerk richtete sich unter dem Slogan »Nous Sommes Paris« ausschließlich an Pariserinnen und Pariser und setzte damit einen seltsamen Kontrapunkt zur global vernetzten Welt. Die dazugehörige Dating-App, die angeblich die halbe Stadt benutzte, beruhte auf demselben Prinzip: Dating Paris. In einer globalisierten Welt, deren Komplexität niemand mehr durchdringen konnte, sehnten sich die Menschen offenbar nach lokaler Bindung. Sie identifizierten sich mit der Lebenswelt ihres Wohnortes. Auf diese Weise bekam das Netzwerk in Abgrenzung zu den großen amerikanischen Konkurrenzunternehmen einen handgemachten Touch. Die Leute glaubten wohl, Mitglied in einem regionalen Netzwerk zu sein, sei in etwa so, wie im Buchladen um die Ecke einzukaufen anstatt beim Internetgroßkonzern. Dass die Firma in Wahrheit in jeder französischen Großstadt ein »rein lokales« Netzwerk betrieb und damit langsam, aber sicher auf dem besten Weg war, ebenfalls zum Global Player heranzuwachsen, wurde schlichtweg ignoriert.

    Lafargue konnte soziale Netzwerke nicht besonders gut leiden. Hin und wieder schaute er bei Nous Sommes Paris vorbei, um zu sehen, was seine Tochter Capucine so trieb, damit er wenigstens das Gefühl hatte, ein wenig an ihrem Leben teilhaben zu können, doch ansonsten war er in der digitalen Welt ein eher selten gesehener Gast. Er bekam ja noch nicht einmal sein Leben in der realen Welt in den Griff, wieso sollte er sich also ein zweites Leben im Cyberspace zulegen?

    Dabei war es nicht so, dass Lafargue dem technischen Fortschritt gegenüber generell abgeneigt gewesen wäre. Die Vorzüge der frei zugänglichen Pornografie kamen ihm durchaus gelegen. Nur ungern dachte er an die Tage zurück, in denen er sich heimlich in der Nacht und möglichst unbemerkt in eine der Schmuddel-Videotheken auf dem Boulevard de Clichy hatte schleichen müssen, um sich die eine oder andere abgenutzte VHS-Kassette auszuleihen, die bereits zahlreiche Männer vor ihm in ihren Händen gehalten hatten. Die Angst, beim routinierten Besuch der Pornovideothek von einer ihm bekannten Person beobachtet zu werden, hatte ihm jedes Mal starke Kopfschmerzen bereitet. Nicht, dass ihm sein Pornokonsum peinlich gewesen wäre, aber er hasste es grundsätzlich, sich vor irgendjemandem für irgendetwas rechtfertigen zu müssen. Schließlich hatte er nicht ohne Grund mit 16 Jahren sein konservatives Elternhaus in der Vendée verlassen, um nach Paris zu ziehen. Seitdem war er im Grunde das, was man einen freien Menschen nannte.

    »Fischvergiftung!«, grunzte ein pickeliger Rettungssanitäter, der untätig in der Gegend herumstand und gerade genüsslich in ein Schinken-Käse-Baguette biss. Ein Klecks Mayonnaise hing an seiner bärtigen Oberlippe. Lafargue ekelte sich. Ihm war es über die Jahre immer seltener gelungen, seine Empfindungen für sich zu behalten: Ekel, Missgunst, Wut. Während er früher hatte freundlich aussehen können, obwohl es innerlich in ihm tobte, drang seine Stimmung inzwischen völlig ungefiltert nach außen. Als der Rettungssanitäter merkte, dass Lafargue ihn verständnislos anstarrte, wenn auch weniger wegen der Fischvergiftung als wegen der Mayonnaise, führte er seine Gedanken weiter aus. »Das Buffet war voller Austern und Meeresgetier.«

    Es war nur die Mutmaßung eines jungen Rettungssanitäters, doch an die Möglichkeit, es könne sich bei dem »Anschlag« auch um einen mehr oder weniger harmlosen Unfall handeln, hatte Lafargue noch gar nicht gedacht. Nicht zuletzt deshalb, weil Henri Le Rouge den Fall ja bereits automatisch auf die Ebene von Mord und Totschlag gehoben hatte, indem er im Rahmen seiner üblichen Kompetenzüberschreitung ihn angerufen hatte, der nun einmal für die Brigade Criminelle tätig und dort für Tötungsdelikte zuständig war. Sicher wird die Forensik in ein paar Stunden einiges zur Klärung der Umstände beitragen, dachte Lafargue. Er musste sich allerdings ein wenig in Geduld üben, einer Tugend, die er nicht allzu gut beherrschte.

    Im nächsten Augenblick wurde er von einem aufgewühlten Pudelmischling aus den Gedanken gerissen, der wie ein junger Wolf in die Nacht hinaus heulte. »Hemingway« stand in geschwungener Schreibschrift auf dem gelben Kunststoffanhänger, der am Halsband hing. Wie eine Angestellte des Unternehmens bestätigte, war es der Hund von Laetitia Vicault gewesen, der nun ein neues Frauchen würde finden müssen. Lafargue hatte sich, sah man von seiner Schwäche für Wildgulasch ab, nie sonderlich für Tiere interessiert, doch dieser kleine Hund mit dem literarischen Namen tat ihm irgendwie leid.

    Sein Blick fiel auf den fahlen Leichnam. Er glaubte, die Angst in den Augen der jungen Frau sehen zu können, die ihm von ihrer Ahnung erzählte, im nächsten Augenblick sterben zu müssen. Der Tod hatte nichts Gutes an sich, fand er. Schon gar nicht, wenn ein Gewaltverbrechen ihn verursacht hatte.

    Lafargue stand mal wieder inmitten einer menschlichen Tragödie, auch wenn er noch nicht viel über deren Entstehung wusste. Trotz allem versuchte er, irgendeinen positiven Gedanken zu fassen. Und es gelang ihm tatsächlich. Der Kommissar freute sich, bei diesem Fall endlich wieder mit Jinjin zusammenarbeiten zu dürfen.

    Offiziell war seine Kollegin gerade für drei Monate beurlaubt und auf einer Weltreise gewesen, doch die Wahrheit sah anders aus. Es war nicht das erste Mal, dass die zerbrechliche Frau in einer Fachklinik für Psychosomatik gelandet war, doch um ihre Karriere im Staatsdienst nicht zu gefährden, wusste bei der Brigade niemand davon. Außer Lafargue.

    3

    Als sie Lafargues Namen auf dem Display ihres Smartphones aufleuchten sah, ließ Jinjin Villebert es einfach klingeln. Am Montag würde es wieder losgehen. Aber heute war erst mal das chinesische Neujahrsfest, das neue Mondjahr begann, und das wollte sie sich auf keinen Fall wegen irgendwelcher Tötungsdelikte verderben lassen. Sie wollte sich »ein Stückchen Egoismus« gönnen, so, wie es ihre Therapeutin empfohlen hatte. »Der kleine alltägliche Hedonismus wirkt manchmal Wunder«, hatte sie gesagt. Sollten sich die Menschen doch gegenseitig umbringen, wenn sie unbedingt wollten. Nichts war in Jinjins Augen gerade wichtiger, als den Tag zu genießen und anständig feiern zu gehen. Nach Wochen der Traurigkeit, der Leere und der Lethargie hatte sie das dringende Bedürfnis, sich endlich wieder zu spüren, sich ins Getümmel zu werfen, ein paar Gläser zu viel zu trinken und vielleicht sogar von einem Typen angeflirtet zu werden.

    Ihre Dating-Paris-App hatte sie in der Klinik gelöscht. Diese Form des Männer-Shoppings hatte ihr nicht gutgetan. Überhaupt hatte sie alle sozialen Netzwerke auf ihrem Smartphone eliminiert. Es war ihr einfach zu viel geworden: Facebook, Twitter, Instagram, Dating Paris. Sie hatte sich gefühlt wie die personifizierte Profilneurose. Nein, sie wollte mal wieder jemanden im echten Leben kennenlernen, einem Menschen direkt analog in die Augen schauen und ihn nicht anhand eines schnöden Fotos bewerten. Jinjin wollte zurück ins echte Leben, sie wollte sich selbst und der Welt beweisen, dass sie wieder da war, dass sie wieder intakt war, dass die ermattende Traurigkeit endgültig gegen sie und ihren unbändigen Lebenswillen verloren hatte und nun machtlos die weiße Fahne schwang. Dieser Tag war positiv aufgeladen mit der Symbolik des Neuanfangs nach einer langen Phase der Erschöpfung. Morgen würde sie Lafargue zurückrufen und reumütig behaupten, das Handy zu Hause vergessen gehabt zu haben. Doch heute war ein anderer Tag.

    Vielleicht wollte der Kommissar aber auch einfach nur wissen, wie es ihr ging, wie sie den Klinikaufenthalt verkraftet hatte, und ob sie nun, frisch entlassen, guten Mutes in die Zukunft blicken würde. Jinjin war es durchaus bewusst, dass sie diesem Mann viel zu verdanken hatte. Vertrauensvoll hatte Lafargue nicht nur ihr zuliebe den Mantel des Schweigens über »die Sache« gelegt, um ihre berufliche Zukunft nicht zu gefährden, er hatte ihr sogar mit Geld ausgeholfen, um den heimlichen Klinikaufenthalt privat finanzieren zu können, damit der Amtsarzt davon nichts erfuhr. Das alles wusste sie sehr zu schätzen. Doch das Risiko, sich an diesem Tag nicht, wie geplant, dem Hedonismus hingeben zu dürfen, war Jinjin einfach zu groß, und so ließ sie ihr Telefon auch beim zweiten Anruf klingeln.

    Während Jinjin im Badezimmer stand und sich vor dem Spiegel eine passende Unterwäsche für den Abend auswählte, schämte sie sich ein wenig dafür, dass sie es nicht einmal geschafft hatte, Nicolas die Wahrheit zu sagen. Dem Mann, der ihr seine unbedingte Liebe geschenkt, der sie vergöttert und alles für sie getan hatte.

    Weshalb genau sie sich von ihm getrennt hatte, konnte Jinjin kaum noch sagen. Der Anfang vom Ende war wahrscheinlich eine fahrlässige Unterlassung gewesen. Die Unterlassung des Ja-Sagens hatte letztlich alles ins Rollen gebracht. Dieser dämliche Heiratsantrag.

    Jinjin schaute ihrem Spiegelbild in die Augen und beschloss, sich von dem Ende dieser Liebe nicht verrückt machen zu lassen. Schließlich war es genau das, was ihr Leben ausmachte: verschiedene Abschnitte, die sich

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