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Marvel | Xaviers Institut - Freiheit & Gerechtigkeit für alle
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eBook362 Seiten4 Stunden

Marvel | Xaviers Institut - Freiheit & Gerechtigkeit für alle

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Über dieses E-Book

Zwei außergewöhnliche Schüler stellen sich ihrer ultimativen Prüfung, als sie einem Hilferuf folgen.

Triage und Tempus fliegen als Teil ihres Trainings am Neuen Charles Xavier Institut auf ihre erste Solo-Mission. Da empfangen sie ein dringendes SOS – Sentinels greifen einen mächtigen Mutanten an, der verzweifelt einen verwundeten Politiker verteidigt. Sie brechen das Training ab und folgen dem Notruf. Doch die Identität beider wird die zwei jungen X-Men vor weit mehr Probleme stellen, als sie sich zu träumen wagten.

Der erste in einer Reihe von Marvel-Romanen über Professor Xaviers Institut und seine Schüler, eine Reihe, die Superheldenaction mit Coming-of-Age-Geschichten verbindet.

© 2021 MARVEL.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum27. Aug. 2021
ISBN9783966584135
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    Buchvorschau

    Marvel | Xaviers Institut - Freiheit & Gerechtigkeit für alle - Carrie Harris

    KAPITEL 1

    Gellende Schreie rissen Christopher Muse aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Mit hämmerndem Herzen fuhr er in die Höhe: Wieder einmal bedrohte etwas Grauenhaftes die Schüler der Neuen Charles-Xavier-Schule für Hochbegabte. Adrenalin durchflutete seinen Körper. Wie gern hätte er sich in einer dunklen Ecke verkrochen und abgewartet, bis seine Lehrer sich um die Sache gekümmert hatten. Aber als X-Man in der Ausbildung musste er helfen. Wie hätte er seine Mitschüler ihrem Schicksal überlassen können, wenn sie so schrecklich kreischten? Er wollte aus dem Bett springen, verhedderte sich dabei jedoch in der flauschigen Decke, die er aus dem Studentenwohnheim mitgebracht hatte, und stürzte zu Boden.

    Furcht spülte über ihn hinweg. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Sein Körper war noch schwer vom Schlaf und er fühlte sich benommen. Dann flammten plötzlich summend die Deckenlampen auf und tauchten das kleine Zimmer in grelles Licht. Christopher riss einen Arm hoch, um seine Augen abzuschirmen. Aber das war ein Fehler gewesen, denn jetzt konnte er nichts mehr sehen – er hatte sich den unbekannten Angreifern hilflos ausgeliefert.

    Nicht zum ersten Mal stellte er seine Entscheidung infrage, das Universitätsstudium abzubrechen, um stattdessen auf die neue Mutantenschule zu gehen. Zuerst hatte er geglaubt, die Sache wäre klar. Die Manifestation seiner Kräfte war ein ziemlich traumatisches Erlebnis gewesen – immerhin hatte man ihn verhaftet. Als Cyclops mit seinem Team aufgetaucht war, hatte er die Hilfe der X-Men dankbar angenommen. Er hatte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen, Mitglied der ersten Klasse zu sein, die an der Schule unterrichtet wurde. Um die Wahrheit zu sagen, er war nie besonders cool gewesen. Er war Vorsitzender des Brettspielvereins, trug lieber Anzüge und Kostümaccessoires als normale Klamotten und bekam ohne große Anstrengung gute Noten. Den X-Men beizutreten war ihm wie die Chance vorgekommen, endlich irgendwo richtig dazuzugehören. Nachdem er sein Leben lang als Letzter ins Team gewählt worden war, hatte es ihn mit Stolz erfüllt, endlich mal als Erster gefragt zu werden.

    Aber jetzt würde ihn wahrscheinlich irgendwas umbringen, ohne dass er es vorher zu Gesicht bekam, denn vor seinen Augen flimmerte es heftig. Und wegen des infernalischen Geschreis konnte er auch nichts hören. Vielleicht hatte Magik ein weiteres Portal in den Limbus geöffnet? Bei genauerem Hinhören klangen die Schreie allerdings merkwürdig rhythmisch …

    Er befreite sich von seiner Decke und setzte sich auf. Von einem Portal in die Unterwelt war nichts zu sehen – nur sein Zimmergenosse David Bond, auch bekannt als Hijack, hockte auf der Kante seines Bettes und lachte Tränen.

    David war erst vor ein paar Tagen angekommen. Tatsächlich hatte Christopher sich darauf gefreut, das Zimmer mit jemandem zu teilen, obwohl es so winzig war. Er hatte gehofft, dass jemand einziehen würde, mit dem er reden konnte – zum Beispiel darüber, dass er sich auch hier nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte. Aber David war nicht der Typ dafür. Er war älter, vielleicht Mitte zwanzig, hatte einen sorgfältig gepflegten Spitzbart und einen unfehlbaren Sinn für Street Fashion. Alle anderen Schüler waren jünger als er. Schon unter normalen Umständen umgab ihn eine Aura der Überlegenheit. Jetzt sah er aus, als würde er vor lauter Arroganz gleich platzen.

    »Alter, ich dachte, du machst dir in die Hose!«, prustete er und krümmte sich vor Lachen. »Ist echt lange her, dass ich so was Witziges gesehen hab, oh Mann …«

    »Was ist das für ein furchtbarer Lärm?«, fragte Christopher mit erhobener Stimme.

    »Jetzt mach mal nicht meine Musik schlecht, Kumpel. Das sind Ashes on the Breeze, ’ne Screamo-Band aus Chicago. Die sind bald richtig angesagt. Nächstes Jahr um die Zeit gibt’s bei allen großen Musikpreisen ’ne Screamo-Kategorie, da geh ich jede Wette ein.«

    Christopher schauderte. »Klingt, als würde jemand ein kleines Tier ermorden. Bitte mach’s leiser. Ich glaub, mir bluten die Ohren.«

    »Ich hör aber jeden Morgen Musik. Schlimm genug, dass ich aus meiner Wohnung rausmusste und jetzt in diesem Rattenloch hocke. Aber meine Mucke werd ich nicht auch noch aufgeben!«

    »Ach, komm, die Schule ist echt nicht … so schlimm.«

    Nicht mal Christopher selbst fand sich überzeugend. Er hatte Fotos der alten Schule gesehen: die Villa mit dem üppig grünen Rasen und den vertäfelten Korridoren, die Tennisplätze, den Flugzeughangar unter dem Basketballfeld, aus dem der X-Jet aufstieg, um die Mutanten zu ihren Einsatzorten zu bringen. Doch nach dem Tod von Professor X hatte sich die Schule aufgespalten. Wolverine leitete in der Villa die Jean-Grey-Schule für höhere Bildung und Cyclops die Neue Charles-Xavier-Schule für Hochbegabte in einer alten Militäranlage. Ein paar der anderen Schüler munkelten, hier sei Wolverines Skelett mit Adamantium ummantelt worden. Christopher war nicht sicher, ob das stimmte, zweifelte aber nicht daran, dass in diesem Gebäude Experimente durchgeführt worden waren. Und ganz ohne Frage war an denen was faul gewesen. Mehr als faul. Schon nach kurzer Zeit hatte er den Eindruck gewonnen, dass Cyclops bei den Räumlichkeiten den Kürzeren gezogen hatte.

    Jedenfalls hatte er sich die Schule ganz anders vorgestellt. In allen Ecken standen geheimnisvolle Maschinen. Manche Räume waren so zugestellt, dass man sie kaum betreten konnte. Alles war dreckig und feucht und dass es keine Fenster gab, konnte einen richtig klaustrophobisch machen. Jede Tür war mit einem Kartenlesegerät gesichert, von denen aber nur noch die Hälfte funktionierte. Die gestrichenen Betonwände wiesen an einigen Stellen echte Einschusslöcher auf – eins befand sich direkt über Christophers Bett. Abends starrte er es an. Es bescherte ihm nicht gerade süße Träume.

    »Würdest du nicht die halbe Nacht über lesen, hättest du morgens bessere Laune«, sagte David.

    »Kann ich was dafür, wenn ich nicht schlafen kann?«, verteidigte sich Christopher. »Weißt du was … Schieb dir deine Meinung sonst wohin!«

    Er wusste sofort, dass er das nicht hätte sagen sollen. Schließlich waren David und er Teil einer sehr kleinen Klasse und mussten zusammenleben und -arbeiten. Aber er hatte nur ein paar Stunden geschlafen, Davids Screamo-Musik zerrte an seinen Nerven und die letzten Wochen waren sehr anstrengend gewesen. Jeden Tag hatte er im Stillen mit seiner Angst gerungen: Vielleicht würde er sterben, weil er den X-Men beigetreten war. Oder er würde wieder in eine andere Dimension verschleppt. Oder einer seiner neuen Freunde käme um. Und er konnte nichts, aber auch gar nichts dagegen tun.

    Das Problem war, dass seine Zweifel ständig wuchsen. Hatte er wirklich das Zeug dazu, Mitglied der X-Men zu sein? Die anderen hatten die verblüffendsten Mutantenkräfte, die sie für den Kampf rüsteten. Wolverine hatte seine Adamantium-Klauen und seine unglaubliche Regenerationsfähigkeit. Storm konnte Blitze, Nebel und Sturm heraufbeschwören. Cyclops schnitt mit einem einzigen Blick durch Stahl und Stein. Christopher konnte einfach nicht mithalten. Wie auch? Er war ein Heiler. Er flickte die echten Helden wieder zusammen, wenn sie die Schurken beseitigt hatten, und das war’s.

    Immer stärker hatte er den Druck empfunden, der auf ihm lastete, und jetzt kam ihm noch David blöd. Christopher hatte die Beherrschung verloren. Was für ein toller Teamkamerad er doch war! Zettelte Streit mit den anderen Mutanten an. Wenn er so weitermachte, würde er noch von der Schule fliegen. Und was dann? Er konnte nicht zurück an die Uni. Wahrscheinlich würde er festgenommen werden, sobald er auch nur einen Fuß auf den Campus setzte.

    »Sieh an«, knurrte David, »wem sind denn da ein paar Eier gewachsen? Aber wie wär’s damit: Ich schnapp mir den kaputten Jet da draußen und schieb dir das Ding in den Hals! Was hältst du davon?«

    Christopher sprang zuerst auf, aber David tat es ihm sofort nach. Sie bauten sich voreinander auf. Zwar waren sie ungefähr gleich groß, aber David wirkte, als hätte er sich im Gegensatz zu Christopher schon oft geschlagen und wüsste genau, worauf es ankam. Einen Augenblick lang sah es so aus, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Christopher war Prügeleien immer lieber ausgewichen, aber wenn es sein musste, würde er seinen Mann stehen. Dann dachte er jedoch daran, was Cyclops sagen würde, und wieder stellte er sich die Frage, was aus ihm werden sollte, wenn er von der Schule flog. Zurück an die Uni konnte er nicht und nach Hause wollte er nicht. Er hatte keinen Schimmer, ob seine Mom ihn überhaupt reinlassen würde. Und da es sonst keine Alternative gab, musste er sich zusammenreißen, ganz gleich wie sehr David ihn aufregte.

    »Okay, hör zu.« Er atmete tief durch. »Ich bin nicht wie du, Hijack. Ich kann einen Hubschrauber nicht einfach dazu überreden, dass er macht, was ich will … Aber ich bin heute mit Fliegen dran. Deshalb musste ich das verfluchte Handbuch lesen.«

    »Wie recht du hast. Du bist nicht wie ich, Junge. Ich bin nämlich nützlich

    Sie starrten einander an. Christopher ballte die Fäuste so fest, dass seine Knöchel hervortraten. Wie gern hätte er David eine verpasst. Und warum nicht? Er konnte David hinterher einfach heilen. Wie sollte Cyclops ihn bestrafen, wenn es keine Beweise gab? Aber er würde sich nicht auf Davids Niveau herablassen. Christopher war vielleicht nicht nützlich – aber er hatte doch gewisse Maßstäbe an sich selbst.

    Er konnte nicht verhindern, dass seine Unterlippe zitterte, als er sagte: »Der ging unter die Gürtellinie, Alter.«

    David ließ sich wieder auf die Bettkante sinken und stieß dabei die Luft zwischen den Zähnen hervor. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Seine Miene war schuldbewusst. »Du hast recht«, sagte er. »Scheiße. Tut mir leid … Das hätte ich echt nicht sagen sollen. Du hast uns im Limbus den Arsch gerettet. Wenn du nicht gewesen wärst, wären Leute gestorben.«

    Christopher zuckte mit den Schultern.

    »Es ist nur …« David schien um Worte zu ringen. »Ich fühl mich hier nicht wohl. Alles ist so ätzend. Das Essen ist furchtbar, es gibt keinen Handyempfang und man kann überhaupt nichts machen – außer im Schnee erfrieren oder Karibus jagen oder irgend so ’nen Schwachsinn. Und zurück nach Hause kann ich auch nicht. Also sitz ich hier fest und das ist echt beschissen. Vor allem, weil ich nichts dagegen machen kann.«

    »Geht mir genauso.«

    Endlich machte David seine Boombox aus. In der plötzlichen Stille rauschten Christopher die Ohren. Betretenes Schweigen breitete sich aus. Um etwas zu tun zu haben, machte Christopher sein Bett und räumte ein bisschen auf. Die Ordentlichkeit auf seiner Seite des Zimmers stand in krassem Gegensatz zu dem Chaos auf Davids Seite, aber darüber würde er sich jetzt ganz sicher nicht beschweren. Als er seine Decke glatt strich, beteuerte David: »Ich würd dir nie ein Flugzeug auf den Kopf fallen lassen. Das weißt du hoffentlich.«

    Christopher warf ihm einen Blick über die Schulter hinweg zu und sie lächelten sich vorsichtig an. »Sehr beruhigend«, sagte Christopher. »Danke dafür.«

    »Keine Ursache.«

    »Weißt du was? Du hörst gern laute Musik und ich hab’s lieber ruhig. Hier im Flügel gibt’s noch jede Menge leerer Zimmer. Wir müssen echt nicht aufeinanderhocken, wenn das mit uns nicht klappt.« Christopher zögerte kurz. »Nicht dass ich dich loswerden will oder so«, fügte er dann hinzu.

    David sah ihn prüfend an. Schließlich nickte er. »Stimmt schon. Ich versteh den Gedanken hinter der ganzen Zimmerkameradensache … Sie wollen halt, dass wir uns anfreunden. Da ist ja auch nichts Falsches dran. Aber wenn’s nicht funktioniert, ist es besser, einer zieht aus, bevor wir uns am Ende gegenseitig den Hals umdrehen wollen. Ich such mir ein anderes Zimmer. Du wohnst schließlich schon länger hier.«

    »Danke. Ich glaub, so ist es echt am besten. Wenn du willst, helf ich dir später mit deinem Kram.«

    »Das wär super.«

    David streckte ihm die Hand hin und Christopher schüttelte sie.

    »Ich hab dich voll falsch eingeschätzt«, sagte David.

    »Ach ja?«

    »Ja. Ich hab deinen Anzug und deine Fliegerbrille gesehen und gedacht, du wärst ein Spinner. Aber eigentlich bist du ’n ziemlich cooler Typ.«

    Christopher blickte zum Schrank. An der Tür hingen Anzug und Krawatte bereit. Seine Steampunk-Schutzbrille baumelte am Haken des Kleiderbügels. Das Licht schimmerte auf dem kupferfarbenen Metall. Er hatte mit seinem Stil immer viel Spott geerntet und war es leid, sich zu erklären. Also zuckte er nur mit den Schultern. »Du bist selbst ziemlich cool.« Er kämpfte vergeblich gegen ein Grinsen an. »Obwohl dein Musikgeschmack einiges zu wünschen übrig lässt.«

    Er hatte nicht mal die Chance, sich zu ducken, so treffsicher schleuderte David sein Kissen durchs Zimmer. Christopher bekam es voll ins Gesicht.

    Nur wenig später ging Christopher in seinem kuscheligen Bademantel auf die Duschen zu, ein dünnes Handtuch um die Schultern geschlungen. Er trug seinen Anzug am Bügel, eine kleine Plastiktüte mit Unterwäsche und Socken darin und eine Flasche Shampoo hatte er sich in die Armbeuge geklemmt. An der Uni hatte er ein ganzes Regal voll Duschkram besessen, aber hier hatte er nicht mal Badeschlappen. Immerhin: Sollte er sich Fußpilz einfangen, konnte er sich selbst heilen.

    Und war es nicht traurig, dass der größte Nutzen seiner Mutantenkräfte war, Infektionen zu heilen, die er sich auf den versifften Fliesen holen konnte? Letzten Endes hatte Hijack den Nagel auf den Kopf getroffen. Er konnte Polizeiautos und Jets seinem Willen unterwerfen und Christopher? Christopher konnte Füße davor bewahren, sich abzuschälen. Es nützte nichts, er würde es sich eingestehen müssen: Er gehörte nicht hierher. Er würde nie ein richtiger X-Man sein. Immer würde er im Jet oder in der Schule hocken und darauf warten, dass die Arbeit getan war, um hinter den richtigen Helden aufzuwischen. Natürlich war auch das eine wichtige Aufgabe. Er wünschte bloß, er hätte eine andere Mutation abbekommen. Wenn er superschnell wäre oder Wände einschlagen könnte. Irgendwas Nützliches.

    Seufzend betrat Christopher die Herrendusche. Er hängte den Kleiderbügel mit seinem Anzug und der Schutzbrille sorgfältig an den rostigen Haken vor einer der Kabinen und klopfte Staub vom Ärmel des Sakkos. Schon als Kind hatte seine Mutter ihn bei jedem Wetter in Anzüge gesteckt. Draußen konnten zweiunddreißig Grad sein und er spielte in Hemdsärmeln Basketball. »Eines Tages könnte es dich retten, ordentlich gekleidet zu sein«, hatte sie gesagt. »Einen Schwarzen Jungen mit Dreadlocks und einer umgedrehten Basecap halten sie für einen Gangster, aber einen im Anzug? Der kann alles sein.« Im Stillen dachte er, dass die Leute sahen, was sie sehen wollten, aber er hatte sich dennoch immer an ihren Rat gehalten. Inzwischen fühlte er sich in gewöhnlichen Klamotten nackt. Der Anzug und die Schutzbrille waren Teil seiner Rüstung, und die brauchte er – jetzt nötiger als jemals zuvor.

    Er trat in die Kabine und gab sich die größte Mühe, die undefinierbaren Flecken auszublenden, die in den Ecken klebten. Als er das Wasser aufdrehte, prasselte es eisig kalt auf ihn herab. Erschrocken schrie er auf. Wieso konnte er nicht ein einziges Mal ein bisschen Glück haben? Er konnte nur hoffen, dass der Rest des Tages besser würde. Er hatte keine Ahnung, was er sonst tun würde. Es war nicht so, dass er die Schule verlassen wollte … Aber er fragte sich, ob diese Entscheidung bei ihm lag.

    KAPITEL 2

    Eva Bell war sich vage bewusst, dass jemand schrie, aber es war viel zu früh, um etwas deswegen zu unternehmen. Sie vergrub den Kopf unter ihrem Kissen. Vielleicht hatte sie Glück und konnte wieder einschlafen. Aber das Geschrei ging noch gute fünfzehn Minuten ununterbrochen weiter, begleitet von einem wummernden Backbeat. Irgendjemand hatte seine Musik voll aufgedreht. Sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass ihr Umzug von Australien in die Vereinigten Staaten von so viel Lärm begleitet sein würde.

    Benommen setzte sie sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und hämmerte dann mit der Faust gegen die Wand. In unverminderter Lautstärke dröhnte die Musik vor sich hin. Sie überlegte, nach nebenan zu marschieren und »Is jetzt mal gut?« zu brüllen, aber dafür hätte sie sich anziehen müssen und zu einem derart drastischen Schritt konnte sie sich noch nicht durchringen. Sie war nicht gerade ein Morgenmensch. Dazu kam, dass sie in letzter Zeit schlecht schlief, Albträume plagten sie. Derzeit brauchte sie eine gute Stunde und mindestens drei Tassen starken Kaffee, um richtig wach zu werden.

    Also lehnte sie sich erst mal gegen die Wand. Das rhythmische Gebrüll aus Christophers und Davids Zimmer ließ die Betonblöcke unter ihrem Hinterkopf vibrieren. Es war so ruhig und friedlich gewesen, bis David vor ein paar Tagen eingezogen war. Jetzt war ständig die Hölle los. Hoffentlich nicht im wahrsten Sinne des Wortes … Darauf hätte Eva allerdings nicht gewettet.

    Kurz zog sie in Betracht, dass der Lärm etwas anderes als Musik sein könnte. Vielleicht drang er aus einem Höllenportal oder etwas noch viel Schlimmerem. Das hielt sie dann aber doch für unwahrscheinlich – wenn doch, hätte längst jemand um Hilfe gerufen. Zwar war die Schule bei ihrer Ankunft noch wahnsinnig schlecht organisiert gewesen, aber mittlerweile hatte sich vieles verbessert. Die Lehrer hatten einen richtigen Stundenplan auf die Beine gestellt und irgendwer hatte sogar Zahnpasta gekauft.

    Beim Gedanken an Zahnpasta wurde ihr bewusst, wie pelzig sich ihr Mund anfühlte. Sie griff nach ihrer Uhr, um einen schnellen Blick darauf zu werfen.

    Sie war mehr als spät dran. Über dem zweiten Bett im Zimmer lag eine gestreifte Tagesdecke, ihre neue Zimmergenossin war schon weg. Die junge, in der Zeit vorausgereiste Jean Grey hatte sich nicht die Mühe gemacht, Eva zu wecken. Hatte sie überhaupt ein Auge zugetan? Eva wusste nicht, ob sie sich Sorgen machen oder sich ärgern sollte.

    Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre Kleider und sprintete auf die Tür zu. Für eine Dusche hatte sie keine Zeit, aber ein bisschen frisch machen musste sie sich. Sie wollte ja nicht aussehen, als hätte sie sich mit dem Handmixer frisiert. Im Zimmer gab es keinen Spiegel, aber den brauchte sie auch nicht, um zu wissen, dass ihre Haare in alle Richtungen abstanden. Sie hatte in ihrem Leben oft genug unruhig geschlafen, um eine glasklare Vorstellung zu haben.

    Da sie keine Zeit zu verschwenden hatte, stürzte sie durch die Tür und rannte auf die Damentoilette zu. Jean stand an einem der Waschbecken, der Stiel einer Zahnbürste ragte zwischen ihren Lippen hervor. Wie üblich verursachte ihr Anblick einen vorübergehenden Kurzschluss in Evas Gehirn.

    Als Kind hatte sie Jean verehrt. Sie hatte alles über sie gelesen, jeden Fernsehbericht über sie gesehen. In ihrem Zimmer hatte ein Superheldenposter gehangen, auf dem Jean zusammen mit den Avengers und Mitgliedern der Fantastic Four zu sehen war. Ihr Vater war nicht glücklich darüber gewesen, er hatte sich Sorgen gemacht, dass sie eine Mutanten-Sympathisantin sein könnte. Sie hatte nicht verstanden, wo der Unterschied sein sollte: Warum war Captain America einer von den Guten, Mutanten aber automatisch Schurken? Das ergab doch keinen Sinn. Man war doch nicht dazu verdammt, Böses zu tun, nur weil die Kräfte, die man besaß, einen bestimmten Ursprung hatten. Die Entscheidungen, die man traf, bestimmten, auf welcher Seite man stand. Das galt für die Starken wie für die Schwachen. Deshalb war Captain America so bewundernswert. Er hatte immer die richtigen Entscheidungen getroffen, selbst als er noch furchtbar schwach gewesen war. Eva war immer sein größter Fan gewesen.

    Siedend heiß wurde ihr klar, dass sie Jean anstarrte wie eine Vollidiotin. Schon wieder. Jean erwiderte ihren Blick, die Hand mit der Zahnbürste erstarrt. Eva wurde rot. »Entschuldige!«, platzte sie heraus. »Ich schwöre, irgendwann bekomm ich mich wieder unter Kontrolle.«

    Jean nahm die Zahnbürste aus dem Mund. »Schon gut«, sagte sie. »Ich find das alles ganz genauso seltsam wie du.«

    Daran zweifelte Eva nicht. Die Jean, die vor ihr stand, war vielleicht fünfzehn oder sechszehn, ein bisschen jünger als Eva selbst. Und schön war sie: Sie hatte langes rotes Haar und ein blasses Gesicht wie eine Porzellanpuppe. Zu Evas Überraschung hatte sie ein paar Sommersprossen auf der Nase. Die Jean auf dem Poster hatte keine gehabt. Es versetzte Eva in helles Verzücken, dass sie Dinge über Jean Grey wusste, die niemand sonst je erfahren würde – wie die Tatsache, dass sie Sommersprossen hatte und manchmal im Schlaf redete.

    Jean war zusammen mit den jüngeren Versionen von Cyclops, Angel und anderen Mutanten vorwärts durch die Zeit gereist. Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Mutantenschurken aus der Zukunft waren sie nun in dieser Gegenwart gestrandet. Der ältere Cyclops suchte nach einer Möglichkeit, ihnen zu helfen. In der Zwischenzeit lebten sie als Schüler hier. Das war bestimmt schräg. Eva glaubte nicht, dass sie sich an einer Schule wohlgefühlt hätte, die ihr zukünftiger Ehemann leitete – in einer Zukunft, in der sie gestorben war und die meisten Leute sich weigerten, ihren Namen auch nur auszusprechen. Jean schien das ganz gut wegzustecken, hatte andererseits aber auch nie über ihre Gefühle gesprochen. Und Eva war bisher zu eingeschüchtert gewesen, um nachzufragen.

    Stattdessen hatte sie sich bemüht, cool zu bleiben. Leider lag die Betonung dabei auf »bemüht«. Eigentlich kam sie gut mit anderen klar, aber nachdem sie Jean so lange angehimmelt hatte, war es schwer, sich in ihrer Gegenwart zu entspannen. Jetzt zwang sie sich dazu, ruhig ans nächste Waschbecken zu treten, als wäre es total normal, sich zusammen mit Jean Grey die Zähne zu putzen.

    »Glaub ich dir sofort«, sagte sie und drückte Zahnpasta auf ihre Zahnbürste. »Ich kann die Zeit anhalten und sogar ich find die Geschichte total verrückt.«

    Jean schnaubte. »Allerdings.«

    »Bei dir alles okay so weit?«

    »Alles bestens.«

    Es war nicht besonders schwer, diese Lüge zu durchschauen. Über Jeans Niedergeschlagenheit vergaß Eva ihre Nervosität. »Nein, ehrlich«, sagte sie. »Ich weiß schon, wir kennen uns kaum, und ich will auch nicht die Nase in deine Angelegenheiten stecken. Aber mit wem kannst du sonst reden? Na ja, du hast natürlich den jungen Scott … Aber der hat bestimmt seine eigenen Probleme. Dauernd steht er seinem älteren Ich gegenüber, das muss echt gruselig sein. Ich würd mich selbst die ganze Zeit bloß anglotzen. Na ja, jedenfalls kannst du dir deshalb bestimmt nicht alles von der Seele reden, wenn du mit ihm zusammen bist … Und es klingt, als wäre Angel noch neu, also kann er nicht so gut verstehen, wie es ist … ähm …« Eva wusste nicht weiter und steckte sich schnell die Zahnbürste in den Mund. Sie wollte nicht in ein Fettnäpfchen treten.

    Jean sah sie im Spiegel an. »Schon in Ordnung«, sagte sie leise. »Du kannst es ruhig sagen.«

    Eva senkte den Blick. »Wie es ist, unter dieser Belastung zu stehen, die hier auf dir lastet – und dabei kannst du nicht mal was dafür. Schließlich reden wir hier von Entscheidungen, die du noch gar nicht getroffen hast. Wenn du eine Freundin brauchst, die dir hilft, damit klarzukommen … ich bin da, okay?«

    Jean antwortete nicht sofort und Eva fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. Es war eine Sache, die zeitreisende Telepathin wie einen normalen Menschen zu behandeln, aber sie an ihre Sorgen zu erinnern? Das war etwas ganz anderes.

    Dann sagte Jean: »Weißt du, das wäre wirklich schön. Hast du Lust, mit mir zu frühstücken?«

    »Das würde ich furchtbar gern, aber ich bin schon zu spät dran. Ich hab nicht mal mehr Zeit zu duschen. Es reicht gerade noch für ’ne Katzenwäsche.«

    Eva drehte das Wasser voll auf und hielt den Kopf unter den Strahl. Wo sie schon dabei war, wusch sie sich auch gleich das Gesicht. Als sie wieder aus dem Waschbecken auftauchte, reichte Jean ihr ein Handtuch, was gut war, weil Eva nämlich vergessen hatte, eins mitzubringen.

    »Danke schön!«, sagte sie und musterte sich kritisch im Spiegel. Sie würde heute sicher keinen Style Award gewinnen, aber fürs Training würde es gehen. Ihr kurzes schwarzes Haar stand ihr wild vom Kopf ab. Vorne wurde es aus unerfindlichen Gründen immer heller. Das war losgegangen, als ihre Mutantenkräfte sich manifestiert hatten. Hoffentlich würden ihre Haare nicht ganz weiß werden … Obwohl, mit dem richtigen Styling könnte das sogar ganz cool aussehen.

    Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich selbst anstarrte. Jean wirkte ein wenig verwirrt. Eva lachte verlegen und wurde wieder rot. »Gestern bin ich den halben Tag mit Zahnpasta im Gesicht rumgelaufen«, erklärte sie. »Hat mir irgendwer was gesagt? Nee, natürlich nicht. Deshalb bin ich jetzt ein bisschen paranoid. Wärst du an meiner Stelle auch.«

    »Allerdings«, sagte Jean mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Keiner kann einen als X-Man ernst nehmen, wenn man Zahnpasta im Gesicht hat.«

    »Siehst du? Du verstehst mich. Ich seh dich später. Dann machen wir was, okay?«

    Hastig wollte sie ihren Kram zusammenraffen und warf dabei die Hälfte vom Waschtisch. Ihre Haarbürste rutschte über den Boden und verschwand in einer Toilettenkabine, ihre Zahnbürste landete neben ihrem Fuß und ihre Zahnpastatube war nirgends zu sehen.

    »Ernsthaft jetzt?«, rief sie. »Na toll, echt toll! Warum passiert so was immer, wenn man’s eilig hat?«

    Jean hob die Bürste auf und reichte sie ihr mit mitleidigem Gesichtsausdruck. »Hier. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich die noch benutzen würde … Die Fliesen sind eklig.«

    »Total.« Eva betrachtete die Bürste unglücklich, dann legte sie sie mit spitzen Fingern auf den Waschtisch. Sie bückte sich und hielt nach ihrer Zahnpastatube Ausschau. In den ersten drei Tagen an der Schule hatte sie auf Luxusartikel wie Zahnpasta verzichten müssen. Es hatte sich angefühlt, als wüchse Pelz auf ihren Zähnen. Und das war definitiv keine schicke neue Mutantenkraft. Sie hatte für die Zahnpasta gekämpft und würde sie nicht so leicht verloren geben. Wer wusste schon, wann sie die nächste Tube bekommen würde. Solche Dinge nahm sie nicht mehr als gegeben hin.

    In der Nähe der Toiletten oder Duschkabinen lag nichts und die Ecke unter den Handtuchhaltern war leer. Da die Tube sich auch nicht in dem verzogenen Spalt unter der Tür verklemmt hatte, konnte sie nur an einem Ort sein.

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