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Am Ende der Gezeiten
Am Ende der Gezeiten
Am Ende der Gezeiten
eBook559 Seiten7 Stunden

Am Ende der Gezeiten

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Über dieses E-Book

Als die Grenzen zweier Realitäten niedergerissen werden, steht unsere Welt vor dem Ende: Die Erde wird von den Schrecken einer fremden Wirklichkeit überrannt.

Einem Mann gelang einst die Flucht aus jener Wirklichkeit. Obhut fand er bei den Menschen. Die Zeit allerdings bestärkte seinen Wunsch, Zeuge ihres Untergangs zu werden. Nun, da die Alpträume seiner Heimat über die Menschheit hereinbrechen, ist er gezwungen, ihr Ende zu vereiteln. Denn ein junges Mädchen hat die Rettung verdient.

Wird er ihretwillen das Richtige tun können? Oder wird er die Apokalypse zulassen, die er sich sein ewiges Leben lang erwünscht hat?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Apr. 2019
ISBN9783749458882
Am Ende der Gezeiten
Autor

Marcel Anthony Alber

Marcel Anthony Alber, geboren 1993 in Frankfurt am Main, schreibt, seitdem der erste Einfall zu spannend war, als dass er ihn hätte ignorieren können. Um sich vollends seiner Liebe zu Büchern hinzugeben, studierte er Germanistik mit Schwerpunkt Literatur in Gießen. Die Literaturwissenschaft hat ihn dazu fasziniert, die Feinheiten der Klassiker in seine Geschichten über die moderne Welt einbinden zu wollen. Wenn er gerade nicht am Schreiben ist, lebt er seine große Liebe zum Film aus. Sein Debütroman »Am Ende der Gezeiten« ist der Auftakt einer großen Reihe, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, neue Facetten des Fantasygenres aufzudecken.

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    Buchvorschau

    Am Ende der Gezeiten - Marcel Anthony Alber

    überwog.

    1. Jenseits des Horizonts

    Adam sitzt in seinem 3-Zimmer-Apartment zwischen leeren weißen Wänden, die dank der abgeschotteten Fenster genauso gut tiefschwarz tapeziert sein könnten. In jene Nacht versetzt er sich nicht gerne zurück, obwohl es einem wahren Wunder eben ist, dass er sich ihrem Andenken überhaupt noch hingeben darf. Er setzt einen Punkt nach seinem letzten Satz, legt den Stift zur Seite und schließt das braunrot gebundene Buch, das ausnahmsweise mehr leere als beschriebene Seiten in sich birgt. Seinen Hals legt er in die ausgefranste Schlinge des Stricks an der Decke. Die Augen weit geöffnet stößt er den Stuhl, auf dem er Stand findet, mit seinen Füßen zur Seite und lässt sich fallen. Das raue Seil spannt sich straff um seine Kehle.

    Seelenruhig baumelt er durch die Luft.

    Entgegen den dreizehn Wicklungen, die er für den Henkersknoten gebraucht hat, klammert er sich an die infantile Hoffnung, heute sei sein Glückstag. Der Flachbildfernseher dröhnt laute Nachrichten über Krieg und Vergewaltigung durch seine leere Wohnung, der Nachhall peitschenden Regens dringt hinein. Autohupen, Krankenwagen-Sirenen, die Polizei-Sirenen hinterherjagen, und die gereizten Stimmen der Menschen, die ihn niemals verstehen werden. Die Gedanken, von denen er nur hoffen kann, sie seien seine letzten, sind einem Mädchen gewidmet.

    Ihr Name ist Emily.

    – Die letzten 28 Stunden –

    Am darauffolgenden Vormittag läuft Adam durch die beengend ockerfarbenen und noch recht schlaftrunkenen Gänge der Schule, an der er unterrichtet. Hier und da passiert er gähnende Münder, ausstreckende Glieder und zu fallende Blicke. Zwei Mädchen halten sich gegenseitig ihre Smartphones ins Gesicht, um sich die Beweisbilder der Eskapaden des letzten Abends vorzuhalten. Adam streift sich über den verrenkten Nacken, um zu erfühlen, ob auch seine vergangene Nacht irgendwelche Spuren hinterlassen hat.

    »Hi, Mr. Gilligan! Alles klar? Vielen Dank nochmal wegen letztens«, sagt ein Schüler gesellig im Vorbeigehen.

    »Hey, ähm, gern geschehen«, murmelt Adam. Er tarnt die Tatsache, das aknebewohnte Gesicht des Jungen nicht erkannt zu haben, indem er, ohne sich ein zweites Mal umzudrehen, in ein volles Klassenzimmer huscht. »Guten Morgen, alle zusammen.«

    Die 12. Klasse antwortet im gemischten Chor: »Guten Morgen, Mr. Gilligan.«

    Gilligan. An den Klang wird sich Adam nie so richtig gewöhnen. Von all den Namen, die er sich in letzter und vorletzter Zeit verliehen hat, ist gerade Gilligan wohl genau der, den er am wenigsten leiden kann. Jeden Tag hat er ihn anzuhören, trotzdem muss er sich immer noch anstrengen, so zu tun, als wäre er sein eigener. Warum, weiß er nicht. Hat er sich den Namen schon einmal verliehen und entsinnt sich unterbewusst an vergangene Tage, die ihm übel mitgespielt hatten?

    »Okay, fangen wir an.« Da er gestern Abend keine Zeit mehr fand, sich für diese Stunde zu rüsten, zögert er.

    Ob seine Schüler es ihm übelnähmen, wüssten sie, was er gestern Abend neben dem kleinen Malheur, sich seinen Nacken aufs Übelste verrenkt zu haben, alles getan hatte? Da war der Motorradunfall, der Tankstellenraub, der Hausbrand, die er vereitelt hatte.

    »Setzt euch bitte.«

    Allerdings ist dies der Geschichtsunterricht, sein Lieblingsfach; er ist nie wirklich unvorbereitet.

    Er liest die Worte, während er sie mit einem abgenutztem Kreidestück an die ausgediente Tafel schreibt, laut vor: »Die drei Kränkungen der Menschheit«, als er sich umdreht, blickt er wie erwartet in ein Sammelsurium ahnungsloser Mimik. »Kann mir jemand etwas darüber sagen?«

    Niemand meldet sich. Eine Handvoll Kopfschütteln, als zählte es zur Beteiligung am Unterricht.

    »Na gut. Die drei Kränkungen der Menschheit ist ein Begriff, den Sigmund Freud geprägt hat. Sigmund Freud sagt euch aber was, oder?«

    »Dieser Psychologe da?«, ruft ein Junge halb fragend rein.

    »Melden, bitte«, sagt Adam, um seiner Pflicht als Lehrer nachzukommen. Dabei freut er sich insgeheim darüber, keine Namen aufrufen zu müssen. »Aber ja, Tiefenpsychologe, Neurologe und darüber hinaus ein großer Religionskritiker.« Er rückt seine Fachliteratur zur Seite, um sich bequem aufs Lehrerpult zu setzen. »Zurück zum Punkt: Die drei Kränkungen der Menschheit sind drei geschichtliche Ereignisse, die euch bekannt sein sollten. Den Begriff Kränkung machte Freud daran fest, dass die Ereignisse seiner Meinung nach den Stolz und das Selbstwertgefühl der Menschheit verletzten.«

    Die ganze Klasse ist nach wie vor still. Zur Hälfte zwar aus Langeweile, das Kritzeln der Bleistifte, die verwahrloste Kreise auf den Blöcken ziehen, schafft er jedoch getrost zu ignorieren.

    »Lasst mich das vielleicht etwas anders formulieren: Es waren weniger Ereignisse als Erkenntnisse. Die erste Kränkung war die, dass unsere Erde nicht Mittelpunkt von Allem ist, wie von Nikolaus Kopernikus in seinem Werk De Revolutionibus Orbium Coelestium erstmals beschrieben. Die zweite Kränkung geht auf den Darwinismus zurück. Über Charles Darwins Theorie – dass der Mensch vom Affen abstammt und nicht von Gott erschaffen wurde – lässt sich zwischen Atheisten und Gläubigen heute wie damals streiten. Nichtsdestotrotz war dies ein Meilenstein in der Evolutionstheorie und fand viele Anhänger. Die dritte Kränkung ist eine Beobachtung von Freud selbst, und zwar, dass der Mensch nicht Herr in seinem eigenen Haus ist. Womit er meint, dass das triebgesteuerte Verhalten des Menschen stärker als der Wille und das bewusste Denken sein kann. Somit hält jeder Mensch etwas in sich, über das nicht einmal er selbst Kontrolle hat.«

    Das aufmerksame Schweigen gewinnt allmählich Oberhand. Die Blicke fixieren ihn.

    »Dass Freud das Wort Kränkung nutzte, wurde seinerzeit oft kritisiert, da nicht jedermann die Meinung vertrat, dass die Zeitgenossen Darwins und Kopernikus’ diese Erkenntnisse auch wirklich als kränkend empfanden. Ich kann euch jedoch persönlich sagen, dass eine Menge Menschen damals sogar sehr gekränkt waren.«

    Ein kleiner Teil der Schüler lacht; manche reinen Herzens, andere nur, da es als Voraussetzung für gute Noten gilt, über die Witze des Lehrers zu lachen. Adam lächelt beiden Parteien gerade noch rechtzeitig entgegen, um den Eindruck zu vermitteln, er hätte einen charmanten Witz reißen wollen.

    »Ob Kränkung oder nicht, ich finde den Gedanken sehr interessant. Bevor wir also weitermachen ist meine Frage an euch: Was glaubt ihr, könnte als vierte Kränkung folgen? Nachdem der Mensch erfahren hat, dass er nicht der Mittelpunkt der Welt ist, er nicht von Gott geschaffen wurde und nicht einmal die Kontrolle über sich selbst hat, was könnte die modernisierte Menschheit von heute noch kränken?«

    Es strecken sich einige scheue Hände in die Höhe. Adam sucht sich die Fingerspitze heraus, die am weitesten nach oben ragt. In der Hoffnung, ausnahmsweise mal einen vernünftigen Beitrag von Victoria miterleben zu dürfen, verzichtet er auf einen Rückzieher und sagt: »Ja, bitte.«

    »Also mich würd’s echt kränken, fänden wir heraus, dass es keine Aliens gibt«, kichert sie.

    »Okay, interessant«, sagt Adam. »Aber ich denke, da wir dich ja alle kennen, dass du eher enttäuscht wärst, gäbe es kein anderes Leben im Universum, und nicht gekränkt. Da gibt’s einen Unterschied, nicht wahr?«

    Zustimmend nickt sie und wird wieder aufmerksam.

    Eine andere Hand erklimmt die Spitze, Adam zeigt auf sie: »Ja?«

    Das Mädchen antwortet: »Vielleicht, keine Ahnung, dass es keinen Gott gibt?«

    »Das ist auch eher die Richtung, die ich im Kopf hatte. Die zweite Kränkung, Darwins Theorie, besagt zwar, dass wir alle aus der Tierreihe hervorgehen, doch selbst wenn man dies damals hätte zu hundert Prozent beweisen können, sodass selbst die extremsten Gläubigen nicht widersprochen hätten, wäre das kein absoluter Beweis dafür, dass es gar keinen Gott gibt. Allerdings wäre das auch mehr Enttäuschung als persönliche Kränkung, findest du nicht?«

    »Okay, und wie wäre das?« Sie überlegt. »Es gibt einen Gott – aber der kann uns Menschen gar nicht leiden.«

    »Richtig, das wäre eine Kränkung. Sogar die Kränkung schlechthin, möchte ich meinen. Ich würde selbst sagen, dass es nicht einmal ein Gott sein müsste, den wir aus der Bibel oder dem Koran kennen und anbeten. Stellt euch vor, es existiert ein gottähnliches Wesen oder eine andere vergleichbare Macht im Universum, die über den Menschen steht. Die auf die Menschheit herabblickt und womöglich bereits ihre Bestrafung plant. Aus dem einfach Grund, dass der Mensch nicht so perfekt ist, wie er zu sein glaubt.« Die letzten Worte liegen wie massige Felsbrocken in seinem herben Hals. In den Augen der Schüler erkennt er, dass sie sich der Vorstellung eines rachsüchtigen Gottes ehrfurchtsvoll hingeben.

    Derselben, die auch ihn keine Nacht schlafen ließ.

    »Und? Bist du morgen am Start?«, spricht ein bestimmter jemand in Adams Nähe, als er die belebten Flure seiner Schule in der Pause entlangläuft.

    Die quengelnde Mädchenstimme, die fragt, erkennt er auf Anhieb. Sein Herz überspringt ein paar Takte, als er der Stimme entgegenfiebert, deren Antwort erfahrungsgemäß folgen sollte.

    »Weiß nicht«, hört er ein anderes Mädchen schließlich sagen. »Mal gucken.«

    Unauffällig wird er langsamer, indem er den vollgeschriebenen Block in seiner Hand mustert und vorsichtig sein Schritttempo reduziert. Die beiden Sprecherinnen überholen ihn. Seinen Blick kann er nicht von der Person abwenden, die links läuft.

    Es ist Emily, die Emily. Eine 17-jährige Schülerin.

    »Mann, jetzt komm schon. Wir haben Wochenende, okay? Wochenende! Wie oft kann man das schon von sich behaupten? Dein Opa hat bestimmt nichts dagegen«, erwidert Victoria, das Mädchen rechts. »Gib dir mal’n Ruck.«

    Ihre Freundin hat schulterlanges, dunkelblondes, welliges Haar, ein hübsches, sehr weibliches Gesicht und scheint immer und von jedem Passanten in der Schule gegrüßt zu werden. Was zum einen höchst eindrucksvoll mit anzusehen ist, findet Adam, da Victoria wahrhaftig jeden beim Namen kennt und ihr niemals auch nur ein Name zu entfallen scheint. Und zum anderen sehr amüsant, da man eine ganze Palette an verschiedensten Grußformeln zu hören bekommt. Von »Yo, was geht?« und »Alles fit?« bis zu »Na, meine Liebe. Grüß deine Mutter von mir« und dem Klassiker »Hallo, wie geht’s«. Dafür braucht sie sich nicht einmal zu verstellen. Sinn und Zweck dahinter ist es nie, auf Biegen und Brechen gut ankommen zu wollen. Nein, all diese Facetten wohnen ihr wirklich inne. Sie weiß ihnen nur adäquat Freilauf zu gewähren.

    »Kennst ihn doch«, Emily scheint trotz Victorias intensiven Euphorie recht teilnahmslos, »du weißt, wie er sein kann. Schieb das jetzt nicht auf mich.«

    Jede ihrer Gesten, jeder Blick macht Adam neugierig. Sei es die Art, wie sie ihre glatten, langen, brünetten, wild fallenden Strähnen scheinbar alle fünf Sekunden übers Ohr streift oder wie sehr sie ihre mandelförmigen Augen zusammenkneift und ihre leicht gebogenen Brauen darüber glücklich nach oben steigen, sobald man auch nur den kleinsten Ansatz eines kleinen Lächelns an ihren Grübchen erkennt. Und wenn sie dann mal von ganzem Herzen lächelt, zeigt sie dabei herzlichst alle Zähne. Sie hat ein ausdrucksstarkes Gesicht, von dem jeder Ausdruck so stark einschlägt, dass Adam alle Male, die er sie glücklich sieht, zu weinen anfangen will.

    »Yo, Dennis«, der Durchreisende bekommt einen personalisierten Handschlag von Victoria, »alles cool?« Damit keiner auf ihrer Begrüßungsrunde zu kurz kommt, hat sie einen strengen Zeitplan einzuhalten, also geht’s sofort weiter. »Hör zu, Emily, diesmal musst du kommen, ohne Mist, du musst! Wir gehen erst zum Strand, chillen ein bisschen in der Stadt, essen was beim Italiener, dies, das, bla, bla, bla und abends treffen wir ein paar alte Freunde im Park.« Jeder Punkt wird zusätzlich an der Hand abgezählt, die in Emilys Gesicht gehalten wird: »Siehst du«, um verzweifelt einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. »Wie kannst du dazu Nein sagen? Ich versteh dich nich’. Klingt doch geil.«

    »Klingt eher wie all deine Wochenenden.«

    »Na, und wo ist der Unterschied?«

    Adam hatte sich bereits oft gefragt, wie die beiden ein Leben lang schon solch eine enge Freundschaft zueinander hegen und pflegen können. Nur selten sind sie einer Meinung, besonders was soziale Events angeht. Ein typisches Modegespräch zwischen zwei heranreifenden Mädchen kann er sich bei ihnen ebenfalls nicht als überaus mitreißend oder gar fruchtbar vorstellen, dazu sind ihre beiden Geschmäcker auf den ersten Blick viel zu verschieden.

    Victorias Kleidungsstil könnte in manchen Augen als zu freizügig abgestempelt werden, da sie, wie jetzt auch, öfter mal kürzere Röcke und farbenfrohe, trägerlose Oberteile trägt.

    Emily dagegen scheint eher schlicht. Und doch besonders. Eintönig, aber in keinster Weise farblos. In sich eingeschlossen und doch offenherzig. Als wollten ihre nichtssagenden Klamotten sagen, dass man sie auf eine andere Art kennenlernen soll als auf einen ersten Blick.

    Auch bei Interessen kommt er auf keinen gemeinsamen Nenner. Da er Emily nicht kennt, könnte er, selbst wenn es um ihr Leben ginge, keines ihrer Hobbys oder auch nur eine Freizeitbeschäftigung benennen. Er ist sich jedoch ziemlich sicher, dass ihr größtes Interesse nicht ihrer Faszination von extraterrestrischem Leben entsprungen ist, so wie es bei Victoria der Fall war. Es gab Tage, da redete sie im Unterricht von nichts anderem. Den Fehler, die Schüler die Themen ihrer Präsentationen selbst auswählen zu lassen, wird er dank ihrer zweistündigen, vorzeitig abgebrochenen Predigt nie wieder begehen.

    »Von mir aus, du lässt mir keine andere Wahl. Muss ich die Bombe eben jetzt schon platzen lassen«, ein weiterer Passant drängelt sich in den Vordergrund, Victoria wird unterbrochen und Emily auf die Folter gespannt, »Na, ähm … Chris? Kevin? David? Spaß, Philipp. Sehen uns später, bye-bye«, mit einem Klaps auf den Oberarm wird er fortgeschickt. »Wo war’n wir stehengeblieben? Ah ja, die Bombe: Tom wird auch da sein.« Anscheinend genau die richtige Aussage, um sich doch noch von ihrer guten Laune anstecken zu lassen. »Boom. Jetzt hab ich dich, was?«

    »Dein Ernst?«, platz es Emily lauthals heraus. Einige vorbeigehende Schüler drehen sich amüsiert zu ihr um, was sie offensichtlich sehr, sehr peinlich berührt.

    »Ja, Blödmann. Gut gemacht, die Überraschung ist hin. Oh, aber wenn wir eh schon beim Thema sind, setze ich auch noch einen drauf, was soll’s: Er hat mich sogar gefragt, ob du kommst«, lächelt sie.

    Emilys Verlegenheit steigt proportional mit dem Rotton ihrer Wangen.

    »Na ja, ich mein, er hat nach der kleinen, dicken Hässlichen gefragt, mit der ich immer aus Mitleid abhänge, aber ich nehme mal stark an, dass du gemeint warst«, lacht Victoria. »Ach Mädchen, guck nicht so blöd, der letzte Teil war Spaß! Ha, siehst du, siehst du, du lachst jetzt schon! Das wird lustig, glaub mir. Würde ich dich jemals anlügen?«

    »Jeden Tag.«

    »Halt die Fresse«, Victoria zieht sich eine x-beliebige Mitschülerin aus der Menge heraus und lehnt sich nonchalant auf ihre Schulter. »Hey, Jessi. Coole Jacke! Neu? Steht dir, Süße! Tu mir’n Gefallen und sag der kleinen, dicken Hässlichen hier, dass es morgen lustig wird.«

    »Das wird lustig!«

    »Siehst du, Emmy.«

    Beide gehen munter lachend in ein Klassenzimmer und setzen sich nebeneinander in eine der mittleren Reihen. Adam versucht unscheinbar weiterzulaufen und hofft, dass niemand bemerkt hat, wie er einer minderjährigen Schülerin vorsätzlich hinterherläuft. Ob sie es schon einmal bemerkt hat?

    Die Tür zum Lehrerzimmer steht weit offen.

    Er kämpft sich regelrecht durch den Smog an Zigaretten und frisch gebrühtem, glühendem Kaffee, den ein jeder Lehrer beim Verlassen dieses Zimmers an Klamotte und Atem wieder herausträgt. Als er die erschlafften Gesichter erblickt, von denen er kaum einen Namen kennt, erahnt er, welch alltägliches Ritual sich gleich abspielen wird; Alexandra Daniels sitzt alleine an einem Tisch für zwei und trinkt ihren morgendlichen dritten Kaffee. Sie ist eine Lehrerin, sogar eine relativ gute, wie Adam findet. Ihre Anstrengungen sieht man ihr an dem strubbligen, flüchtig gebundenen Dutt ihrer dunkelorangenfarbenen Haare, ihrem blasswangigen Gesicht und ihren schattigen Augenringen an. Die aber zahlen sich aus, denkt er. Nur dank dieses Eifers schafft sie es, einen bleibenden Eindruck bei ihren Schülern zu hinterlassen. Viele Abgänger der letzten Jahre kommen sie des Öfteren besuchen, um ein wenig über damals zu plaudern. Adam kann sie leiden, auf seine ganz eigene Art, trotzdem würde er sie nicht wieder zum Essen einladen wollen. Dazu redet sie ihm zu viel und er hatte alles schon mehr als nur einmal gehört.

    Nun hat sie ihn bereits gesehen und schon so augenfällig gewunken, dass das gesamte Kollegium mit Rampenlicht in den Augäpfeln auf ihn starrt. Er ist quasi gezwungen, sich zu ihr zu setzen. Auch wenn die Blicke konstant anhalten, lässt er sich mit langsamen Schritten Zeit. Als er den langwierigen Prozess des Hinsetzens schließlich hinter sich gebracht hat, fühlt er sich, als hätte er das Ganze so lange hinausgezögert, dass seine schaulustigen Kollegen letzten Endes auch noch applaudieren wollen. Er verkneift es sich, mit den Augen zu rollen.

    »Na, wie geht’s?«, will sie wissen, und so wie Adam sie kennt, sogar nicht nur aus Höflichkeit.

    »Gut und selbst?«, fragt er hingegen strikt an sozialen Formalitäten orientiert, gibt allerdings sein Bestes, ihren Ton zu imitieren. Aus Vorbedacht hatte er sich einst angewöhnt, sich nur auf neutrale Formulierungen wie und selbst? zu beschränken, um sich bestmöglich vom Per-Du-Sein mit seinen Kollegen zu distanzieren.

    »Auch«, sie dagegen ist der selbsternannte, hart erkämpfte Ausnahmefall, »ich hab dir gestern ein bisschen beim Unterricht zugesehen.«

    »Hat’s dir gefallen?«

    »Sehr sogar. Bin immer wieder überrascht, wie eingehend du alles erzählen und erklären kannst. Wow, echt. Davon sollt ich mir mal ’ne Scheibe abschneiden, was? Gestern, zum Beispiel, hast du über die Entwicklung des, ähm, Schwertadels in Japan und die Ära der Samurai-Herrschaft geredet, weißt du noch? Ich war hin und weg, wirklich. Als hättest du selbst für diese – wie war das Wort? – Dai…« Sie wird zur Augenbrauenakrobatin. »Daimyo?«

    »Daimyō«, zwingt er einen kleinen Akzent auf, der unnatürlich wirken soll.

    »Sag ich doch. Als hättest du selbst ab und zu für solche Fürsten gekämpft.«

    Nun muss ein Lächeln folgen, das nicht zu viel verraten soll. Erst hebt er nur einen Mundwinkel nach oben, was sich aber zu draufgängerisch und überzogen anfühlt. Also erhebt er auch den zweiten, merkt aber schnell, dass es zu statisch wirkte. Er kommt zu dem Part, den er an einem falschen Lächeln als am schwierigsten empfindet: das Vergehen. Es darf nicht zu schnell passieren, auch nicht zu langsam. Oft traf er den richtigen Ton nicht und bekam dabei immer das Gefühl, die Leute nähmen ihm das sehr persönlich.

    Alex macht es ihm einfach, als sie auf den silbernen Löffel blickt, während sie ihn in ihren Kaffee tunkt und umrührt. Als sie wieder nach oben schaut, ist es verschwunden.

    An das letzte Treffen – er nennt es ungern Date – mit seiner Kollegin erinnert er sich kaum noch. Nur noch das zu schwach gesalzene Essen, das geschmeckt hatte, als war es in altem Fett gebraten worden, den halbtrockenen Wein, obwohl er halbsüßen bestellt hatte, und den Sex. Überraschenderweise bekommt er ein schlechtes Gewissen.

    »Ich würde dich gern wiedersehen. Letztes Mal hat mir sehr gefallen«, sie gönnt sich einen befriedigenden Schluck, als wollte sie sich selbst davon abhalten, mehr zu sagen.

    »Mir auch«, lügt er.

    Bevor der Moment noch unangenehmer werden könnte, klingelt die Schulglocke. Für den Bruchteil einer Sekunde fragt er sich, ob das Schicksal doch keine so schlechte Idee gewesen war.

    »Was hast du jetzt?«, fragt sie, den Daumen an der Lippe reibend, um ein paar Kaffeeüberreste zu beseitigen.

    »Musik, Spanisch, Physik und Wochenende. Hör zu, ich rufe dich an, okay?«

    Ihr prägnantes Lächeln versucht ihre Angst, enttäuscht zu werden, zu verstecken. Das Ganze tut sie aber mindestens so steif wie er eben noch. Er lächelt zurück, schielt dabei aufs Nasenbein ihrer Stupsnase und hofft, sie verwechselte es mit einem aufrichtigen Blick in ihre haselnussbraunen Augen. Meist dient sein Lächeln allein dem Zweck, sein fehlendes Interesse an ihr oder jemand anderem zu verbergen. Für diesen Ausdruck hat er ein Talent entwickelt.

    Als er das Lehrerzimmer verlässt und den nächsten Klassenraum aufsucht, hofft er, auf dem Weg noch einmal Emily sehen zu können. Vergebens. Die Gänge sind leer, der gute Wille des Schicksals scheint ihn verlassen zu haben. Schade. Zu gerne würde er sie unterrichten und aufs Leben vorbereiten, schließlich ist er nur ihretwegen Lehrer an dieser Schule.

    2. Die Ironie des Schicksals

    – 22 Stunden –

    Nach einem langen Schultag kommt Emily endlich nachhause und legt als allererstes ihre schwere Schultasche ab. Wie immer hat sie einen stechend roten Abdruck auf ihrer verausgabten Schulter hinterlassen, über den sie angenehm mit ihrer warmen Handfläche reibt. Die letzten Jahre über gab es kaum etwas, das sie so sehr gestört hat, wie diese verflixt schwere Tasche voller Bücher, Hefte und Blöcke. Gelegentlich ein paar Comics, Magazine und außerschulische Bücher, für die eher trostlosen Unterrichtsstunden, von denen es gegen Ende eines jeden Schuljahres reichlich gibt. Besonders, wenn es das Abschlussjahr ist. Zu wissen, dass ihre Schulter deswegen in ein paar Wochen schon von ihrer Tasche erlöst sein wird, gibt ihr ein mulmiges Gefühl, obwohl doch eigentlich ein positives daraus entspringen sollte.

    Als sie ihren Großvater auf der Couch vorm Fernseher sitzen sieht, erinnert sie sich an Victoria und ihre Freunde, wartet aber lieber noch auf den richtigen Moment, um nach Erlaubnis zu fragen. Ihr Opa ist nicht wirklich die Art von Münze, die man in die Luft schnippt, sich auf den Handrücken dreht und verständlicherweise entweder auf Kopf oder Zahl hofft. Er ist eher die, die auf unverständlicherweise daneben stolpert, in einen Gully rollt und für immer im Verborgenen bleibt: Er will ihr nie etwas verbieten, ist aber mit dem Großteil ihrer Unternehmungen meist nicht einverstanden und macht sich im Nachhinein zu große Sorgen. Es ist dieses ständige Vorenthalten der Wahrheit, das sie schon oft in den Wahnsinn getrieben hatte und ab und zu sogar dazu brachte, nicht einmal mehr nach Erlaubnis zu fragen. Dabei müsste er mittlerweile wissen, dass der Großteil ihrer Streitereien nicht deswegen entsteht, weil er ihr etwas verbieten will, sondern weil er nicht ehrlich zu ihr ist.

    »Wie war die Schule?«, fragt Joseph.

    »War okay. Was hast du heute gemacht?«, fragt sie, obwohl sie die triste Antwort längst kennt.

    »Guckst gerade zu, Schätzchen.« Gedankenlos schaut er weiterhin auf die flimmernde Mattscheibe, als wäre er das veranschaulichende Titelbild eines ausführlichen Artikels mit der treffenden Überschrift: Der Fernseher, Hypnotiseur einer Gesellschaft.

    »Echt schön draußen. Lust, später spazieren zu gehen?«

    Er antwortet mit einem lächelndem Nicken.

    »Gut. Ich leg mich erst nochmal hin, bin echt kaputt.« Sie schnappt sich eine Wasserflasche als Proviant. »Hab letzte Nacht kein Auge zu bekommen, voll blöd. Brauchst du sonst noch was?«

    Er schüttelt den Kopf.

    »Okay, bis nachher.« Sie rennt die Treppe rauf.

    Sie schmeißt die Tür zu ihrem Zimmer zu und legt sich aufs aufgewühlte Bett. Die unangenehme Stille will sie sofort mit ein wenig Musik aus dem Raum ekeln. Womit sie sich vor das Problem stellt, das sie schon seit einigen Tagen quält: Ihre Playlist ist auf Abwechslung und Vielzahl erbaut und getrimmt worden, jedes Genre ist weitaus mehr als nur ein Mal vertreten. Und trotzdem findet sie kein einziges Lied, nach dem sie sich gerade fühlt. Sie scrollt rauf und runter, rauf und runter, ordnet den Inhalt nach Interpreten, Alben und Erstelldatum, wird aber nicht fündig. Damit geht sie das unausgesprochene, überaus riskante Abkommen ein, dass sie und ihr Laptop einst miteinander ausgemacht haben – er darf den Ton angeben, ihre Gefühle werden ihm folgen.

    Sie klickt den Zufallsbutton und beginnt zu hoffen.

    Glück gehabt: Ihre Stereoanlage fängt an, einen kitschigen Popsong vor sich hin zu dudeln. Genau die richtige Voraussetzung, um sich in Gedanken zu verlieren und sich auszumalen, wie ihr Treffen mit Tom ausgehen könnte. Sie stellt sich vor, mit ihm am Strand zu sitzen, umgeben von Freunden und Bekannten, und wie er nur Augen für sie hat, so wie sie auf dem Schulhof nur welche für ihn. Höhepunkt eines jeden Schultages war es, in der Pause einen kurzen Blick auf den gleichaltrigen Jungen zu erhaschen und darauf zu hoffen, dass er ihn erwidert. Das passierte selten. Jedes Mal, dass es nicht geschah, war sie zutiefst enttäuscht, doch zu wissen, dass dieses unbefriedigte Gefühl romantischer Neugierde demnächst auch aus ihrem Leben schreiten wird, macht sie ebenso traurig wie die baldige Abwesenheit ihrer verflixt schweren Schultasche auf ihrer Schulter. Zwei nervige Aspekte ihres Alltages, trotzdem will sie keinen davon missen müssen. Warum?

    Während ihr Laptop den Soundtrack ihrer Fantasien allmählich ausklingen lässt, will sie ihre Gedanken zurück zum Treffen mit Tom lenken, zum Strand, den Freunden. Sie konzentriert sich stark darauf, dem flauen Gefühl, das sie überkommt, auf den Grund zu gehen. Tief in ihren Gedanken scheint etwas festzustecken, das sie daran hindert, den Moment ihres Traumes genießen zu können.

    Das Lied geht zu Ende. Die eingängige Melodie wird von den melancholischen Moll-Akkorden einer Akustik-Gitarre abgelöst, zu der eine raue Stimme leidenschaftlich mitsingt.

    Toms Lächeln zerfällt, während der Strand und das Meer zu dunkelgrauem Beton versteinern und sie sich plötzlich auf einer verblassten Straße befindet, die so leer ist wie jedes Versprechen, das darauf gebrochen wurde. Bevor sie erkennen kann, wohin die schwarzen Reifenspuren auf der Straße führen, reißt sie ihre Augen auf. Wüsste sie es nicht besser, verwechselte sie die Träne, die ihr sanft übers Gesicht streicht, mit rauem Sandpapier. Sie schmerzt. Während sie eine kühle Linie auf ihrer Wange hinterlässt, bemerkt Emily, wie fremd ihr dies Gefühl doch vorkommt, obwohl sie es einst so oft verspürt hatte. Diese eine Träne fühlt sich wie tausende an, weil sie anders ist als die tausend zuvor.

    Was macht diese hier bloß so verschieden?

    Mit müden Augen wälzt sie sich auf ihrem ungemachten Bett herum und bringt es noch viel mehr durcheinander. Schwer liegt die Träne auf ihrer Haut, sie erdrückt sie beinahe. Den Lattenrost ihres Bettes glaubt sie schon knacksen zu hören, so schwer ist sie. Ein Spaziergang könnte sie von dieser einsamen Straße fortbringen und ihr Bett am Leben erhalten, also steht sie auf und verlässt ihr Zimmer wieder.

    »Magst du jetzt schon raus?«, fragt sie ihren verdutzten Großvater.

    »Dachte, du willst schlafen.«

    »Ja, weiß auch nicht. Bin irgendwie doch nicht mehr müde.«

    »Gut, warum nicht?«

    Beide ziehen sich gemütliche Schuhe an und begeben sich in die noch gemütlichere Wärme.

    »Freust du dich mittlerweile auf den Abschluss?«, fragt Joseph, während sie den Bürgersteig ihrer ruhigen Wohnsiedlung entlanglaufen.

    »Na ja, etwas«, antwortet Emily. »Ich werde es zu sehr vermissen, Victoria nicht mehr jeden Tag sehen zu können, weißt du?«

    »Sicher. Wie geht’s ihr? Habe sie so lange nicht mehr gesehen.«

    »Bestens, wie immer. Kennst sie doch.«

    »Weiß sie schon, was sie danach tun wird?«, worauf Joseph hinaus will, ist klar.

    Emily hat dies Thema satt, auch wenn es nur richtig von ihm ist, es anzusprechen. »Sie hat sich an ein paar guten Universitäten beworben, wartet aber noch auf Rückmeldung, oh, da fällt mir ein«, jetzt mit der Sprache herauszurücken, kommt ihr als perfekte Ablenkung entgegen, »sie hat gefragt, ob ich morgen zu ihr kommen kann. Wir wollen in die Stadt, zum Strand, sowas halt, du weißt schon. Es kommen auch noch andere Leute. Hättest du was dagegen?«

    »Nein, nein. Geh ruhig«, sagt er absent jeglicher Andeutung von Zweifel, Sorge oder dem geringsten Hauch einer vorenthaltenen Wahrheit.

    Kurz gesagt: Das war viel zu einfach.

    Sie belässt es, ohne weiter nachzuhaken, bei einem schnellen: »Danke.«

    »Nichts zu danken. Das wird dich sicher ablenken.«

    »Ablenken? Wovon?« Schon bereut sie es, gefragt zu haben.

    »Morgen sind es zwölf Jahre.«

    »Mist«, seufzt sie.

    »Was?«

    »Hatte ich«, sie kratzt sich am Kopf, »vergessen.«

    »Schon okay.« Er wirft ihr einen versöhnlichen Blick zu. »Ist in Ordnung, das würden sie dir nicht übelnehmen. Sie wären stolz auf dich.«

    Darauf antwortet sie nicht. Dass diese weit hergeholte Spekulation auf etwas anderem als Gepflogenheiten beruht, kann sie sich einfach nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht. Worauf wären sie denn stolz? Etwa darauf, dass sie ihren Todestag vergessen hat? Und dass sie sich dann auch noch ausgerechnet für morgen vorgenommen hat, einen schönen Tag zu haben? Oder darauf, dass sie generell im Gegensatz zu früher kaum noch an sie denken muss?

    Wenn überhaupt.

    »Hast du schon gehört? Gestern Nacht wurde hier in der Gegend fünf Menschen das Leben gerettet«, sagt Joseph, da er ihren traurig gesenkten Blick erkannt hat.

    »Wirklich?«, fragt sie weiterhin unmotiviert. »Wie denn?«

    »Ein Unbekannter in einem braunen Mantel, das Gesicht zur Hälfte mit einem Schal bedeckt, hat eine Frau aus einem brennenden Haus gerettet. Ein paar Stunden später wurde ein Ehepaar zusammen mit ihrem Sohn am Hinterausgang einer Oper überfallen, und der gleiche Mann im braunen Mantel wurde gesehen, wie er den Verbrecher mit bloßen Händen niederschlug. Ähnliches ist noch zwei anderen Leuten gestern Nacht passiert, es wurde alles im Radio erzählt.«

    Die Geschichten, die Gerüchte und den Wirbel um diesen alten Helden hatte Emily schon fast vergessen. »Und? Hat man ihn geschnappt?«

    »Ich hoffe nicht.«

    »Du hoffst nicht?«, fragt sie zu einem Viertel überrascht, der Rest fließt in einen vorwurfsvollen Ton ein. »Er ist ein Mörder. Der Typ gehört bestraft.«

    Die paar Bilder, die von den Medien veröffentlicht wurden, lösten damals kein unappetitlicheres Gefühl in ihrem Magen aus, als sie heute allein schon der Erinnerung wegen verspürt. Bilder, über die man auf ihrer Schule auch nach Jahren noch spricht, als wären sie Teil dieser düsteren Legenden, die man sich früher beim Zelten am Lagerfeuer erzählt hat. Um die schrecklichen Vorstellungen loszuwerden, muss sie den Kopf einmal und zweimal kräftig schütteln.

    »Er hat Fehler gemacht, sicher«, sagt Joseph. »Die machen wir alle. Der größere Fehler ist aber immer, die kleineren nicht zu vergeben.«

    – 12 Stunden –

    »Keine Macht im Universum ist meiner ebenbürtig. Und trotzdem, träumen kann ich nicht mehr.«

    Eine weitere Mitternachtsstunde ist eingetroffen. Mit dem letzten Glockenschlag sind es auch die üblichen Gefühle, die Adam sich bemüht zu verdrängen, das typische Dunkel, das nicht zum Schlaf verleitet, und eine Lautlosigkeit, die nicht mit Ruhe gleichzusetzen ist. Er sitzt in einem sterilen Krankenhauszimmer – die Besucherzeiten sind längst passé – und hört zu, wie der Herzschlagmonitor leise im Takt durch den stillen Raum summt, während er sich dem alternierenden Metrum anschließt und weiterredet.

    »Dabei will ich nichts anderes, als in den Schlaf zu verfallen, der mich wieder vom Sommer träumen lässt. Ich habe genug Zeit im Winter verbracht, findest du nicht? In jedem Gedanken, in jeder Erinnerung, die ich habe, schneit es. Ob in dieser Welt oder einer anderen, egal, wo ich mich stehen sehe, selbst die Sonne der schönsten Tage ist weiß gefärbt. – Emily hat Augen wie der Juli, habe ich dir das je erzählt? Du würdest dasselbe sagen, glaub mir. Und das Gute ist: Von ihnen bräuchte ich nicht einmal zu träumen, um sie vor mir zu sehen. Wenn ich mich trauen würde, ihr in die Augen zu schauen, versteht sich. Leider ist das ein großes Wenn. Und ein noch größeres Aber. Erst heute habe ich sie wiedergesehen … Glaubst du, sie hat mich schon einmal bemerkt? Glaubst du, sie weiß überhaupt meinen Namen? Glaubst du, sie hat Angst, wenn sie nachts eine leere Gasse entlangläuft, oder glaubst du, sie weiß, dass keine der dunklen Gassen, in die sie geht, jemals wirklich leer sein wird? Wahrscheinlich nicht, oder? Schließlich war ich genau im … falschen Moment nicht für sie da.«

    Die Zeit ist gekommen; die abendliche Schuld pendelt ein. Adam streicht über die Nähte des braunen Mantels, der ihn jede Nacht begleitete. Er ist von Einschüssen durchsiebt, die Pistolen jedes Kalibers auf ihn eingedroschen hatten. Und auch wenn sie alle den Stoff seiner Klamotte zu durchdringen fähig waren, so war es keiner gestattet, ihn zu verletzten. Genauso wenig wie seinen Willen. Das vermag nur die Zeit.

    »Die Menschen haben meine Hilfe gar nicht verdient. Wüssten sie, was ich schon alles für sie getan habe, würden sie vor mir niederknien. Wie viele Kataklysmen habe ich bereits verhindert? Wie viele zutiefst mächtige Artefakte hat man schon versucht hier zu verstecken, sodass ich sie wieder verbannen oder zerstören musste, nur damit die Menschen nicht ins Kreuzfeuer ihrer Jagd geraten? Jedes Mal, wenn zwei Rassen glaubten, sie müssten ihren uralten Krieg geheim unter den Menschen fortführen, habe ich ihn beendet. Ein für alle Mal. Wie viele Prophezeiungen habe ich obsolet gemacht, wie vielen angeblichen Auserwählten habe ich ihre Irrelevanz bewiesen? Es gibt keine Prophezeiung mehr, keinen Auserwählten, keinen geheimen Krieg und kein allmächtiges Objekt. Dafür habe ich gesorgt, ich allein. Und die Menschen jagen mich jetzt, nur weil ich Menschen ermordet habe? Ich habe nicht einmal so gemordet wie sie. Oder? Die Leben, die ich genommen habe, waren es nicht wert gewesen, gelebt zu werden. Bitte, glaub mir.«

    Wie sehr er jene, die es verdient hatten, seinen Frust hat spüren lassen, traut er sich nicht auszusprechen. Feuer bekämpfte er mit Fegefeuer.

    »Sie haben den ersten Schritt gemacht. Sie. Ist es denn dann wirklich so verwerflich, den zweiten zu tun? Hm? Mit den Leben nahm ich schließlich all das Leid und die Trauer, die sie empfinden konnten und womöglich noch hätten anrichten können – und das … das ist das Einzige, das zählt. Richtig? Die Welt von Leid zu bereinigen. Oder … habe ich etwa … mehr … mehr Schmerz auf diese Welt gesandt als genommen? Kann der Vater, die Mutter oder die Frau eines Monsters mehr um den Verlust des Monsters trauern als die … die Familien, die durch dessen Hand ihre Liebenden verloren hätten? Wenn ja, dann tut es mir leid. Ich habe nicht gewollt, dass jemand wegen mir leidet, und das weißt du. Solange Leid existiert, werde ich nicht ruhen können.«

    Eine kurze Pause folgt.

    »Du kennst mich inzwischen zu gut, als dass du meine Absicht als … nobel befinden würdest. Aber ich glaube, nicht einmal du verstehst, was meine Absicht inzwischen aus mir gemacht hat.«

    Eine lange Pause folgt.

    »Ich muss dir … von … von einer Nacht erzählen, von der selbst du noch nichts weißt. Der Tag zuvor war für mich nicht von Bedeutung gewesen. Überhaupt nicht. Dennoch war es einer dieser bestimmten Tage, der mir das Gefühl gab, er war für eine Menge anderer da draußen der schlimmste des Lebens gewesen. Die Nacht wiederum gehörte alleine mir. Ich betrat eine dieser kleinen Seitenstraßen, von denen man ganz genau weiß, dass sie dorthin führen, wo man eigentlich gar nicht ankommen will. Tut man es doch, findet mindestens ein Teil von dir nie wieder raus. Ich hörte keine Schreie, kannte die Düsternis aber bereits zu gut, als dass sie mich mit Stille hätte täuschen können. Ich folgte ihr. Das erste Mal in meinem Leben sah ich Tränen, die selbst im Regen nicht verlorengingen. Sie gehörten einer Frau. Recht hübsch, nett gekleidet. Abgesehen von den ganzen Beulen, dem Dreck, dem Blut. Jünger als ich auf den ersten Blick vermutet hatte. Viel zu jung, um eine meiner Nächte durchqueren zu müssen. Überrascht war ich trotzdem nicht, sie dort liegen zu sehen. Nur darüber, wie weit man die Beine einer Frau auseinanderspreizen kann, ohne sie ihr abzureißen. Ich dachte, sie sei tot. Und je mehr ich mir ihren Gesichtsausdruck in Erinnerung rufe, möchte ich meinen, dass sie … dasselbe gedacht haben muss. Dann kam die Überraschung.«

    Er kämpft mit den Tränen.

    »Sie war schwanger. Es war ein Junge. Jung genug, um noch keinen Namen zu haben. Aber ein eigenes Herz … das hatte er schon. Und dem ging es nicht gut, ganz und gar nicht. Die Nabelschnur hatte sich beim Überfall um seinen Hals geschnürt. Mit einem Gedanken«, er schnipst mit dem Finger, »hätte ich sie lösen und die Atemwege befreien können. Ich kniete mich zu ihr nieder. Ihr in die Augen zu sehen war wie in einen leeren U-Bahntunnel zu blicken, in dem die Lichter des Zuges langsam angefahren kommen. Und als ich … als ich meine Hand an ihren Bauch ansetzte, da merkte ich, dass ich … direkt auf den Gleisen stand. Ihre Finger berührten meine. Sie waren kalt, aber kräftig – zu kräftig. Es fühlte sich schon im ersten Moment falsch an. Einfach nur falsch. Ich hörte ihr zu, als sie sagte, dass sie ihren Sohn nie hatte haben wollen. Dass ich ihn ersticken lassen soll, da sie nie den Mut zusammenfassen konnte, in die Klinik zu gehen und den Bogen zu unterschreiben, um die Drecksarbeit selbst zu erledigen. Auch wenn die Umstände, in denen sie sich befand, schrecklich waren, grauenhaft, kam ihr all das gelegen. Und sie stand sogar dazu. Kannst du dir das vorstellen? Sie sprach zu mir, als wäre ich der Sohn gewesen, der ungeboren bereits im Sterben lag … Es ist okay, sagte sie. Lass es einfach zu, es ist okay. Er und ich, wir werden nur darunter leiden müssen … Wie du dir vorstellen kannst, war es genau dieser Satz, der mich traf. Ich habe zu zögern angefangen. Und … hörte nicht auf. Oh Gott, ich … ich hörte einfach nicht auf. Irgendjemand muss einen Krankenwagen gerufen haben, denn als ich da saß und mich nicht rührte, spürte ich das Blaulicht im Rücken. Die Sanitäter haben die Frau ins Krankenhaus gebracht und das Kind gerettet. Und ich, ich weiß nicht, was ich getan hätte, wären sie nicht eingetroffen.«

    Seine Tränen tragen den Pokal davon.

    »Doch, ich weiß es. Ich hätte ein kleines Kind getötet, um …« Seine Lippen pressen zusammen. Nie zuvor hat er sich den Menschen so nah gefühlt wie in diesen Momenten. »Die Welt von Leid zu bereinigen. Ausnahmslos. Kompromisslos. Gnadenlos. Das ist das Einzige, das zählt.«

    Das erste Mal heute Nacht schaut er Mathilda in die geschlossenen Augen. Sie ist vierundzwanzig Jahre alt und liegt bereits ganze neunzehn davon im Koma. Solange schon sind ihre Augen geschlossen. Adam weiß gar nicht mehr, welche Farbe sie einst hatten. Sie hingegen weiß alles über ihn, da er jeden Tag herkommt, um seine Beichte abzulegen.

    »Ich weiß, ich bin in keiner Position, dich um etwas zu bitten, aber bitte, versuch mich zu verstehen, ja?« Er wischt sein Gesicht trocken, steht auf und stellt sich an die Tür. »Ich weiß auch nicht, weshalb ich dir ausgerechnet heute all das erzähle. Vielleicht will ich es endlich einfach nur loswerden, du kennst mich doch. Aber vielleicht auch, weil ich dumm genug bin zu hoffen, dass wir beide uns heute das letzte Mal gesehen haben. Es tut mir leid. Lebe wohl, Mathilda.«

    Die Tür schließt.

    Er betritt die dunklen, leeren Straßen. Es regnet. Trotzdem läuft er den müllbeladenen Bürgersteig entlang, auch wenn er gemütlich auf den Wolken spazieren könnte, nur um den Regen unter sich zu lassen. Manchmal ist ihm eben danach, sich normal zu fühlen. So tötet er einen Menschen meist auch nur mit bloßen Händen, indem er sie um den Hals legt, zudrückt und nicht mehr loslässt, obwohl er den Kopf auch so tief in die Erde rammen könnte, um ihm die Hölle zu zeigen. Hätte er dies schon einmal getan, würde er sich jetzt an eine in schneeweiß eingedeckte Unterwelt erinnern.

    Versunken im Winter seiner Gedanken kommt ihm der Weg nachhause gar nicht lange vor; schon sitzt er wieder alleine in seiner dunklen Wohnung. Nur der Strick der gestrigen Nacht leistet ihm zu solch später Stunde Gesellschaft. Zusammen mit seinem alltäglichen, allgegenwärtigen Wunsch, zu sterben, baumelt er über seinem Kopf hin und her. Es kümmert ihn nicht, was jemand denken würde, der in seine Wohnung käme und den Strick sähe. Mehr als einen kurzlebigen Abdruck auf der Haut sowie einen leicht verrenkten Nacken hinterließ er schließlich nicht. Die schärfste Klinge und der tiefste Sturz könnten ihm nicht mehr zufügen als ein Windstoß oder das Blatt einer Eiche, das ihm im tiefsten Herbst auf den Kopf fällt. Die Auswahl an Toden, die er hätte sterben können, ob grausam oder in Frieden, ist groß. Und doch hinterließ nichts wenigstens auch nur eine Narbe, um ihm zumindest die Illusion zu schenken, er könnte sich auf irgendeine verfluchte Weise verletzen.

    Er hebt

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