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Siddhartha auf Tour
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eBook274 Seiten3 Stunden

Siddhartha auf Tour

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Über dieses E-Book

Askese oder Ekstase – auf welcher Seite stehst du? Ob weltanschaulich oder sprachlich: Zum 100. Jubiläum von Hermann Hesses "indischer Dichtung" beantwortet Wimmers bissiger Deutschland-Roman existenzielle Fragen neu: intellektuell, poetisch und humorvoll.
Als sein bester Freund stirbt, hält Siddhartha-Experte Emil auf der Beerdigung eine berauschende Rede, mit der er seine große Liebe zurückgewinnen will.
Wir tauchen ein in einen überbordenden Fluss des Lebens, der sich "auf Tour" zwischen Indien und Inn, zwischen Antike und 21. Jahrhundert, zwischen erstem und letztem Kapitel öffnet.
Dem Hesse-Kenner ist das Buch zusätzlich ein großer Rätselspaß.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. März 2022
ISBN9783754961322
Siddhartha auf Tour
Autor

Martin Wimmer

Martin Wimmer, Autor. Geboren 1968 in Mühldorf am Inn. Lebt in Berlin.

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    Buchvorschau

    Siddhartha auf Tour - Martin Wimmer

    Einführung

    von Jakiv Wahl (Dublin, 16. Juni 2022)

    Unter den zeitgenössischen deutschen AutorInnen zählt Martin Wimmer zu den größenwahnsinnigeren. Seine Werke schrieb er für künftige Doktorarbeiten, ja Habilitationen. „Entschuldigung, aber es wird dreidimensionale Projektionen brauchen, um die Zusammenhänge in und zwischen meinen Büchern visualisieren zu können" wurde zu einem seiner geflügelten Worte. Siddhartha auf Tour war bei allem Anspruch sein bis dahin zugänglichstes Buch, das ihm viele treue LeserInnen und auf smart inszenierten Events begeisterte ZuhörerInnen brachte. Mehrere Handlungsstränge sind darin elegant verwoben:

    Emil hält am Grab seines verstorbenen Freundes Axel in einer bayrischen Stadt am Inn eine berauschende Rede, in der er sich an dessen Witwe, seine große Liebe Claudia, und die alten Freunde wendet. Darin blickt er auf ihre gemeinsame Jugend, sein buntes eigenes Leben (vor allem die „Liara/Berlin"-Kapitel) und die letzten mit dem Sterbenden verbrachten Tage zurück. Das ist der Rahmen.

    Zum 100-Jahre-Jubiläum von Hermann Hesses Roman Siddhartha. Eine indische Dichtung war Emil als Kleinkünstler unterwegs durch Deutschland. Die Beschreibungen des Tourlebens während Corona, die direkte Ansprache des Publikums im Saal, Texte aus dem Programm über einen imaginierten Siddhartha in der Jetztzeit („Traktat von Ruha"), fantastische Erzählungen von der Seidenstraße, wissenschaftliche Ausführungen, all das vermischt sich nahtlos mit der Grabrede.

    Gegen Ende wird die Bühnensituation, an ein Publikum gewandt zu sprechen, sogar in einen dithyrambischen Chor gesteigert („Abraham").

    Und dann spricht da noch jemand aus den Seiten mit dem Leser. Wer dieser Erzähler ist, bleibt offen. Eine breit informierte und stets traurige Instanz, von der der Autor sagte: „Mit mir jedenfalls kann man ihn nicht verwechseln. Er verwendet exotische Wörter, deren Bedeutung ich nicht kenne und weiß Dinge, von denen ich nicht mal mehr weiß, dass ich sie geschrieben habe."

    Die Erzählidee folgt stringent der Idee, dass Raum und Zeit sich beim In-den-Fluss-Schauen, also auch dem Schreib- und Lesefluss, auflösen und verschwimmen. Man kann so wenig zweimal in denselben Fluss steigen wie zweimal dieselbe Geschichte erzählen oder zweimal im selben Buch lesen. Du blätterst um und bist schon wieder woanders. Wortkaskaden stürzen sich in die Tiefe, Ideen spritzen hoch, Erinnerungen wogen ans Ufer: Begegnungen, Entdeckungen, Sensationen. Es ist eine überbordende Vielfalt an Leben, die sich „auf Tour" zwischen Bayern und Indien, zwischen der Antike und dem 21. Jahrhundert, zwischen dem ersten dem letzten Kapitel für den Leser öffnet. 

    Dem Hesse-Kenner ist das Buch zusätzlich ein großer Rätselspaß. Was dem uneingeweihten Leser als nostalgischer Rückblick auf eine bayrische Jugendfußballmannschaft erscheint, ist eben auch eine sinngetreue Persiflage auf ein Kapitel im originalen Siddhartha. Ein scheinbarer Besuch beim Friseur kann auch als Lektürenotizen zur Ausgabe 912 des Kulturmagazins DU – ein von Oliver Prange editiertes Sonderheft zu „100 Jahre Siddhartha" – gelesen werden. Zitiert wird die Laudatio der Nobelpreisverleihung an Hesse, die Titelhelden dessen Romans Klein und Wagner treten auf, veranstaltet wird ein Autorenabend in Saarbrücken (eine bekannte Kurzgeschichte von Hesse), zahlreiche Zeilen aus Gedichten und anderen Texten sind eingewoben; Anspielungen auf die Lebensumstände Hesses und Buddhas runden das Bild ab. Dass Ulysses und The Waste Land ebenfalls 1922 erschienen waren und Arno Schmidt beeinflussten oder dass Jack Kerouac in diesem Jahr geboren wurde, war Wimmer offensichtlich auch bekannt.

    Siddhartha auf Tour erschien kurz nach dem neo-eurasiatischen Ereignis. Wimmer war bewusst, dass Hesse 1922 mit seinem „unpolitischen" Roman in die Kritik der im Interesse des deutschen Volkes argumentierenden Politiker, Medien und Mitbürger geriet, denen Krieg und Gewalt als Mittel der Verteidigung höherer Werte akzeptabel erschien. Als unerbittlicher Widersacher aller militärischer Auseinandersetzungen, aller Unterdrückung und Unfreiheit verachtete er jene Kräfte, die individuelles Glück und sozialen Frieden auf dem Altar ihrer eigenen dunklen Perfidie opfern.

    Vielleicht deshalb stellte er der Erstausgabe seines Buchs auf Anraten seiner Testleser ein selbstironisches Vorwort voran, in dem er verkündete, einen Literaturpreis an Wladimir Sorokin weiterreichen zu wollen.

    Auf der Beerdigung

    So, dann bin jetzt wohl ich dran. Glaubt mir, für den besten Freund ist das eine Ehre, aber auch eine Herausforderung. Aber ich bin gut vorbereitet, wird nur etwas dauern. Ich weiß, der Wirt, 15.00 Uhr, aber da müsst ihr jetzt durch. Wo ich euch schon mal alle zusammen habe. Toby, Janine. Lydia, Mina. Hans sogar extra aus Kalifornien angereist. Michaela, wobei ein paar Ex fehlen, oder ich erkenne euch zumindest nicht wieder. Sandra, irgendwo? Frau Södeck, schade dass ihr Mann das nicht mehr erleben kann, oder vielleicht auch besser, wer will schon seinen Sohn überleben. Die Geschwister mit Familien, neuen, alten. Das Kollegium vermutlich, Eltern, Schüler. Da hinten die Theatergruppe, Moni, lang nicht gesehen. Die Fußballer, Alfons, ist das lang her. Das ganze Dorf. 200 Leute, würd ich sagen, soweit ich das von hier heroben übersehe. Selbst für eure engen Verhältnisse in Mühldorf am Inn hier ist das viel. Axel war beliebt, Axel war bekannt, Axel, Axel, Axel, Axel, so ging das halt immer schon.

    Und Claudia natürlich. Wer will schon seinen Ehepartner überleben. Ach Claudia. Du brauchst gar nicht wegschauen. Jetzt ist es doch egal. Ich habe immer gedacht, ich hätte dich geliebt. Seit über dreißig Jahren glaubte ich dich zu lieben. Aber heute, hier, ganz ehrlich, ich habe Axel geliebt. Och, nein, mein Gott, dieses Geschau gleich wieder, doch nicht so geliebt. Wobei das ja wohl auch nicht schlimm gewesen wäre. Nicht alle Künstler sind schwul. Ich habe ihn geliebt, wie man eben einen besten Freund liebt. Wie man sich selbst liebt. Weil er einen Pfad des eigenen Lebens betreten hat, der einem selbst verborgen geblieben ist. Axel hat eine Möglichkeit meines Lebens gelebt, und vielleicht war es das Bessere. Vielleicht aber auch nicht. Darum geht es. Genau darum. Am Fluss hocken und den Wahnsinn des Lebens vorbeitreiben lassen. Zur Ruhe finden. Zu sich finden. Ertragen. Weise sein. Oder rausgehen, leben, scheitern, neu anpacken, die Welt verändern?

    Scheitern, ja, da war ich gut, das habt ihr mich auch immer spüren lassen. Der verlorene Sohn. Der Tor, der auszog, das Fürchten zu lernen und trotzdem ohne Frau heimkommt. Die große Enttäuschung des Dorfes. Der eine, der es zu was bringen hätte können. Und dann doch geendet hat wie alle hier. Als Niemand, als Gescheiterter, eine Märchenfigur mehr, die sich anmaßte, man könne auf die andere Seite des Inn, raus aus dem schattigen Forst, auf saftige Wiesen. Aber wisst ihr was, ich wenigstens hab mir ein paar Jahre die Sonne auf die Haut brennen lassen. Hier, seht ihr die Narben, das war ein Sonnenbrand in Goa. Indien, alles nur wegen Axel. Ich schlief morgens nach einer durchtanzten Nacht auf einer Hängematte ein, die zwischen zwei Hippiebusse gespannt war. Das sind Verletzungen, die will man haben.

    Ja, Claudia, du kennst die Stelle gut, ich weiß. Wie oft hast du mich genau hierhin geküsst, hast deine Finger über die kleine Wulst gleiten lassen und dich weggeträumt in diesen Traum, in den dich dein blasser Axel nicht verführen konnte. Jaha, Ohnmacht und Wut, Scham und Verachtung, das sind noch Gefühle, hm? Seid dankbar. Heute stand doch zu befürchten, dass das schwarze Loch des Begräbnisses alle Emotionen, alle Wahrheit in sich aufsaugt. Stattdessen seid ihr nach fünf Minuten schon zum Leben erwacht. Alle auf 180, alle haben wieder Puls, trotz der Scheißkälte hier. Man sollte nur Frühjahr bis Herbst sterben dürfen. Ist der Arzt von Axel hier? Sie? Merken Sie sich’s für den nächsten. Sterben ja alle hier. Vergisst man auch gern. Ihr alle werdet abkratzen. Einer wird sogar der nächste sein. Einen wird es sicher in den nächsten Monaten, Wochen, Tagen erwischen. Die Frau von Silas sieht schon aus, als würde sie die nächste Stunde nicht überstehen. Herzkasperl auf der Beerdigung, ist das jetzt ein besonders paradoxer oder besonders sinniger Tod? Sorgen Sie also beim nächsten Morbiden dafür, dass es nicht wieder eine Winterbeerdigung wird, bitte.

    Im Krankenhaus war Axel am Schluss nur noch Haut und Knochen. Habt aber ein schönes Sterbebildchen ausgesucht. Mann in besten Jahren. Wie alt war er da? Vierzig, Fünfundvierzig? Noch vor dem ersten Fett und den Falten. Gut sieht er aus. Blondes Haar, die kräftigen Augenbrauen, die vollen Lippen, ein verschmitztes Lächeln, ein Junge als Mann. Meine Freundinnen fanden ihn immer sofort sexy. Weckte den Mutterinstinkt. Harmlos, aber mit Potenzial. Tiefe. Und dann laberte er sie zu, und fragte, und interessierte sich, und wusste, und erzählte, Mister Charme persönlich. Hat bei Claudia schon funktioniert. Ich und eifersüchtig? Oh ja. Neidisch. Axel war mein Vorbild. Axel hatte, was ich nie bekam. Und Axel war Siddhartha. Als wir das Buch lasen, war es noch gar nicht so alt, ein Menschenleben, da konnte man noch dabei gewesen sein. Jetzt: ein Jahrhundert. Das ist schon eine andere Dimension. Axel und Hesse und Siddhartha, große unerreichbare Lieben. Und Claudia.

    Claudia ruft an

    Ich stand im Volkspark, einen Becher Cappuccino mit Hafermilch in der Hand. Dass Claudia so früh anrief, war ungewöhnlich. WhatsApp ja. Die gingen auch mal schnell nebenbei, in den unaufmerksamen Sekunden unserer Partner. Am öftesten schrieben wir uns aber wohl vom Klo. Das war die unwürdige Facette unserer Liebe. Die große, unerfüllte Liebe, die auf Toilettenbrillen in Smartphones getippt wurde. Anrufe dagegen ließen sich in der Regel nur geplant realisieren. Unser Medium war das Schreiben. Ganz früher, noch in der Schule, Briefe, handgeschrieben auf bunten Zetteln, im Studium schon maschinengeschriebene Ergüsse auf Schreibmaschinenpapier, sogar Ausdrucke, sorgfältig in Word editiert. Später dann E-Mails, tausende E-Mails. Seit einigen Jahren nun Messages. Ich mag das sehr. Kussmünder, pulsierende Herzchen, das verwandelt die verschwommenen Erinnerungen an unsere wenigen schönen Nächte und die verstohlenen Träume von einer Wiederholung in der Zukunft in eine glühend rote, erfüllte Gegenwart. Mit den Selfies waren wir uns wieder sehr viel nähergekommen, präsenter. Nur anfangs versuchte ich noch, die Zeichen des Alters zu verbergen, die ausgedünnten Haare, das manchmal etwas aufgedunsen wirkende Gesicht, den leichten Bauchansatz. Sie dagegen war in jeder Einstellung wunderschön, so wie sie jetzt dasitzt, schlank, mit immer neuen Frisur- und Haarfarbenexperimenten, ein Lachen, eine Grimasse, ein sehnsüchtiger Blick in die Ferne, ein Handstand, aufgenommen von einem Dritten, sicher von Axel. Immer noch war sie launisch. An guten Tagen sah ich sie vor einer sonnigen Bergkulisse strahlen, an schlechten Tagen schickte sie ihr Miesepetergesicht, oft genug mit dem Spülkasten ihres alten Bads im Hintergrund. Frau mit Klopapier. Wenn du nicht zusammenlebst, ist das ein seltenes Bild.

    So frühmorgens von ihr angerufen zu werden war jedenfalls sehr ungewöhnlich. Ich meldete mich mit einem dummen Scherz, den sie einfach überhörte, sofort brach sie in hemmungsloses Schluchzen aus. Axel hatte sie mitten in der Nacht mit einem Schreikrampf aufgeweckt, fürchterliche Kopfschmerzen warfen ihn unansprechbar hin und her und schließlich sogar aus dem Bett. Panisch hatte sie den Rettungsdienst angerufen, er war ins Krankenhaus gebracht worden. Sie hatte die Nacht vor der Intensivstation verbracht und lief jetzt offensichtlich auf dem Parkplatz der Klinik auf und ab. So war das mit uns. In guten wie in schlechten Tagen.

    Herzlich willkommen bei Emil Eclair

    Liebe Gäste, ich heiße Sie sehr herzlich willkommen zu Siddhartha - einem indischen Abend mit Emil Eclair. Bitte schalten Sie jetzt Ihre Handys aus, vergessen Sie aber nicht, noch vorher unseren Newsletter zu abonnieren.

    [Gelächter bitte. Mein Publikum lacht sonst immer an der Stelle.]

    Genießen Sie Ihr Kingfisher oder Ihren Mango Lassi. Bis zur Pause werden wir den Service jetzt einstellen. Wer es gar nicht aushält, bekommt auf dem Weg zur Toilette an der Bar aber immer Unterstützung. Wir Trinker und Blasenschwachen müssen doch zusammenhalten.

    [Gelächter bitte, wirklich. Ihr bekommt jetzt kostenlos, wofür andere Eintritt zahlen. Um Karten anstehen vorher und um Autogramme danach.]

    Und nun geht es los. Meine Damen und Herren, Trommelwirbel in der Nacht, ratatata, hier ist er, der einzigartige, der unvergleichliche, der Mann, auf den Sie gewartet haben, Emil Eclair!

    [Applaus bitte. Jetzt überrascht sein, denn statt mir kommt ein weiterer Ansager in farbenprächtigem Ornat]

    Willkommen zur großen Siddhartha-Show. Das einzigartige Spektakel. Der Zauber des indischen Subkontinents. Sehen Sie. Staunen Sie. Wunder der Welt. Mit dabei: Der purpurne Maharadscha eng umschlungen mit dem schwebenden Sultan. Zwei gezähmte Schneetiger. Wunderlampen aus Bengalos. 1001 Tänzerinnen aus 1001 Nacht. Der Anker des Schiffes von Vasco Da Gama. Ein gelber Mönch aus Tibet. Ein fliegender Teppich. Der Quetzalcoatl des letzten malaysischen Königs. Ein Asket legt sich auf sein Nagelbrett. Mitglieder des indischen Staatsorchesters an Sitar, Bodhran und Oud. Rote Korallen aus dem Taj Mahal. Die Wasserpfeife von Sindbad. Schwarzes Salz aus dem Himalaya. Eine Rikscha aus Rishikesh. Ein sternförmiger Maorit aus Rajasthan. 12 Meter lange Dreadlocks eines Fakirs. Eine Originalpressung von Kalkutta liegt am Ganges. Der Zwerg aus der Bollywood-Verfilmung von Cleopatra. Lederne Totems aus der Traumzeit. Ein tanzendes Kamel. Teejongleure aus Ceylon, Kautschukzauberer aus Sri Lanka. Monsundatteln aus dem Golf von Bengalen. 5000 Jahre altes nichtschmelzendes Eis aus Nepal. Ein Urdu-Dichter. Heiliges Wasser vom Assam-Staudamm. Glückskekse aus Bhutan. Die berückendsten Stellungen des Kamasutra. Ein Sidhi mit einem Apadravja-Piercing. Haschisch aus Kathmandu. Das Schwert eines Mongolen. 108 Perlen von der Sannyasin-Kette, die Marie Laveau auf ihrer Reise nach Mumbai (damals Bombay) trug. Versteinerte Mangroven. Ein Spinnrad aus dem Ashram, in dem Gandhi lebte.

    Kurz: Die älteste Kultur der Erde. Wunder über Wunder. Erleben Sie die Zauberwelt Indiens. Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen, begrüßen Sie: Siddhartha!

    [Vorhang öffnet sich. Ein Stuhl, ein Lesetisch. Auftritt Emil Eclair. Und kein Wort davon hätte ich geschrieben ohne Axel.]

    Halbzeitpfiff

    In der B-Jugend war er als neuer Torwart zu uns gestoßen. Er ging auf meine Schule, aber erst auf dem Rasen nahm ich ihn das erste Mal wahr. Bolzte traumhafte Bälle in den leeren Raum, die ein schneller Mann im Laufduell gegen zwei, drei lahme Verteidiger, einen zu offensiven Libero und einen schwachen Fliegenfänger zu so vielen Torchancen verwerten konnte, dass genug Treffer auf mein Konto gingen, um als Traumpaar der Liga bekannt zu werden. Axel verdiente sich bei einem Ferienjob in einer biologisch-dynamischen Gärtnerei paar Mark dazu. Schubkarrenfahren, Schaufeln und palettenweise Pflanztröge umwuchten hatten seinen Rücken breit gemacht. Seine Hände waren dunkel und hart, weil er weder in der Arbeit noch auf dem Platz Handschuhe trug. Seine blonden Haare hingen ihm unter dem dunkelblauen Bandana in das von Sonne, Regen und Wind gegerbte Gesicht, als wäre er ein altgedienter Seemann. Manche Mädchen zog diese Patina magisch an, manche stießen die dreckigen Fingernägel ab. Claudia gehörte dummerweise zu ersteren.

    Mit dem Halbzeitpfiff begann es heftig zu schneien. Eine dichte weiße Schicht legte sich über das Spielfeld. Axel schüttete mir heißen Tee aus seiner Thermosflasche in einen Plastikbecher. Es war schon hilfreich, eine Mutter zu haben, auch wenn er das oft anders sah. Der Trainer, Dr. Schmidhuber, manche haben ihn ja noch erlebt, redete auf uns ein, aber ich fror einfach nur erbärmlich in den kurzen Hosen und dem dünnen Trikot, wärmte meine Hände am Tee und dachte an Claudia, das wärmte, trotz allem, auch. Die zweite Halbzeit verlief einseitig wie die erste, eine einzige Abwehrschlacht gegen die physisch und spielerisch überlegenen Favoriten von Wacker München, kein Spiel für einen Mittelstürmer. Axel stand wie ein Baum. Kein Freistoß, den er nicht wegfaustete, keine Flanke, die er nicht runterfing, kein Abstauber, den er nicht doch noch von der Linie kratzte. In unserer Hälfte war der Schneeflaum nun wieder weggepasst, weggelaufen, weggegrätscht. Die andere Hälfte war noch völlig unbefleckt, ein weißes Blatt Papier. Letzte Minute. Eine scharf hereingegebene Ecke, Axel hechtet nach dem Kopfball, unhaltbar senkt er sich ins Kreuzeck, das ganze Spiel, alles umsonst, aber Axel streckt sich, streckt sich, wächst wieder einmal über sich hinaus, drückt den Ball an den Pfosten, stürzt mit ihm zu Boden, wälzt sich aus dem Matsch, drei große Schritte, ein langgeschlagener, präziser Dropkick und ich starte durch, meine ersten Ballberührungen in der zweiten Hälfte, eine einzige Spur zieht sich durch den Schnee, in meinen Fußstapfen abgeschlagen mein Gegenspieler, ich laufe auf den Keeper zu, er rast mir entgegen, macht sich breit, sein Körper eine Wand, seine Handschuhe mächtige Segel, das Tor ein winziges Loch am Horizont, der Ball ein unkontrollierbarer Stein aus schwerem Eis, die nassen Zehen gefühllos im Leder, ich ziehe trotzdem ab, Claudia, für dich, denn der Appell ans Schicksal in so einer Situation muss doch belohnt werden, Claudia, denke ich, wie immer, wenn etwas aussichtslos ist, weil meine Liebe zu Claudia ist aussichtslos, in dem Moment holt mich der Verteidiger ein und säbelt mich brutal um, aber die Kugel rollt schon, sie rollt zwischen den Beinen des Goliaths hindurch auf das Tor zu, wird am Elfmeterpunkt langsamer, bremst im Fünfmeterraum ab, trudelt auf die Torlinie zu und - überschreitet sie im vollen Umfang. Der Schiedsrichter pfeift ab, wir gewinnen Eins zu Null.

    Axel und ich waren ein gutes Team. Gut in die Mannschaft passten wir nicht. Sorry Jungs, aber Feuerwehr, Weiber und Whisky-Cola, das war nicht unsere Welt. Im Bus unterschieden wir uns von den Mitspielern. Während sie sich auf das erste Weißbier, einen Schweinsbraten beim Hinterecker Wirt und einen Schnaps auf Kosten eines der Spielerväter freuten, blätterten wir in Bänden der endlosen bunten Suhrkamp-Taschenbuch-Reihe, deren Inhalt wir dann an einem Katzentisch bei vegetarischen Käsespätzle und Limo diskutierten. Wir waren die zwei Gymnasiasten im Dorf. So hatte ich auch meine erste Berührung mit Siddhartha dank Axel.

    Zweimal abends Training, am Wochenende das Spiel, das waren die Zeiten mit den anderen Jungs. Aber morgens bis mittags in der Schule, das waren lang die Zeiten mit Claudia gewesen.

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